Medikamentenknappheit wird im Iran zu einem Sicherheitsproblem ersten Ranges. Es werde bald einen Aufstand geben, wenn man das Problem nicht löse, sagt ein radikaler Parlamentsabgeordneter.
Die Gründe für die Krise sind vielfältig: Devisenmangel, Sanktionen, Korruption und der Niedergang der einst vorzeigbaren Pharmaindustrie.
Ist das ein Geständnis oder eine Enthüllung? Man kann es verstehen, wie man es will.
Es geht um die beeindruckende Summe von einhundert Millionen US-Dollar, die beim Medikamenteneinkauf im Ausland unterschlagen worden sein soll. Dies gab Dr. Bahram Daraie, selbst Pharmakologe und zugleich Vizegesundheitsminister des Iran, bei einem Interview bekannt.
In einem halbwegs normalen Staat zöge eine solche Mitteilung aus dem Mund eines so wichtigen Amtsträgers mit Sicherheit eine handfeste Regierungskrise und/oder lange und spektakuläre Gerichtsprozesse nach sich. Die Islamische Republik aber fristet ihr Dasein in ihrer eigenen, korrupten Normalität.
Dem Interview des Vizeministers folgten weder Empörung noch Ermittlung oder Verhaftung bzw. Gerichtsprozess. Und niemand wundert sich. Niemand fragte, wer, welche Firma oder Institution diesen unglaublichen Betrag unterschlagen hat in dieser «Republik», in der ein Universitätsprofessor weniger als 200 Dollar im Monat verdient und vieles nach Weltmarktpreisen bezahlt werden muss. Auch der Vizeminister selbst schwieg. Er konnte, wollte oder durfte nicht mehr sagen.
Eine Wortschöpfung und ihre Folge
Dafür referierte Daraie viel über Mechanismen und Tücken der so genannten ارز ترجیحی, der «Prioritätswährung». Diese Wortschöpfung beschreibt den wirtschaftlichen Ausnahmezustand, der seit Bestehen der Islamischen Republik praktisch ein Dauerzustand ist.
Weil in all diesen Jahren wegen internationaler Sanktionen stets Devisenknappheit herrschte, stellte die Regierung Importeuren bestimmter Güter stets Devisen zum günstigen Umtauschkurs zur Verfügung. Die Differenz der «Prioritätswährung» zum freien bzw. Schwarzmarktpreis war stets gigantisch, oft mehr als 1’000 Prozent. Die Liste der Waren, die zu diesem sehr begehrten Kurs eingeführt werden durften, variierte in all diesen Jahren. Was konstant blieb, war der enge Kreis jener Personen und staatlicher Institution, die über die «Prioritätswährung» verfügten.
So wurde diese Wortkreation zu einem Schlüsselwort für praktisch alles, was das tägliche Leben der Iranerinnen und Iraner bestimmte. «Prioritätswährung» stand für den leichten Zugang zum harten Kern der Herrschaft, für die Preise der begehrten ausländischen Waren, für Kursschwankungen der Devisen auf dem illegalen Markt und schliesslich für eine beispiellose strukturelle Korruption, die inzwischen den gesamten Staat von innen beinahe völlig zerfressen hat.
Moralischer Zerfall überall
So wurden das überall sichtbare Gemauschel und die Günstlingswirtschaft zu alltäglicher Normalität in der gesamten staatlichen Ordnung. Und die doppelte Tragik dieser «Republik» besteht darin, dass sie von einem alten Ayatollah beherrscht wird, der als Gottesmissionar akzeptiert werden möchte. Dass in diesem korrumpierten System selbst die Kunde über die Unterschlagung der unglaublichen Summe von 100 Millionen Dollar überhört wird, zeugt zugleich von einem moralischen Zerfall der gesamten Gesellschaft. Die Korruptionskrankheit ist zu einer unheilbaren Pandemie dieser «Republik» geworden, die ein «Gottesstaat» sein möchte.
Der Vizeminister nannte die Summe nur beiläufig; eigentlich hatte er erklären wollen, warum die «Prioritätswährung» auch für den Medikamentenimport abgeschafft worden sei, warum im Land ein gefährlicher Medikamenten-Notstand herrsche und was er dagegen zu tun gedenke. Abgeschafft wurde die «Prioritätswährung» übrigens nicht, sie bekam lediglich einen anderen Namen, andere Bedingungen und andere Zwecke.
Im Herbst Volksaufstand?
Doch weder der neue Name noch die neuen Bedingungen haben die Krise des Medikamentenmarkts gelindert, im Gegenteil, die Lage wird weiter verschärft.
«Die Situation ist dramatisch, ja regelrecht gefährlich. Spätestens im Herbst könnte es einen Volksaufstand geben, wenn wir die Medikamentenkrise nicht bald lösen», sagte vor drei Wochen Jabbar Kutscheki, Mitglied des parlamentarischen Gesundheitsausschusses, in einer Sondersitzung des Parlaments.
In diesem Parlament voller Radikaler und Fundamentalisten gehört Kutscheki zu den Radikalsten. Und wenn er vor einem unruhigen Herbst wegen des Mangels an Medikamenten warnt, ahnt er, wovon er redet.
Die einst in der Region vorzeigbare iranische Pharmaindustrie liegt praktisch am Boden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zu der Grundstoffknappheit, mit der viele Pharmakonzerne der Welt derzeit zu kämpfen haben, kommen vor allem hausgemachte gravierende Probleme. Neben der Korruption sind das fehlende Ersatzteile für die veraltete Industrie. Diese Ersatzteile gibt es nur im Ausland gegen Devisen und mit einer funktionierenden Bankverbindung zum internationalen Banksystem. Beides hat die islamische Republik nicht.
