Kaiser Wilhelm II. ging nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ins holländische Exil. Bis zu seinem Tod vergingen 22 Jahre, die er mit intensivem Lesen und mehr noch mit Holzhacken verbrachte. Das klingt äusserst langweilig. Aber ein genauer Blick auf diese Jahre fördert viel Interessantes zutage.
Der 10. November 1918 war ein nasskalter, nebliger Tag. Aber es waren nicht das unfreundliche Wetter und auch nicht die ungewöhnlich frühe Zeit, die den kleinen Trupp Männer in ihren Uniformmänteln auf dem Bahnsteig frösteln liessen. Um 6 Uhr an diesem Sonntag war Kaiser Wilhelm II., von wenigen Getreuen begleitet, mit einer Auto-Kavalkade in dem kleinen, unmittelbar an der Grenze zu Belgien gelegenen, niederländischen Ort Eysden eingetroffen. Am Tag zuvor hatte den Monarchen im Hauptquartier der Obersten Heeresleitung im Grandhotel Britannique des belgischen Ardennen-Kurorts Spa die Nachricht erreicht, dass er 24 Stunden vorher abgedankt habe. Max von Baden, der Reichskanzler, hatte dies kurzerhand und eigenmächtig verkündet und der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 8. November die Republik ausgerufen. Nur zögernd war Wilhelm dem dringenden Rat der militärischen Führung und hoher Diplomaten gefolgt, nicht in das von Aufständen erschütterte Berlin zurückzukehren, sondern ins neutrale Ausland zu fliehen und um Asyl zu bitten. Noch wenige Tage zuvor hatte er trotzig verkündet: «Ein Nachfolger Friedrichs des Grossen dankt nicht ab!»
Heimatlos und frierend
Nun stand der noch kurz vorher zu den Mächtigen dieser Erde zählende Mann frierend auf dem Bahnsteig des holländischen Grenzstädtchens und musste stundenlang auf die Ankunft seines Hofzuges warten, der ihn nach Utrecht bringen sollte. Die niederländische Königin Wihelmina aus dem Hause Nassau-Oranien hatte dem ihr verwandtschaftlich verbundenen Kaiser Asyl gewährt und Sicherheit versprochen, pflegte in der Folge jedoch nur wenig Kontakt zu ihm, weil sie ihm Fahnenflucht vorwarf. Das weiss der 59 Jahre alte, heimatlos gewordene Kaiser in der feuchten Kälte des Bahnhofs Eysden zu dem Zeitpunkt freilich ebenso wenig, wie er sich vermutlich vorgestellt haben wird, am Ende 22 Jahre im holländischen Exil verbringen zu müssen. Denn aus der Verbannung nach Deutschland zurückzukehren, wäre für den Ex-Kaiser in seiner eigenen Vorstellung nur für den Fall einer Wiedereinführung der Monarchie infrage gekommen.
Das alles ist jetzt 106 Jahre her. Genau wie das mit dem Waffenstillstand vom 11. September 1918 besiegelte Ende des Ersten Weltkriegs. Geschichte und Geschichten also – sozusagen aus ferner, grauer Vorzeit? In Deutschland ist das weitgehend so. Selbst bei Angehörigen der älteren Generation haben die Zeit des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und die bis dahin unvorstellbaren Verbrechen, die totale militärische und moralische Niederlage 1945 sowie die mehr als 40 Jahre andauernde nationale Teilung praktisch alles überlagert, was davor gewesen ist. Ganz anders bei den damaligen Kriegsgegnern. Ob Briten, Franzosen oder Belgier – dort hat das vier Jahre andauernde Völkermorden von 1914 bis 1918 noch immer einen Namen: The Great War, La grande guerre – Der grosse Krieg. In Belgien ist der 11. November sogar Staatsfeiertag. Und wer die riesigen Soldatenfriedhöfe in West-Flandern und Nordfrankreich besucht, wird kaum unbeeindruckt bleiben von den zahlreichen Zeichen der Erinnerung auf den Gräbern.
