Was treibt Menschen an, in die Politik zu gehen, sich gar um den Einzug ins Kanzleramt zu bewerben? Der Arbeitsplatz dort ist, realistisch betrachtet, wahrlich kein Traumjob. Das öffentliche Ansehen ist, jedenfalls in unserer Zeit, ja nicht sonderlich hoch. Woran die politische Gilde allerdings selbst ein gerüttelt Mass an Mitschuld besitzt, wie das aktuelle Theater um das Ausstiegsszenario in Berlin zeigt. Ausserdem ist die Entlohnung nicht gerade fürstlich. Liegt die Antriebsfeder in der «Droge Macht»? Oder gibt es tatsächlich Menschen, die das «Politikmachen» aus Verantwortung für die Gesellschaft betreiben?
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hat unlängst offiziell den noch amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz erneut zu ihrem Kandidaten für die Berliner Regierungszentale nominiert. Miserable Umfragewerte für ihn hin oder her. Die Christliche Demokratische Union Deutschlands (CDU) hat dasselbe mit Friedrich Merz für sich und die bayerische Schwesterpartei mit der Abkürzung CSU bereits vor einiger Zeit getan. Ebenso wie es die Partei Bündnis 90/Die Grünen neulich mit Robert Habeck und die sich als Alternative für Deutschland (AfD) anpreisenden nationalistischen und extremen Rechtsaussen mit ihrer Frontfrau Alice Weidel taten.
Diese Vier wollen, nach den wegen des Bruchs der Berliner Ampel-Koalition notwendig gewordenen und für den 23. Februar anberaumten vorgezogenen Bundestagswahlen, wieder (wie zum Beispiel Scholz) oder erstmals (wie Friedrich Merz, Alice Weidel oder Robert Habeck) ins Kanzleramt an der Spree einziehen. Die Frage mag naiv klingen; trotzdem: Warum wollen die das eigentlich? Und was treibt sie an? Denn wer sich im politischen Geschäft auch nur einigermassen auskennt weiss, dass es kaum einen Job gibt, der einen Menschen dermassen fordert und auslaugt wie der des Regierungschefs, egal ob männlich oder weiblich, und zwar gleichermassen körperlich und mental.
Es bleiben Narben
Man braucht als Beleg dafür nur Fotos zu betrachten, die beim Amtsantritt und am Ende einer vierjährigen Wahlperiode vom Inhaber oder der Inhaberin dieser für Sicherheit und Wohlergehen des Staates und seiner Bürger in erster Linie verantwortlichen Personen geschossen wurden. Das Gewicht der Verantwortung, die Brisanz vieler Entscheidungen, die Gnadenlosigkeit der Angriffe und Beleidigungen von aussen und die Härte der politischen Kämpfe haben, ohne Ausnahme, bei allen ihre Narben und anderen Spuren hinterlassen.
Es wird oft gesagt, Politik und die damit verbundene Macht wirkten wie eine Droge. Diese These enthält viel Wahres. Weil es die Hoffnung auf viel Geld und Reichtum – anders als an bierseligen Stammtischen und in vielen Leserbriefen kolportiert – bestimmt nicht sein kann. Das Jahresgehalt des Bundeskanzlers beträgt rund 360’000 Euro. Das ist, ganz klar, recht ordentlich. Aber: Der Mann muss im Zweifel über Krieg und Frieden, Leben und Tod entscheiden! Richard Lutz hingegen, Chef der Deutschen Bahn, darf sich als Spitzenverdiener eines Bundesunternehmens über satte 900’000 Euro plus Boni in nicht unbeträchtlicher Höhe freuen. Trotzdem ist die Infrastruktur marode, fahren die Züge unpünktlich oder kommen gar nicht an. Hinter Lutz an zweiter Stelle steht der Chef der Bundesdruckerei, auf dessen Konto 863’000 Euro pro Jahr fliessen. Ihm obliegt es jetzt höchstens, rechtzeitig vor dem und zum Wahltermin genügend Unterlagen und Wahlzettel zu drucken und auszuliefern.