Die Legende von sanktionierten Medikamenten
Sanktionen, Sanktionen und nochmal Sanktionen, wiederholen deshalb stets nicht nur die Mächtigen in Teheran, wenn sie die Misere des Landes erklären wollen. Auch mancher «Antiimperialist» im westlichen Ausland stimmt in diesen Chor mit ein: Die Iraner und Iranerinnen stürben, weil der Westen die islamische Republik menschenverachtend sanktioniere.
Doch das stimmt einfach nicht. Ein Beispiel: Vor etwa vier Wochen gab die irakische Regierung bekannt, ca. sieben Milliarden US-Dollar blockiertes iranisches Guthaben sei auf Anweisung der USA freigegeben worden. Diese Meldung aus Bagdad wurde in den offiziellen Medien Irans tagelang als eine Siegesmeldung der neuen Regierungsdiplomatie gefeiert. Auch Südkorea werde bald blockierte Devisen in Höhe von etwa 20 Milliarden Dollar freigeben, frohlockten die Propagandisten. Plötzlich verschwand diese Kampagne ins Nichts. Inzwischen redet niemand mehr darüber, wann oder ob überhaupt diese Freigabe je kommen wird.
Der Grund liegt in den Bedingungen, die die USA an die Devisenfreigabe verknüpft haben. Washington wollte wissen, wofür die Gelder ausgegeben werden. Medikamente, Nahrungsmittel und andere Güter des täglichen Lebens waren immer von den Sanktionen ausgenommen.
Die US-Regierung ist offenbar lernfähig. 2015, nach dem Atomabkommen und der teilweisen Aufhebung der Sanktionen, hatte sie erlaubt, Bargeld nach Teheran zu transferieren. Doch diesmal, nachdem man sich in Geheimverhandlungen näher gekommen ist, wollen die Amerikaner die Verwendung der Devisen überwachen. Denn 2015, zu Zeiten Barack Obamas, flossen die freigegebenen Devisen zu einem beachtlichen Teil in die Kassen der Revolutionsgarden und ihrer Verbündeten in Syrien, Libanon, Jemen und Irak. Diesen Fehler wollen die USA diesmal vermeiden.
Menschenleben unwichtig?
Die iranischen Machthaber wollen aber Bares sehen, deshalb sind sie nicht bereit, auf diese Konditionen einzugehen. Auch dann nicht, wenn die Schlangen vor den Apotheken täglich länger und länger werden und manche Medikamente nur auf dem Schwarzmarkt zu haben sind. So gesehen ist die Medikamentenknappheit sowie die Misere in den Operationssälen des Iran systemimmanent.
Drei grosse staatliche Holdings beherrschen im Iran die Produktion und den Import von Arzneimitteln. Ali Khamenei bestimmt die Chefs dieser Firmenkonglomerate, die bei allen Import-Export-Geschäften des Landes das letzte Wort haben. Der Iran hatte einst eine der produktivsten Pharmaindustrien in der Region, das Land zählte sogar zu den Medikamentenexporteuren. Doch das ist längst Geschichte. Fünfzehn grossen Pharmaunternehmen des Landes geht langsam die Luft aus, denn auch im Iran werden wie überall die Grundstoffe knapp und teuer – und dies in Zeiten des Devisenmangels.
In besseren Zeiten wurden Medikamente für etwa 1,5 Milliarden US-Dollar importiert. Deutschland stand mit etwa 250 Millionen Dollar weit vorn an erster Stelle. Es zählte auch zu den wichtigsten Lieferanten von Krankenhausausrüstung.
Ärzte schlagen Alarm
Dr. Abbas Kazemian, international anerkannter Neurochirurg in Teheran, sagte kürzlich in einer Diskussion des sozialen Netzwerks «Clubhouse»: «Wir sind auf dem Weg zurück zu längst abgeschafften Methoden der Chirurgie. In unseren Krankenhäusern fehlt das Elementarste, was ein Arzt täglich braucht.» Sein Kollege Dr. Amhad Mir, ebenfalls ein Chirurg und Krebsspezialist, fügte hinzu: «Man zwingt uns, zu traditioneller Medizin und Behandlungsmethoden der vergangenen Jahrhunderte zurückzukehren.»
Der Allgemeinchirurg und Krankenhausdirektor Dr. Ali Jafarian berichtete bei derselben Veranstaltung, der Kauf medizinischer Geräte sei momentan für niemanden mehr möglich, sei gar nicht vorstellbar.
Es gibt wie immer Ausnahmen
Doch nicht alle gehören zu diesem «Niemand», es gibt Ausnahmen. Das sind die Omnipotenten des Landes. Vor drei Wochen eröffnete Hussein Salami, der oberste Kommandant der Revolutionsgarden, auf einem Gelände von 6’000 Quadratmetern im noblen Norden Teherans ein sehr modernes Krankenhaus mit 850 Betten. Es untersteht den Garden; «Wir haben weitere 16 Krankenhäuser in der Planung», sagte der oberste Gardist.
Nicht umsonst heissen die Garden im Volksmund Sanktionsgewinnler. Zu dieser surrealen Dramatik des Gesundheitssystems passen auch die regelmässigen Meldungen vom Schmuggel iranischer Medikamente in die Nachbarländer Irak und Afghanistan.
Die Grenzen Irans zu diesen Ländern werden ausschliesslich von den Garden kontrolliert.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal