„Bürgerlich“ bedeutete ursprünglich „Burg-Verteidiger“, bevor der Begriff im Lauf der Jahrhunderte zu „Bewohner“, dann „Bürger“ mutierte. Was haben denn die Bürgerlichen im Herbst 2015 zu verteidigen?
Neues bürgerliches Image gesucht
Viel wird momentan darüber geschrieben, wie ein neues bürgerliches Image auszusehen hätte, was eine neue, zeitgemässe bürgerliche Agenda beinhalten müsste. Dieser Aufwand lässt darauf schliessen, dass klassische bürgerliche Anliegen teilweise verdampft sind; ja, dass besorgte Vertreter bürgerlicher Parteien selbst zum Schluss gekommen sind, der Begriff benötige dringend einer Auffrischung. Ruedi Noser, der bekannte bürgerliche Querdenker und FDP-Politiker versuchte es schon 2007 mit seinen Vorstellungen eines neuen, jungen, urbanen und weiblichen Partei-Images – vergeblich. Acht Jahre später kämpft er unermüdlich weiter: für ein vitaleres politisches System und auch gegen die Trägheit seiner eigenen Partei.
Im Dossier des „Schweizer Monat“ (März 2015) plädiert der CVP-Politiker Gerhard Pfister für eine „Trendwende“: Er fordert den Willen der bürgerlichen Parteien, sich auf das zu besinnen, was sie ihren Wählern versprochen haben und erinnert an die Werte einer bürgerlichen Politik: „Es sind die eines christlichen, liberalen und konservativen Menschenbildes“. Dagegen ist nichts einzuwenden, doch was verstehen Wählerinnen und Wähler darunter?
Für eine Renaissance der bürgerlichen Politik sind die zitierten Versprechen genauer zu definieren, insbesondere die klare, unmissverständliche und einheitliche Haltung der bürgerlichen Politik zu den allerdrängendsten Fragen, vor die sich unser Land gestellt sieht.
Das wichtigste Dossier: die Europafrage
Wie weiter mit den Verhandlungen mit der EU? Diese Frage spaltet die beiden grössten bürgerlichen Parteien, grob gesagt, seit 1992. Während die SVP sogar die Bilateralen aufs Spiel setzt, um endlich „den Willen des Volks“ durchzusetzen, sucht man in der FDP vergeblich nach Rezepten. Die Partei hüllt sich im Wahljahr in Schweigen. Konrad Hummler, der umtriebige Publizist aus der Ostschweiz, kritisiert, dass seine Partei vor dem entscheidenden Thema kapituliere.
Die Fehlanreize in der Asylpolitik
Auch beim emotionalen Reizthema Asyl bestimmt die SVP die Debatte. Eher abenteuerlich sind Toni Brunners Lösungsvorschläge. Da bliebe Platz für weniger schaumschlägerische Ideen: Völlig unverständlich ist ja der seit vielen Jahren beobachtete krasse Fehlanreiz, dass rund 75 Prozent der Asylanten und vorläufig Aufgenommenen nicht arbeiten. Da der Bund diesen jahrelang Sozialhilfe auszahlt, haben die Kantone kein Interesse, daran etwas zu ändern. Wäre das nicht ein Thema für die FDP, sozusagen massgeschneidert?
Die falschen Ratings
Politologen und Politiker gefallen sich im Etablieren von Links-Rechts-Ratings. Dabei werden Gegensätze geschaffen, die – damit sie „messbar“ werden – populär, aber dennoch falsch sind. Jüngstes Beispiel, bei dem bürgerliche Wortführer in die Falle getappt sind: Seit die Energiewende in Bern beschlossene Sache ist, FDP und SVP aber klar dagegen sind, werden durchaus bürgerlich denkende Schweizerinnen und Schweizer sowie Mitte-Links-Parteien in die linke Ecke abgedrängt. Dieses Korsett ist viel zu eng, gibt ein weiterer bürgerlicher Politiker zu verstehen; Martin Landolt, Parteipräsident der BDP, der sich bei diesem Problem aus ökonomischen (und wohl auch aus ökologischen) Gründen quer stellt zur viel beschworenen bürgerlichen Phalanx.
