Christoph Martin Wieland (1733–1813) hat mit seinem Hauptwerk, dem unvollendeten Briefroman «Aristipp und einige seiner Zeitgenossen», die Idealvorstellung freier Personen und egalitärer Geschlechterbeziehungen in die griechische Antike verlegt.
Man müsste Wieland eigentlich laut lesen, hat Jan Philipp Reemtsma in seiner grossen Wieland-Biographie konstatiert. Wer mag, kann ihn das mittels eines Aristipp-Hörbuchs gleich selbst besorgen lassen. Dreissig Stunden konzentriertes Zuhören sind dann fällig – ein Genuss der Extraklasse. Von anderer Art, aber gewiss nicht geringer ist das Vergnügen, das der gewichtige Wälzer der Wieland-Studienausgabe den selber Lesenden bereitet.
Wielands Sprache ist ein faszinierendes Phänomen. Den meist überaus langen und oft kompliziert gebauten Sätzen folgt man mühelos, sofern man bei der Sache ist. Galant geleitet der Autor uns durch seine Gedankenräume, bremst den Sprachfluss hier und beschleunigt ihn dort, um in rhetorischer Modulation auch das zu überbringen, was hinter den Wörtern und zwischen den Zeilen steht. Je nach Erzählsituation klingen die Melodien seiner sorgsam komponierten Satzperioden unterschiedlich. Die syntaktischen Reihungen und Verschachtelungen sind nie Selbstzweck; sie bilden Denkbewegungen ab. Hat man sich einmal eingelesen, beginnt man Wielands Diktion zu vertrauen und lässt sich tragen vom Rhythmus des Textgewebes.
Bleiben wir für einen Moment noch bei Wielands Sprache. Die kritische Ausgabe, die hier vorgestellt wird, behält – anders als bei gängigen Klassikerausgaben gewohnt – den ursprünglichen Sprachstand und die originale Schreibweise bei. Auf Schritt und Tritt wird man darauf gestossen, dass man einen historischen Text liest: Rechtschreibung, Grammatik, Syntax, Interpunktion und fremd gewordene Wortbedeutungen erzeugen eine Distanz, die in der Lektüre stets mitläuft und nie vergessen lässt, dass uns über zweihundert Jahre von der Entstehung des Buches trennen. Es ist die Zeit der Formung des modernen literarischen Deutsch, an der Wieland übrigens einen eminenten Anteil hat. Zahllose heute geläufige Begriffe und Redewendungen hat er geprägt. Und vor allem hat er die deutsche Literatursprache zu einem geschmeidigen und leicht sprechbaren Idiom gemacht.
Das Labor der Freiheit
«Aristipp» ist ein historischer Briefroman, der in der griechischen Antike des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. spielt, also in einer Epoche und einem Raum der Kultur, für die Karl Jaspers in den 1940er-Jahren den Begriff der Achsenzeit geprägt hat. Der Ausdruck bezeichnet eine in vier Kulturkreisen der Welt zwischen 800 und 200 v. Chr. parallellaufende Phase, die durch gewaltige geistig-kulturelle und technisch-wirtschaftliche Entwicklungsschübe von jeweils ähnlicher Art gekennzeichnet ist. Gemeinsam ist ihnen die Herausbildung religiös-philosophischer Vorstellungen des Universalen. Die Rede ist auch von einem mächtigen Rationalisierungsschub, der kritische Distanz zu den überlieferten Mythen geschaffen und erstmals kohärente Weltbilder entwickelt hat.
Der griechisch-römischen Antike kommt für den okzidentalen Kulturraum eine überragende Bedeutung zu. Sie hat erstmals die Idee menschlicher Freiheit hervorgebracht und damit, obschon diese den Sklaven, Frauen und Fremden vorenthalten blieb, einen Impuls in die Welt gesetzt, der bis in die Gegenwart nachwirkt. Diese Besonderheit des griechisch-römischen Erbes gilt es festzuhalten, auch wenn die Kritik an der lange üblich gewesenen eurozentrischen Sicht inzwischen dafür gesorgt hat, dass einer schwärmerischen Idealisierung der Antike der Boden entzogen wurde.
Der Erzähler Christoph Martin Wieland hat um 1800 bereits diesen realistischen Blick auf die Antike. Und gerade deswegen kann er in dieser Epoche das mehr als zwei Jahrtausende vor seiner Zeit liegende Labor der Freiheit erkennen, obschon dieses ebenso sehr mit schreienden Widersprüchen behaftet wie von emanzipatorischem Potenzial beflügelt ist.
Wieland selbst lebt am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ebenfalls in einer die Weltgeschichte bewegenden Zeit: Aufklärung, Amerikas Unabhängigkeit und Französische Revolution haben Standesdenken und Monarchie endlich auch in Deutschland unterminiert. Zwar ist das geistige Leben noch immer von Fürstenwillkür und unberechenbarer Zensur drangsaliert, aber Kant, Lessing sowie viele Weitere haben den Horizont geöffnet. Ein grosses debattierfreudiges und sich in Briefen austauschendes Lesepublikum erobert sich zunehmend geistige Freiräume. Wieland begleitet seine Zeit nicht nur als Dichter, sondern auch als politischer Journalist, der in seiner einflussreichen Zeitschrift «Der deutsche Merkur» die Revolution und die folgenden politischen Umbrüche in Europa fortlaufend kommentiert.
