Am 25. Juli hatte der tunesische Präsident Kaid Saied die Regierung nach Hause geschickt und das Parlament «eingefroren». Mit Spannung wartete man darauf, wie es nun weiterging. Doch Saied nahm sich viel Zeit. Schon kam Kritik auf, er wolle alle Macht an sich reissen und Tunesien in eine Diktatur verwandeln. Jetzt ernannte er die 59-jährige Najla Bouden zur Premierministerin. Sie ist die erste Regierungschefin in einem arabischen Land.
Taoufik Ouanes ist Anwalt in Tunis und Genf und tunesisch-schweizerischer Doppelbürger. Er gehört zu den besten Tunesien-Kennern. Heiner Hug sprach mit ihm.
Journal21: Taoufik Ouanes, ist Tunesien noch immer eine Demokratie?
Taoufik Ouanes: Zuerst einmal: Tunesien war nie eine wirkliche Demokratie, auch nach dem arabischen Frühling nicht. Der Westen hat sich da Illusionen gemacht. Das Parlament wurde von der islamistischen Ennahda-Partei dominiert, eine Partei, die den Muslimbrüdern nahesteht. Unter Islamisten kann es keine wirkliche Demokratie geben. Die Islamisten haben sich über demokratische Gepflogenheiten hinweggesetzt. Ihnen war die Demokratie ziemlich egal. Sie haben geglaubt, sich alles leisten zu können. Sie haben sich mit der tunesischen Wirtschaftsmafia verbündet und das Land ins Elend und ins Chaos gewirtschaftet. Daraufhin hat Präsident Kais Saied die Regierung aufgelöst und das von Ennahda dominierte Parlament suspendiert.
Er sagte jedoch, er würde bald eine neue Regierung einsetzen. Das dauerte aber ziemlich lange. Der Westen forderte fast ultimativ eine Rückkehr zur Demokratie.
Ja, vor allem die USA setzen Druck auf. Sie forderten – ich zitiere –, dass die Demokratie gerettet würde. Aber eben, es war keine wirkliche Demokratie. Der Westen zeigte sich wenig informiert.
Und jetzt soll es eine wirkliche Demokratie geben?
Ja. Kais Saied ist kein Diktator. Die Auflösung der Regierung und des Parlaments war kein Staatsstreich. Wer das sagt, erzählt Unsinn. Saied ist ein Verfassungsrechtler, der versucht, eine wirklich funktionierende Demokratie, keine Ennahda-Demokratie, zu errichten. Er hat die Notbremse gezogen, damit das Land nicht total im Chaos versinkt.
Er hat bereits angekündigt, dass er mehr Macht will, dass er auch per Dekret regieren will.
Er will die Verfassung ändern. Er will aus Tunesien eine Demokratie à la française installieren, mit einem starken Staatspräsidenten, mit einem etwas weniger starken Regierungschef und einem funktionierenden Parlament.
Warum dauerte es dann so lange, bis er jetzt eine Regierungschefin ernannt hat.
Tunesien steht vor einem grundlegenden Umbau. Ziel ist eine funktionierende Präsidialdemokratie, die die wirklichen Probleme des Landes anpackt. Saied ist ein vorsichtiger Mann. Er bricht nichts übers Knie. Er hat in den letzten zwei Monaten viele, viele Gespräche geführt, auch mit Vertretern der USA, der G7 und der EU. Ebenso mit der Armee und den Wirtschaftsverbänden. Er musste viel Überzeugungsarbeit leisten.
Und jetzt also hat er eine Frau an die Spitze der Regierung gesetzt. Ist das vor allem symbolischer Akt?
Die Wichtigkeit dieser Ernennung kann nicht genug betont werden. Es ist das erste Mal, dass in einem arabischen Land eine Frau einer Regierung vorsteht. Zugegeben, es gab schon in anderen Ländern Ministerinnen, so in Marokko und Algerien. Aber das war vor allem Dekor, Garnitur. Macht hatten diese Frauen nie. Doch jetzt, zum ersten Mal, gibt es eine Regierungschefin, die zwar dem Präsidenten untersteht, aber doch viel Macht und Einfluss besitzt.
Und weshalb ist es so wichtig, dass es eine Frau ist?
Die islamistische Ennahda war nie für eine wirkliche Gleichberechtigung von Frau und Mann. Die Ernennung einer Frau bedeutet, dass es keine Rückkehr zur Ennahda-Politik gibt. Dass jetzt eine Frau die Regierung anführt, ist mehr als symbolisch. Es markiert das Ende der islamistischen Politik in Tunesien. Präsident Saied hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die Ideologie der Islamisten und ihre Politik ablehnt. Mit der Ernennung einer Frau hat er ein klares Zeichen gesetzt.
Was halten denn die Tunesierinnen und Tunesier vom Vorgehen des Präsidenten?
Die Auflösung des Parlaments und der Regierung am 25. Juli war laut Umfragen von 92 Prozent der Bevölkerung gutgeheissen worden. Fast alle wussten, mit dieser Ennahda-Politik konnte es nicht weitergehen. Auch das Militär und die Wirtschaft stellen sich hinter den Präsidenten. Man darf nicht vergessen, dass «die Strasse» es war, die ein Ende der Ennahda-Dominanz forderte. Da es nun etwas lange dauerte, bis eine Regierungschefin ernannt wurde, wurden einige doch ungeduldig. Es gab Demonstrationen, die Saied aufforderten, endlich vorwärts zu machen. Doch noch immer stehen 82 bis 84 Prozent der Befragten hinter dem Präsidenten, auch die Armee, auch die Wirtschaft.
Jetzt hat Tunesien also eine Regierungschefin. Damit aber noch keine Regierung.
Die Regierung soll demnächst vorgestellt werden.
Hat dieser grundsätzliche Umbau der tunesischen Demokratie nicht ein Legitimationsproblem? Da entscheidet der Präsident ganz allein, wie künftig regiert werden soll.
Der Verfassungsrechtler Saied, der keiner Partei angehört und völlig unabhängig agiert, ist sich dessen natürlich bewusst. Er hat angekündigt, dass der neue Kurs, die geänderte Verfassung, dem Volk in einer Volksabstimmung vorgelegt werden muss. Und natürlich hat er eine Neuwahl des Parlaments angekündigt.
Was ist Najla Bouden, die Ministerpräsidentin, für eine Frau?
Sie gehört keiner politischen Partei an. Sie ist Wissenschaftlerin, hat ein Doktorat in Geologie, ist Geologie-Professorin, Biologin, Referentin im Bildungsministerium und hat grosse Erfahrung in der Administration. Sie hat auch enge Kontakte mit der Weltbank, was jetzt natürlich wichtig ist. Sie wird als freundlich und durchsetzungsfähig beschrieben.
Welches sind ihre grössten Baustellen?
In erster Linie muss sie die Wirtschaft wieder in Gang bringen, ein Budget ausarbeiten und die unter Ennahda grässlich grassierende Korruption bekämpfen. Sie muss die Institutionen neu aufbauen. Sie muss im Ausland Vertrauen schaffen und die Beziehungen zu Europa, den USA und ihren Nachbarstaaten festigen. Und natürlich muss sie auch den Kampf gegen die Corona-Pandemie fortsetzen. Da hat Staatspräsident Saied ja schon Vorarbeit geleistet. Unter Ennahda starben pro Tag 300 Menschen in Tunesien an Corona. Jetzt sind es noch fünf.