Die Angst vor Entführung
Aber Geschichte kann lebendig werden. Zum Beispiel im nordholländischen Doorn. Dort, unweit der Universitätsstadt Utrecht, verbrachte der deutsche Ex-Kaiser den Rest seines Lebens. Es war ein Leben zwischen Lesen, Träumen, Hoffen – und Holzhacken. Nach Wilhelms Flucht in die Niederlande hatte ihn der niederländische Graf van Aldenburg-Bentinck in seinem Schloss Amerongen aufgenommen. Eigentlich glaubte der Graf, das Logis werde nur ein paar Tage dauern. Doch dann wurden es eineinhalb Jahre. Und dass der ungebetene Gast mit einem Gefolge von mehr als 70 Bediensteten kommen würde, hatte sich Aldenburg-Bentinck auch nicht vorgestellt. Besonders in der ersten Zeit machte sich Wilhelm grosse Sorgen, dass er von den Holländern an die Siegermächte ausgeliefert und vor ein Kriegsgericht gestellt werden könnte. Immerhin enthielt der Versailler Vertrag entsprechende Verfügungen. Und tatsächlich war es auch einmal – trotz strenger Bewachung – einer Gruppe Amerikaner gelungen, in das Schloss Amerongen einzudringen. Sie wollten, gaben sie später zu Protokoll, den Geflüchteten entführen und den US-Besatzungstruppen in Deutschland als Weihnachtsgeschenk bringen …
Als der einstmals nach Teilnahme an der Weltherrschaft strebende und nun auf Schutz angewiesene Wilhelm schliesslich sicher war, dass er nicht den Siegern überstellt würde, begab er sich auf die Suche nach einer dauerhaften Bleibe und entschied sich für das Haus Doorn, das er 1919 für 500’000 Gulden kaufte und für noch einmal 600’000 aus- und umbauen liess. Die Immobilie mit rund 35 Hektar Land und Wald gehörte bis dahin der Baronin Van Heemstra de Beaufort. Das wäre an sich nicht erwähnenswert, hätte es sich bei dieser Dame nicht um die Urgrossmutter von US-Filmstar Audrey Hepburn («Frühstück bei Tiffany», «Ein Herz und eine Krone») gehandelt. Nicht schlecht für einen scheinbar armen Schlucker, der Hals über Kopf nicht bloss Haus und Hof verlassen musste, sondern gleich ein ganzes – von ihm selbst ja als von Gott gegeben angesehenes – Reich. Doch deutsche Revolutionen verlaufen halt anders als anderswo. Zum Beispiel (und zu seinem Glück) anders als in Frankreich unter Einsatz der Guillotine. Oder in Österreich, wo nach dem 1. Weltkrieg die ehemals Mächtigen kurzerhand rigoros enteignet wurden.
Nur halbherzig enteignet
Nicht so im Deutschland der Weimarer Republik. Im Rahmen der so genannten Fürstenabfindung verlor das Haus Hohenzollern zwar fast alle seiner 70 Schlösser. Aber Wilhelm II. durfte trotzdem die ihm wichtigsten Stücke aus dem persönlichen Familienbesitz nach Doorn kommen lassen. Insgesamt 59 (!) Güterwagen mit Möbeln, Kunstwerken und Erinnerungen! Und in Berlin wurde dem abgesetzten Monarchen noch ein «Hausministerium» zugestanden, das seine Interessen und verbliebenen Besitztümer in Deutschland verwaltete. So waren ihm zum Beispiel noch das Landgut und die Werkstatt für wertvolle Majolika-Keramik im masurischen Cadinen (heute Kadyny) verblieben, die er selbst 1904 eingeweiht hatte. Entsprechend kamen regelmässig sein Berliner Hausmeister und der Vermögensverwalter nach Doorn. Und natürlich wurde bei diesen Gelegenheiten auch immer über die Wiederherstellung der Monarchie in Deutschland und damit eine mögliche Rückkehr gesprochen. Doch die Auskünfte von Seiten der Besucher waren offensichtlich sehr widersprüchlich. Das jedenfalls geht aus den peniblen Tagebuch-Notizen von Sigurd von Ilsemann hervor, dem letzten Flügeladjutanten Wilhelms II.
Das dreiflügelige Backstein-Gebäude der einstigen Wasserburg Doorn fügt sich passend ein in die flache Naturpark-Landschaft der an malerischen Orten reichen niederländischen Provinz Utrecht. Nach dem Erwerb der Immobilie liess Wilhelm in Strassennähe ein neo-mittelalterliches Torgebäude hinzufügen und – als Geschenk an seine erste Frau Auguste Viktoria – einen Rosengarten anlegen. Sie war allerdings bereits schwer krank, als sie ihrem Mann ins Exil folgte, und starb 1921. Der kaiserliche Witwer verharrte freilich nicht lange in Trauer und Einsamkeit; schon ein Jahr später heiratete er die gleichfalls verwitwete Prinzessin Hermine aus dem thüringischen Hause Reuss ältere Linie. Das kleine Schloss in Doorn selbst präsentiert sich den Besuchern praktisch unverändert so wie es war, als der Hausherr am 4. Juni 1941 um 11.30 Uhr im Alter von 82 Jahren starb. Das gilt für das Speisezimmer mit dem feinen Geschirr aus der Königlichen Porzellan Manufaktur (KPM) in Berlin genauso wie für das Büro, wo noch immer der eigens für ihn mit einem Reitsattel versehene Stuhl vor dem Schreibtisch steht.