Christoph Martin Wieland steht in der ersten Reihe der deutschen Aufklärungsliteraten. Seine kaum zu überschätzende Wirkung geht nicht von programmatischen Schriften aus, sondern ist genuin literarischer Art. Vor allem in seinem Hauptwerk «Aristipp» erschafft er Gestalten, in denen Ideale der Aufklärung wie Freimut, Eigenständigkeit, Gelassenheit fast beiläufig anschaulich werden. Die Titelfigur ist an den historisch bezeugten Aristippos von Kyrene angelehnt, von dem man wenig weiss, ausser dass er ein Schüler des Sokrates war und eine eigene Philosophenschule gegründet hat.
Wieland macht diesen Aristipp zu Platons Gegenspieler, der dem idealistischen Systemdenken des Platonismus eine pragmatische Lehre der philosophischen Klugheit entgegensetzt. In einer Serie von Briefen an den Freund Eurybates holt Aristipp zu einer Generalabrechnung aus, die Platons Dialog «Politeia», in dem dessen von Anfang an umstrittene autoritäre Staatstheorie ausformuliert ist, mit einer Philosophie der Tat und der Freiheit konfrontiert.
Diese mehr als hundert Seiten umfassende Kritik Aristipps – oder vielmehr Wielands – an Platons Ideen- und Staatslehre ist ein Musterbeispiel der fairen, umsichtigen, differenzierten und gleichwohl fundamentalen Auseinandersetzung. Indem Wieland auf den Platonismus zielt, legt er sich mit einem der Grössten der Philosophiegeschichte an, dessen ungeheuer einflussreiches Werk bis in die Gegenwart vielfach fatale Wirkungen zeitigt. Platon begründet namentlich mit «Politeia» einen Strang abendländischen Denkens, der in vielen Abwandlungen bis hin zu Marx und seiner «wissenschaftlichen» Gesellschaftsutopie immer wieder zu politischem Zwang samt dessen hochfliegender Rechtfertigung geführt hat.
Modell eines egalitären Geschlechterverhältnisses
Freiheit ist die Wasserader, die sich durch die Gefilde dieses Briefromans zieht und an unterschiedlichen Stellen als Quelle an die Oberfläche tritt. Die eindrucksvollste Person des figurenreichen Erzählkosmos ist die, wie sie stets genannt wird, schöne Lais. Sie gilt als eine der gelungensten positiven Frauengestalten der Weltliteratur. Lais lebt ungebunden und unabhängig als Hetäre, was in der Antike eine gebildete und angesehene Gesellschafterin ist, die erotische mit kulturellen Diensten verbindet. Da sie reich ist, entscheidet Lais in völliger Freiheit, wer zu ihren Gesellschaften Zugang hat. In dieser Frau findet Aristipp ein ihm in allem ebenbürtiges Gegenüber. Die Freundschaft der beiden ist ein Hauptthema des Romans und entwirft das Modell einer gegenseitig auf Freiheit und Vertrauen gegründeten Beziehung – die Utopie eines vollkommen emanzipierten Geschlechterverhältnisses.
Unterlägen die Hauptfiguren Lais und Aristipp dem primären Zweck, diese aufklärerische Vision literarisch zu verkörpern, so müsste die Schilderung in Schematismus erstarren. Doch dazu ist Wieland viel zu sehr Erzähler. Aristipp und die schöne Lais wie auch die weiteren Figuren sind mit leichter Hand als lebendige Menschen gezeichnet. Damit diese Leichtigkeit aber nicht in Harmlosigkeit versinkt, lässt Wieland seine Figuren in realistischen, oft konfliktträchtigen Situationen agieren. Gerade die sich ausserhalb der Konventionen bewegende Lais wird als kämpferische Person gezeigt, die ihre Freiheit nicht geschenkt bekommt.
In einem Gespräch mit Aristipp über die Frage, wie sie es schaffe, in der männerbeherrschten Gesellschaft ihre Selbständigkeit zu behalten, sagt Lais: «Es wird dich also wenig befremden, wenn ich dir sage, dass, meiner Meinung nach, eine Frau, die ihre Unabhängigkeit behaupten will, euer Geschlecht überhaupt als eine feindliche Macht betrachten muss, mit welcher sie, ohne ihre eigene Wohlfahrt aufzuopfern, nie einen aufrichtigen Frieden eingehen kann.»
Schonungslos führt Lais weiter aus, das auf latente Gewalt gegründete Geschlechterverhältnis lasse der physisch und gesellschaftlich unterlegenen Frau keine andere Wahl, als den Mann mit ihren Waffen zu ihrem Sklaven zu machen. Und sie fügt bei: «Die siehst die Grundlage meines Plans, lieber Aristipp; ich habe dir ohne Zurückhaltung gezeigt, wie ich über die Männer denke, weil du für mich kein Mann, oder, wenn du lieber willst, mehr als ein Mann, weil du mein Freund, ein mir verwandtes kongenialisches Wesen bist.»
Der Roman «Aristipp und einige seiner Zeitgenossen», entstanden in den Jahren 1800–1802, ist ein Alterswerk Wielands. Er selbst sah darin die Krönung seines weit ausgreifenden Schaffens. Das Buch ist unvollendet geblieben. Die Figur der Lais wird am Ende des dritten Buches auf wenig befriedigende Art aus der Geschichte hinausgeschrieben. Sie fehlt im vierten empfindlich. Doch selbst mit diesem Makel ist der Aristipp ein grossartiges Stück Literatur, das auch heutige Leserinnen und Leser in seinen Bann ziehen kann.
Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1801/02), Studienausgabe in Einzelbänden/ Kritische Ausgabe, hrsg. v. Hans-Peter Nowitzky und Jan Philipp Reemtsma, 976 S., Wallstein Verlag 2022
Hörbuch, gelesen von Jan Philipp Reemtsma, ungekürzte Fassung, Hoffmann und Campe