Die Partei "Nida Tunes" (Ruf Tunesiens), die bisher die Mehrheit im tunesischen Parlament innehatte, hat sich gespalten. 32 ihrer Parlamentarier haben sich am Montag endgültig von ihrer Partei getrennt. Die "Nida Tunes" verfügt jetzt nur noch über 54 Parlamentssitze. Die bisher zweitgrösste Partei, die gemässigte islamische "Ennahda" (Wiedergeburt), wird nun mit 67 Sitzen die grösste im Parlament.
Schon lange, schon seit der Gründung, ist Nida Tunes keine homogene Partei. Der Altpolitiker und heutige Staatschef Beji Caid Essebsi war es, der die Partei 2012 gegründet hatte. Damit wollte er der gemässigten islamischen Ennahda eine politische Kraft entgegensetzen. In Caid Essebsis „Anti-Ennahda-Partei“ fanden sich viele Politiker zusammen, die in erster Linie dem Islamismus Widerstand entgegensetzen wollten.
Sammelbecken
Manche dieser Politiker kamen aus dem althergebrachten politischen Establishment, das unter Staatsgründer Habib Bourguiba entstanden war. Nach der Ära Bourguiba hatten diese Politiker seit 1987 mehr oder weniger kritisch mit Präsident Zine el-Abidine Ben Ali zusammengearbeitet. Einige von ihnen hatten sich früher, andere später von ihm getrennt, als er allzu einseitig die Interessen seines Familienclans verfolgte.
Der heutige Präsident Caid Essebsis gehörte zu dieser Gruppe. In der Nida Tunes, fanden sich bald auch Politiker und Sympathisanten, die eher zur liberalen politischen Linken als zum politischen Etablissement gehörten. Als Liberale und Linkspolitiker waren diese Leute ebenfalls Säkularisten und überzeugte Gegenspieler von Ennahda.
Koalition mit Ennahda
Caid Essebsis Nida Tunes gewann die Wahlen von 2014, jedoch nicht die absolute Mehrheit. Deshalb ging die Partei eine Koalition mit Ennahda ein. Dies wurde möglich, weil sich die Ennahda-Politiker klar und deutlich von den gewalttägigen Islamisten absetzten. Im Interesse des Landes zeigten sie sich bereit, mit ihren früheren Gegenspielern zusammenzuarbeiten und Verantwortung zu übernehmen.
Beji Caid Essebsi gewann später auch die Präsidentenwahlen. Als Staatspräsident gab er die Führung seiner Partei ab, nachdem er sie autoritär geführt und beherrscht hatte. Das war wohl nötig, um den linken und den rechten Flügel zusammenzuhalten.
Streit um die Parteiführung
Nach dem Rücktritt als Parteichef begann Beji Caid Essebsis Sohn eine wichtige Rolle in der Partei zu spielen. Um ihn, Hafedh Essebsi, scharten sich nun die Getreuen seines Vaters, hauptsächlich Leute des rechten Flügels. Den Posten eines Parteisekretärs bekleidete allerdings Mohsen Marzouk, ein Politiker des linken Flügels.
Nach der Bildung der Koalition mit Ennahda begann ein Streit über die Führung der Partei. Ennahda wird von den linken Säkularisten nach wie vor als „islamistisch“ abgelehnt. Seit der Gründung von Nida Tunes hatte die Partei nie einen Parteikongress durchgeführt. Ein solcher wurde jetzt von Parlamentariern der Partei gefordert.
Nach dem Vater der Sohn?
Interimistisch hatte Mohamed Ennaceur die Führung der Partei übernommen, ein Anhänger des rechten Flügels. Mit ihm zusammen bestimt ein "Komitee der Gründer" die Geschicke der Partei. Dieses Komitee zögert die Einberufung eines Parteikongresses hinaus.
Die Anhänger des linken Flügels kritisiere, mit der Verzögerung soll die Stellung von Hafedh Essebsi gefestigt werden. Er, der Sohn des Parteigründers, soll darauf vorbereitet werden, die Rolle seines Vaters als Parteichef zu übernehmen.
Kompromissvorschlag abgelehnt
So entstanden zwei Lager: Das eine ist eher konservativ und bildet die Mehrheit in der Partei. Es ist eng mit den Geldgebern der Partei aus der Zeit des abgesetzten Ben Alis verbunden ist. Vertreten wird es jetzt durch Mohamed Ennaceur und Essebsi Sohn. Auf der anderen Seite steht das links und liberal ausgerichtete Lager unter der Leitung von Parteisekretär Mohsen Marzouk. Unterstützt wird diese Fraktion von den in Tunesien starken Gewerkschaften.
