China ist heute allgegenwärtig und uns allen näher denn je. Nicht wenige Schweizer kennen das Reich der Mitte aus eigener Erfahrung. Umgekehrt werden heute ja auch Rekordmengen von chinesischen Touristen durch Interlaken aufs "Joch" geschleust.
Wer mehr wissen will über diese Weltmacht des 21. Jahrhunderts kann den Medien immer mehr Berichterstattung und oft scharfsinnige Analyse zu Wirtschaftserfolgen, Umweltkatastrophen und Sozialproblemen entnehmen.
Reich werden auf Kosten der Umwelt
Und doch bleibt uns das offizielle, das politische China fremd. Wie im letzten November das Schattenspiel in Beijing zur Wahl der dortigen sieben "Bundesräte" zeigte, sind Oberfläche und Parolen weiterhin monochrom und scheinen ein bruchlos wachsendes China zu spiegeln.
Eine nähere Betrachtung vor Ort bestätigt die Schwierigkeit, sich ein klares Urteil zu bilden. Einerseits die gleissenden Hochhausfassaden am "Bund" in Shanghai als Symbole wirtschaftlichen Fortschritts und andererseits die offensichtliche Rücksichtslosigkeit im täglichen Umgang mit ihrer Umwelt und einer Bevölkerung, die dazu angehalten wird und davon absorbiert ist, reich zu werden.
Zwei gegenläufige Tendenzen
Grob zusammengefasst sind indes zwei grosse und oft gegenläufige Tendenzen auszumachen. Wirtschaftlich wächst der asiatische Koloss und wird weiter wachsen, wobei sich aber auch in China die Grundfragen nach der Verteilung und der Nachhaltigkeit dieses Wachstums immer dringender stellen. Politisch nimmt die Erstarrung zu, die auf die Unfähigkeit der kommunistischen Partei zurückgeht, ihre Unfehlbarkeit und ihr Machtmonopol in Frage zu stellen. China wird immer wichtiger, aber auch unberechenbarer für den Rest der Welt.
Letzteres wird oft ausgeblendet. Dies gilt auch für jene, die angesichts der am "Bund" prominent platzierten Schaufenster der schweizerischen Uhrenindustrie den bisherigen Exporterfolg in China bruchlos in die Zukunft projizieren. Man hofft, dass das Geschäft wie bisher weiterläuft, und schliesst von diesem Wunsch zurück auf eine Entwicklung im westlichen Sinne vom gegenwärtigen Manchesterliberalismus zu einem sozialer werdenden Kapitalismus. Hin zu einem System mit immer demokratischer gesetzten Schranken und Wegmarken für Umwelt und Verteilung.
Ende des schweizerischen Alleingangs
Das kann, muss aber nicht eintreffen. Durchaus möglich sind auch Krisen in China selbst, mit all ihren Konsequenzen für die Weltwirtschaft, sowie Störungen im Verhältnis mit China bis hin zu ernsthaften Auseinandersetzungen. Zu deren Bewältigung braucht es ein starkes Gegengewicht zu Beijing. Aus Europa bringt dies nur die EU als Ganzes auf die Waage, auch die europäischen Grossmächte sind dafür einzeln zu klein, zu wenig gewichtig.
Tony Blair, einer der wenigen prominenten Engländer, der seine Landsleute vor ihrer im Moment wieder stärkender werdenden Tendenz zum Alleingang warnt, hat dies kürzlich so ausgedrückt: In ihrer bisherigen Geschichte war die EU mit Frieden in Europa befasst, in Zukunft wird sie der Projektion europäischer Interessen im globalen Rahmen dienen müssen. Dies gilt speziell für den Grossraum Asien-Pazifik.
Wenn schon England zu klein ist, wie soll dann die Schweiz als Nichtmitglied der grossen europäischen und atlantischen Zusammenschlüsse in Zukunft allein mit dem Reich der Mitte zurechtkommen? Für ein bilaterales Freihandelsabkommen mag es im Moment gerade noch reichen, primär weil in der Perspektive der Weltmacht China die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der Schweiz vernachlässigbar klein sind. Danach dürfte es aber ein für alle Mal vorbei sein mit dem schweizerischen Alleingang in Asien-Pazifik. Als politischer Rahmen und wirtschaftliche Rückversicherung wird für uns auch hier zumindest die EU unverzichtbar werden.
Daniel Woker war 35 Jahre im auswärtigen Dienst des EDA tätig und lehrt an der Universität St. Gallen. Seine Schwerpunkte sind der Grossraum Asien Pazifik sowie generell die Aussenansicht auf die Schweiz. Woker schreibt regelmässig für internationale politische Publikationen.