„Wir schuften buchstäblich wie die Würmer. Würmer lockern den Boden und machen ihn fruchtbar. Wir Würmer sehen aber nie etwas von der Ernte. Es sind die „Natschalniki“ - die Chefs, die das Resultat unserer Arbeit in ihren Taschen verschwinden lassen.“ Igors Erfahrungen als Kadermitglied im riesigen Moskauer Metro-System sind niederschmetternd: Regelmässig 12-stündige Arbeitstage oft auch an Wochenenden. Am meisten beklagt sich Igor über die inkompetenten Chefs, die nur dank persönlichen Beziehungen Karriere gemacht haben.
Moskaus Metro-System steht stellvertretend für den Reformstillstand in der gesamten öffentlichen Verwaltung in Russland. Die Staatsbürokratie ist ineffizient und wahrscheinlich noch korrupter als zur Zeit der Sowjetunion. Damals gab es mit der kommunistischen Partei immerhin noch eine Institution, die eine Art Kontrollfunktion ausübte.
Für Russland entschieden
Igor hat inzwischen das Moskauer Metro-System verlassen und versucht mit der Gründung einer eigenen Firma einen Neuanfang. Aber jetzt ist er als Kleinstunternehmer mit dem Rubel-Zerfall, der Rezession und den Wirtschaftssanktionen konfrontiert. Igor hat Verwandte, die in den USA leben, und könnte jederzeit auswandern. Der 40-jährige Russe hat sich aber für Russland entschieden.
Hunderttausende Russen haben seit dem Zerfall der Sowjetunion Russland verlassen, weil sie in ihrem Land keine Zukunft mehr sehen. Viele sind in die innere Emigration geflüchtet, nachdem wirtschaftliche und politische Reformen ausgeblieben sind. Es schmerzt sie, dass Russland weltweit ein schlechtes Image geniesst, das sich nach dem Konflikt mit der Ukraine noch mehr verschlechtert hat.
Kein Verständnis für „soft power“
Für was wird Russland im Ausland weiterhin bewundert, wo ist Russland wirklich unschlagbar? Diese Frage stellten sich offensichtlich auch die Machthaber im Kreml, als sie vor einigen Jahren „Rossotrudnichestvo“ ins Leben riefen. Diese dem Aussenministerium in Moskau unterstellte Institution soll der Welt ein anderes Russland-Bild vermitteln: Das Russland der Kunst, der Musik, des Theaters, der Literatur, des Tanzes, der Sprache. Russland soll mit der Welt in einen kulturellen Dialog treten. Die Amerikaner schufen dafür den Begriff „soft power“, als sie nach dem Einsatz von „hard power“ (Vietnam, Irak) ihr eigenes, angeschlagenes Image in der Welt zu korrigieren versuchten.
Der Vertreter von „Rossotrudnichestvo“ in der russischen Botschaft in Bern bemühte sich mit beträchtlichem Aufwand, ein Gespräch mit einem Mitarbeiter seiner Institution in Moskau zu veranlassen. Das geplante Treffen mit „Russlands Zusammenarbeit“ (Rossotrudnichestvo) wurde unter fadenscheinigen Vorwänden abgesagt.
Unvermeidlicher Zusammenbruch?
Die den demokratischen Kräften nahestehende Soziologin und Publizistin Tatjana Voroscheikina macht sich keine Illusionen mehr: „Russland steuert in eine Sackgasse. Es findet keine Evolution statt, aber es kommt auch nicht zu einer Revolution. Wir werden einen Zusammenbruch erleben.“ Und was folgt nach einem Zusammenbruch? „Sicher keine Öffnung in Richtung Demokratie,“ meint Voroscheikina. „Denn Russlands autoritäre Strukturen werden sich auch nach dem Ende des Putin-Regimes einfach reproduzieren.“
Stigmatisiert und bewundert
Nicht so pessimistisch ist die Medien- Anwältin Galina Arapowa. Sie glaubt weiterhin an eine „Evolution“ in Russland. Ihre Organisation setzt sich für den Rechtsschutz der Massenmedien ein (www.mmdc.ru). Konkret geht es um die Beratung von Journalisten und Redaktionen, die auf Grund von unklaren, schwammig formulierten Gesetzen von Behörden zum Beispiel wegen „Verleumdung“ oder „Extremismus“ eingeklagt werden können. Nach zwei solchen Klagen darf das kritisierte Medium nicht mehr erscheinen.