Am 3. November versuchte Staatschef Caid Essebsi, die Gegensätze zu überbrücken. Er schlug vor, dass weder sein Sohn noch Parteisekretär Marzouk künftig eine Führungsrolle in der Partei einnehmen. Der Kompromissvorschlag schlug fehl, weil Marzouk und seine Anhänger die Einberufung des Exekutivkomitees der Partei verlangten, um die offene Frage des Parteivorsitzes zu lösen. Dagegen stemmte sich die rechte Parteimehrheit. Ihre Abgeordneten erklärten, nur das von ihnen beherrschte „Komitee der Parteigründer“ sei befugt, das Exekutivkomitee einzuberufen.
Begnadigte Reiche
Sachfragen überlagerten die persönlichen Gegensätze. Der Präsident schlug ein sogenanntes „Versöhnungsgesetz“ vor. Dieses, so sagt die Parteimehrheit, würde von den institutionellen Geldgebern Tunesiens, dem IMF und der Weltbank, befürwortet.
Dieses Gesetz sähe vor, dass die Reichen und Profiteure aus der Zeit Ben Alis in geheim gehaltenen Verhandlungen mit einer Kommission darüber diskutieren, wieviel Geld sie dem Staat als Busse für frühere Vergehen zahlen müssten. Im Gegenzug zur geleisteten Busse würden sie für ihre Vergehen amnestiert. Zweck dieser Regelung wäre, Geld in die Staatskasse zu spülen, um die stagnierende Wirtschaft neu anzukurbeln zu können.
Sich das Recht erkaufen, weiter wie bisher zu wirtschaften
Der Nachteil liegt darin, dass viele Inhaber grosser Vermögen diese auf Grund von Oligopolen und Monopolen erworben haben, die Ben Ali ihnen verschafft hatte. Natürlich würden die Betroffenen versuchen, ihre einflussreiche wirtschaftliche Stellung beizubehalten. Mit den Bussen, die sie zahlen, würden sich sich gewissermassen das Recht erkaufen, im bisherigen Stil – dem einzigen Wirtschaftsstil, den sie kennen – weiter zu wirtschaften.
Da die Verwaltung und auch das Rechtswesen oft korrupt ist, könnte es ihnen gelingen, weiter die tunesische Wirtschaft zu beherrschen. Das Versöhnungsgesetz wurde im September dem Parlament vorgelegt, ist aber noch nicht behandelt worden.
Ähnlich steht es mit den Vorhaben der Linken. Sie hat vorgeschlagen, die Opfer des Ben Ali-Regimes zu unterstützen und sie für begangenes Unrecht zu entschädigen. Dies ist grundsätzlich beschlossene Sache, doch die praktische Durchführung lässt auf sich warten. Ob und in welcher Form die Ben Ali-Opfer entschädigt werden, bleibt ungewiss und umstritten.
Die Geduld verloren
Die tunesische Bevölkerung hat längst die Geduld mit ihren Politikern verloren. Mehr und mehr Bürger sind der Ansicht, dass "die Politiker" allesamt in erster Linie ihr eigenes Süppchen kochen, statt - wie sie sollten - das Land voranzubringen und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die Grabenkämpfe innerhalb der führenden Partei bestätigen in ihren Augen diesen Befund.
In der Tat verlangsamen die internen Streitereien jede Beschlussfassung so sehr, dass der Eindruck entsteht, Tunesien stagniere. Natürlich schreckt dies auch ausländische Geldgeber ab, in Tunesien zu investieren.
Gewinnt Ennahda an Einfluss?
Noch ist unklar, welche Folgen die Spaltung der Mehrheitspartei Nida Tunes haben wird. Die bestehende Koalition verfügt auch nach dem Abgang der 32 Dissidenten noch immer über die absolute Mehrheit im Parlament, nämlich über 121 der 217 Sitze. Doch innerhalb der Koalition wird nun plötzlich der bisher kleinere Koalitionspartner Ennahda der grössere.
Mit Caid Essebsi stellt Nida Tunes weiterhin den Staatspräsidenten, der eine wichtige Rolle spielt. Die Partei kann weiterhin auf die stillschweigende Unterstützung der Reichen und Privilegierten des Ben Ali-Regimes zählen.
In ersten Stellungnahmen lässt die gemässigte islamische Ennahda erkennen, dass sie Stabilität im Land will. Das bedeutet wohl, dass sie zunächst die Koalition fortsetzen will. Ob sie dafür auch Konzessionen verlangt, welcher Art auch immer, ist noch nicht bekannt.