Hier wie dort versäumt es der holländische Führer nicht, seine Gäste auf bestimmte Besonderheiten aufmerksam zu machen. Beispielsweise auf die Gabel neben dem Geschirr am Platz des Kaisers. Sie hat ausser den Zinken auch noch eine Schneide. Wilhelms linker Arm war ja als Folge einer fehlerhaft ausgeführten Zangengeburt verkürzt und nur eingeschränkt gebrauchsfähig. Mit der speziell für ihn angefertigten Messergabel konnte er die Speisen schneiden. Und da steht im Arbeitszimmer dieser massive Eichenschrank – ein «Danziger Schrank», wie die Erklärung lautet. Dessen auffällige Tiefe ist auch kein Zufall. Denn hinter der Tür verbirgt sich eine Toilette mit für die damalige Zeit hochmoderner Wasserspülung. Im Prinzip zeigt Haus Doorn einen Hofstaat im Kleinen – mit getrennten Flügeln für den Monarchen und seine Gemahlinnen, mit Esszimmer, Audienzraum, Büro des Adjutanten und grosser Küche.
Bewunderer des «Alten Fritzen»
Wilhelm II. war zeit seines Lebens ein glühender Bewunderer des Preussenkönigs Friedrich II. – besser bekannt wohl als der «Alte Fritz». Nahezu in allen 12 Zimmern sowie an den Wänden der Flure sind Bilder aufgehängt, die den Herrn von Sanssouci in nahezu allen Lebensaltern und Umständen zeigen; hier als Kriegsherrn, dort als Feingeist im Plausch mit dem französischen Philosophen Voltaire oder als Musikfreund mit der Querflöte. Und unter dem Glas von Vitrinen kann der interessierte Betrachter die beeindruckende Sammlung friederizianischer Schnupftabakdosen aus bemaltem Meissener Porzellan bestaunen. Nicht zuletzt aus den Tagebüchern des Adjutanten von Ilsemann weiss man, dass Wilhelm II. – obwohl im Exil lebend – über all die Jahre intensive Kontakte mit Deutschland pflegte. Dennoch kann sein Alltag in der Regel nicht sonderlich aufregend verlaufen sein.
Richtig ist, dass er viel las. Und das offensichtlich intensiv. Denn er legte kaum ein gedrucktes Werk zurück, ohne darin zahlreiche Anmerkungen zu hinterlassen. Geradezu legendär, indessen, ist des Ex-Kaisers fast schon zur Manie gewordene Lust am Holzsägen und Holzhacken. Mehrere tausend Bäume aus seinem Park, erzählt der Touristenführer, seien im Verlauf der zwei Jahrzehnte dieser Besessenheit zum Opfer gefallen. Wobei das Holz im Winter allerdings regelmässig an bedürftige Menschen aus der Umgebung verschenkt wurde. Aber der auf die Asylgnade seiner Verwandten, Königin Wilhelmina, angewiesene Wilhelm muss sich dennoch eingesperrt vorgekommen sein. Früher, zu seinen glorreichen Zeiten, war er fast immer auf Reisen – in der Regel mehr als 200 Tage im Jahr. Mit der kaiserlichen Jacht durch die norwegischen Fjorde, zum Segeln bei der Kieler Woche, mit dem Hofzug durch das Reich. Und sei es auch nur, um wieder irgendwo ein Denkmal einzuweihen.
Eingesperrt und streng bewacht
Der prominente Mitbürger namens Wilhelm musste sich in Holland hingegen strengen Auflagen unterwerfen. So durfte er sich nur in einem Radius von 15 Kilometern um sein Anwesen herum frei bewegen. Jeder Ausflug darüber hinaus unterlag der Anmelde- und mithin Genehmigungspflicht. Wilhelm war ausserdem gehalten, politische Äusserungen in der Öffentlichkeit zu unterlassen. Zudem wurde seine Post kontrolliert, und er stand unter ständiger Bewachung durch die Militärpolizei. Allerdings, so wird berichtet, entwickelte sich im Laufe der Jahre eine enge Freundschaft zwischen dem Bewachtem und dem Bewacher, dem Polizeikommandanten Major Marius van Houten. Wilhelms in Berlin residierende Hausminister, aber auch seine zweite Frau, Hermine, pflegten in Deutschland regelmässig Kontakte mit einflussreichen Persönlichkeiten – auch um eine mögliche Rückkehr zu fördern. Dazu gehörten auch Begegnungen mit wichtigen Nazis. Zum Beispiel mit Hermann Göring, der den exilierten Kaiser sogar mindestens einmal in Doorn besuchte.