Verzicht auf Privatleben
Selbst der Direktor einer mittelgrossen Sparkasse befindet sich komfortabel in einer Gehaltsliga mit der Nummer eins im Bundeskanzleramt. Oder sogar darüber. Geregelte Arbeitszeit der Person an der Spitze? Gibt es nicht. Normales Familienleben? Selbst im Urlaub kaum möglich. Einfach mal «privat» ins Kino, Theater oder in eine gemütliche Kneipe gehen – vergiss es. Die Aufzählung der täglichen Dinge, die das eigene Leben erst lebenswert machen, aber für die allermeisten Politiker ausser Reichweite liegen, liesse sich beliebig verlängern. Bekanntheit verlangt ihren Preis. Viele dieser Einschränkungen gelten durchaus auch schon für einfache Abgeordnete des Bundestages und der Landtage. Aber trotzdem übt ein politisches Mandat auf den einen oder die andere eine magnetische Wirkung aus.
Sicher, sie alle haben sich diesen Job freiwillig gewählt. Trotzdem bleibt die Frage nach dem Warum. Weshalb tut sich jemand das an? Ist es tatsächlich die Faszination der Macht? Das ist ganz bestimmt der Fall. Zumindest zum Teil. Natürlich hebt es das Gefühl der eigenen Bedeutung, wenn einem zu Ehren militärische Ehrenformationen auf- und vorbeimarschieren. Es löst bei einem Menschen schon etwas aus, wenn er oder sie jederzeit über eine Armada von Flugzeugen und anderen Transportmitteln verfügen kann. Aber das ist ja bloss ein kleiner, «technisch» notwendiger Nebeneffekt von Macht. Das Wort klingt bedrohlich, stellt es sich doch unwillkürlich neben den Begriff der Gewalt.
Was bedeutet Macht?
Dabei ist Macht zunächst einmal etwas Neutrales. Macht an sich ist nicht gut und auch nicht böse. Entscheidend ist, mit welchen Inhalten sie gefüllt, was mit ihrer Hilfe erreicht oder auch angestellt wird. Politik ohne Macht bleibt wirkungslos. Entscheidungen, vor allem harte innen- oder aussenpolitische Notwendigkeiten gegen mannigfaltige Widerstände durchzusetzen, ist undenkbar, wenn nicht Macht dahintersteht.
Die eigentliche Frage gilt den Grenzen von Macht. In funktionierenden Demokratien sind es die Parlamente, sind es die Medien, die sie begrenzen. Das Gegenbeispiel dazu sind Diktaturen oder – wie sie Viktor Orban in Ungarn auf sich und seine Fidesz-Partei zugeschnitten hat – «gelenkte» Demokratien, die stark autoritäre Züge aufweisen.
In die Politik zu gehen ist für die meisten Zeitgenossen wirklich kein Traumjob. Besonders nicht in der heutigen Zeit. Die Erwartungen der Gesellschaft und vor allem der Interessengruppen sind nicht selten utopisch hoch. Gleichzeitig ist die allgemeine Wertschätzung für «die da oben» eher gering. Daran ist «das System» nicht unschuldig. Die politische Struktur in Deutschland (zumindest im einstigen Westteil war es einmal so) ist eigentlich aufgebaut auf dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip. Es besagt, in einfachen Worten, dass zunächst einmal jeder und jede für sich und das Wohlergehen seiner Familie selbst verantwortlich ist und der Staat nur dort einzuspringen hat, wo dies nicht möglich ist. Und davon gibt es natürlich Schicksale zuhauf.
Einzelwohl vor Gesamtwohl
Von diesem Prinzip kann in deutschen Landen schon seit langem nicht mehr die Rede sein. Ständig wachsender Wohlstand und die meistens gute wirtschaftliche Lage haben zu einem Sozialstaat geführt, in dem die Gesellschaft immer mehr vom Staat erwartet, dieser aber das Verlangen auch selber gefördert hat. Das Ergebnis: Der Staat (und dazu gehört bereits die Kommunalpolitik) wird für nahezu alles verantwortlich gemacht. Selbst wenn es um die Reinigung der Gehsteige vor der eigenen Immobilie geht. Mit anderen Worten: Der einstige Gedanke an das Gesamtwohl ist längst abgelöst worden von dem des Gruppen- oder Individualwohls.
Wenn an Stammtischen beim Bier oder wo auch immer über Politik und Politiker diskutiert und gestritten wird, kommt ein Gedanke nur selten auf. Nämlich der, dass jemand, der in die Politik geht, dies auch in der Absicht und dem Willen tut, etwas für die Allgemeinheit bewirken und Dinge bewegen zu wollen.
Aber genau das haben Leute wie der Christdemokrat Konrad Adenauer getan, der mit der Westbindung die Rückkehr der durch die Verbrechen der Nazis verfemten Deutschen in die zivilisierte Völkergemeinschaft ermöglichte.