Galina Arapowas Organisation ist kürzlich vom Justizministerium auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt worden. Weil die NGO Geld aus dem Ausland erhält und mit ihrer Medienberatung sich „politisch betätigt“, so fordert das Gesetz, muss sich die Organisation als „ausländischer Agent“ registrieren lassen. Die Medien-Beauftragte der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE), Dunja Mijatovic, hat die Bezeichnung von Arapowas Organisation als „ausländischer Agent“ als „Einschüchterung“ und „Stigmatisierung“ verurteilt.
Mut macht Arapowa die Tatsache, dass die ominöse Registrierung sowie die Anhörung vor einem lokalen Gericht in Woronesch auch überregional grosse Publizität ausgelöst haben. Die Medien-Anwältin glaubt, hier auch eine Solidarität unter den Journalisten zu spüren. Besonders Beachtung fand, dass auch der Gouverneur von Woronesch die Medien-Organisation verteidigt. Arapowa ist Mitglied des Stadtparlaments von Woronesch.
Einschränkungen auch im Westen
Galina Arapowa gehört zu den wenigen Medien-AnwältInnen in Russland und ist deshalb auch im Ausland eine gefragte Expertin. So hat im Westen ein neues Gesetz Aufsehen erregt, das in Russland ausländischen Unternehmen verbietet, mehr als 20 Prozent an einem russischen Medientitel zu halten. Ähnliche Vorschriften gibt es aber auch in westlichen Staaten, zum Beispiel in den USA, die ebenfalls Regeln zur Einschränkung ausländischer Medienhäuser kennen. Die Angst vor Fremdbestimmung in den Medien beschränkt sich also nicht nur auf Russland.
Das Gespräch mit Galina Arapowa fand per Skype statt. Sie lebt in der 520 Kilometer südlich von Moskau gelegenen Stadt Woronesch, wo sich auch der Sitz ihrer Organisation befindet. Mit berechtigtem Stolz betont Arapowa: „Russland besteht eben nicht nur aus Moskau, auch die Provinz gehört dazu.“ Aber genau über dieses andere Russland wird in den westlichen Medien kaum berichtet.
Wirtschaftlicher und politischer Druck
Der Journalist Valery Yakow kennt die russische Politik von innen und aussen. Yakow berichtete in den 90er Jahren für die damals regierungskritische Zeitung „Izvestia“ über den Tschetschenien-Krieg. Zwischenzeitlich war der Journalist Berater von Sergei Schoigu, als der jetzige Verteidigungsminister Gouverneur des Moskauer Gebiets war. Heute ist Yakow Chefredaktor einer der wenigen einflussreichen, unabhängigen Moskauer Zeitungen, „Novye Izvestia“, einer Abspaltung der „Izvestia“, die eine regierungsnahe Zeitung geworden ist. Die Zukunft der „Novye Izvestia“ sieht Yakow in eher düsteren Farben: „Seit zwei Monaten kann ich keine Löhne mehr bezahlen. Und jedes Mal, wenn die Zeitung einen kritischen Bericht über die Moskauer Behörde publiziert, wird die von der Stadtverwaltung bezahlte Werbung zusammengestrichen.“ Dennoch glaubt der Journalist an eine Zukunft seiner Zeitung.
Kein Zweifel: Die Wirtschaftskrise, die zunehmende politische Repression und die Zensur verknappen die Sauerstoffzufuhr für die noch schwache russische Bürgergesellschaft noch mehr. Dennoch gibt es aber auch Anzeichen dafür, dass sich Russland trotz allem nicht unterkriegen lässt. Der Kleinunternehmer Igor in Moskau, die kämpferische Medien-Anwältin Galina Arapowa in Woronesch oder der Journalist Valery Yakow sind Beispiele für ein Russland, das nicht zerfallen sondern überleben wird.