Oder der Sozialdemokrat Willy Brandt, dessen mit den Freidemokraten Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher betriebene Ostpolitik die Voraussetzungen für die deutsche Wiedervereinigung schuf, auch wenn die damals noch unerreichbar schien.
Oder Helmut Schmidt von der SPD, dessen Einsatz für die Raketen-Nachrüstung ein wesentliches Element für die Überwindung des Kalten Kriegs bildete. Und dem dafür die eigene Partei am Ende die Gefolgschaft versagte.
Oder der Pfälzer Helmut Kohl (CDU), der gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die Zeichen der Zeit richtig erkannte und in einem ganz kleinen Zeitfenster die Weichen zur deutschen Wiedervereinigung richtig zu stellen wusste. – Es waren übrigens fast alles politische Entscheidungen, die gegen die jeweils herrschende Stimmung im Lande getroffen wurden und sich trotzdem als richtig erwiesen.
Verantwortungsgefühl oder die Taschen füllen?
Nein, diese Menschen (und es waren wahrhaftig nicht die einzigen) haben nicht politische Ämter angestrebt, weil sie sich von unseren Steuergroschen die Taschen füllen wollten. Sie haben es aus staatspolitischem Verantwortungsgefühl getan, auch wenn vielen Zeitgenossen solche Begriffe fremd und pathetisch klingen mögen. Und ganz gewiss gibt es auch jetzt genügend Mandatsträger (und solche, die politische Ämter anstreben), die sich dem Gedanken an das Gedeihen des Staates und seiner Bürger verpflichtet fühlen.
Es gibt freilich einen Unterschied zwischen denen damals und denen heute. Dieser Unterschied heisst Generationenwechsel. Die Angehörigen der so genannten Aufbaugeneration hatten entweder die Nazi-Zeit mit all ihren Auswüchsen erlebt oder kannten wenigstens persönlich ihre Folgen. Und sie setzten auf das hohe Gut der demokratischen Prinzipien im Wissen um deren Gefährdungen. Dasselbe galt für die damaligen Bürger. Dass diese Gefährdungen nicht kleiner geworden sind, beweisen die Kriege und Krisen der Jetztzeit. Wer heute lebt, ist zumeist aufgewachsen in einer Zeit von scheinbar nicht endendem Wohlstand, in der Wehrhaftigkeit und eventueller Verzicht auf materielle Güter fremd sind. Aber in der die Füllhörner staatlicher Wohltaten leer geworden sind.
Der Umgangston ist rauer geworden
Das bedeutet allerdings auch, dass die Verteilungskämpfe härter werden. Und der Umgangston rauer. Dazu kommt, dass die Menschen in der einstigen DDR die demokratische Lehrzeit der Westbevölkerung nicht durchlebt haben und darüber hinaus auch noch einen totalen Zusammenbruch ihrer eigenen Lebensleistungen erlitten. Das macht die jüngsten Wahlergebnisse von AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht in Ostdeutschland nicht besser, aber erklärt – wenigstens teilweise – die darin erkennbaren Faszinationen autoritärer Strukturen. Im Übrigen: Warten wir einmal die Ergebnisse der Bundestagswahl und anderer Volksabstimmungen im Westen ab. Womöglich unterscheiden die sich gar nicht so fundamental von denen der Landsleute zwischen Elbe und Oder.
Was soll das alles aussagen? Es soll sagen, dass (fast) alle, die um ein Amt im politischen Gefüge kämpfen, eigentlich ein Lob verdienen. Denn sie brauchen Mut. Die Erfindung des Internets ist ganz gewiss nicht die Ursache für den Hass und den Neid im Umgang miteinander, aber es wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Politisch oder religiös begründete Radikalisierungsprozesse sind ein beklemmender Beleg für diese These, der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke 2019 ein blutiges Fanal.
Macht und deren Kontrollen
Und dennoch ist Politik nicht das landläufige «schmutzige Geschäft». Ohne politische Führung kein funktionierender Staat. Und diese wird von Menschen betrieben, die wir wählen können, wählen dürfen. Die uns nicht von oben oktroyiert werden. Die Macht besitzen, aber deren Macht kontrolliert wird. Von Parlamenten und auch den mittlerweile so stark kritisierten Medien. Und die diese Aufgabe im Prinzip auch ausfüllen. Selbst wenn sie alles andere als ein Traumjob sind, der nicht gerade fürstlich entlohnt wird.