Ein anderer Parteipräsident, Martin Bäumle (GLP), kämpft aus dem gleichen Grund gegen stürmische Böen. Nach der desaströsen Idee, die Energiewende in seinem Sinn vors Volk zu bringen („Energie- statt Mehrwertsteuer“), wurde er nicht einmal mehr zu den Gesprächen eines bürgerlichen Schulterschlusses im Hinblick auf die Wahlen im Herbst eingeladen. Wer genauer hinschaut, hat wohl kapiert, dass die GLP-Devise „Wirtschaft stärken, Umwelt schützen, Zukunft wählen“ zwar theoretisch und langfristig Sinn machen würde, doch das kurzfristige Taktieren ist im Wahljahr offenbar vielversprechender und wohl entscheidender.
Bürgerliche Trendwende?
Der „Schweizer Monat“ stellt im Zusammenhang mit der neuen bürgerlichen Agenda die Frage, ob Ausstieg aus der Atomenergie, Aufhebung des Bankkundengeheimnisses, Aufstockung der Entwicklungshilfe, geräteabhängige SRG-Steuer, Verschärfung der Umweltschutzgesetzgebung „und so weiter und so fort“ klassisch bürgerliche Anliegen seien. Die Verfasser lassen keinen Zweifel offen, dass es sich hierbei nicht um jene Anliegen handelt, welche die bürgerlichen Parteien ihren Wählern versprochen haben. Mit anderen Worten: Offensichtlich haben FDP und SVP nichts am Hut mit solchen „staatlichen Regulierungen“.
„Was sind wichtige Fragen?“, lesen wir weiter. „Die Souveränität der Schweiz, Wohlstand, Sozialwerke, Bildung, Sicherheit, Freiheit, Privatheit“, gibt Pfister zur Antwort. Die alte Leier. Zudem: Souveränität, Wohlstand, Sicherheit, Freiheit – das tönt schon fast nach 1. August-Streusendung der SVP.
Bürgerliches Verwirrspiel
Auch wenn Politologen, Politiker, Strategieberater gleichzeitig von bürgerlichem Trauerspiel jammern, für bürgerliche Anliegen, Mehrheiten und Forderungen plädieren und gegen bürgerliche Grabenkämpfe eintreten: sind sie nicht allesamt völlig fixiert auf einen klassischen, aber leicht verkalkten Begriff? Stellt man die Frage „Was heisst bürgerlich?“ jungen Studentinnen und Studenten, kommen spontan Antworten wie „spiessig, konservativ, traditionsbezogen, meistens begütert“.Thomas Hürlimann, der 65-jährige Schweizer Schriftsteller, antwortet auf die Frage, was das Wort „bürgerlich“ eigentlich bedeute, kurz und bündig: „Allem voran bedeutet bürgerlich ‚vergangen’.“
Offensichtlich ruft der Begriff „bürgerlich“ nach Revitalisierung. Es genügt eben nicht, gegen immer mehr Staatseinfluss zu kämpfen, gegen Subventionen im Besonderen, wenn die gleichen Parteien im Parlament dann, als Beispiel, seit vielen Jahren der Bauernschaft unermüdlich Milliardensubventionen zuhalten. Es genügt auch nicht, nach der Kostenbremse zu rufen, wenn dabei (wieder) die Landwirtschaft jedes Mal ausgenommen wird. Protektion der eigenen Kundschaft ist keine bürgerliche Tugend. Und nach den Erfahrungen von 2008 mit dem weltweiten Finanzdebakel vehement gegen eine vernünftige Bankenregulierung zu kämpfen, ist für viele bürgerlich gesinnte Menschen schwer nachvollziehbar.
Ein besonders übles Beispiel falsch verstandener, ideologisierter Bürgerlichkeit gab im Sommer 2015 Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Gewerbeverbands und FDP-Nationalrat, mit seiner Anti-SRG-Hasskampagne. Da war kein Unterschied auszumachen zu den Schäfchen-Plakaten der SVP. Für zusätzliches Kopfschütteln, auch in den eigenen Reihen, sorgte im Juni 2015 die plumpe Lehrstunde des Lobbyismus, als es den Bürgerlichen gelang, das neue Potentatengesetz zu entschärfen und gleichzeitig ihren eigenen Bundesrat zu desavouieren. Sogar die NZZ, Freundin der Bürgerlichen der ersten Stunde, meinte dazu: “Zu viel Herz für Diktatoren.“
Mehr Eigenverantwortung, einverstanden!
Wenn man weder zu staatsgläubig noch gewerkschaftsfreundlich ist und sich für mehr Eigenverantwortung einsetzt, kann man vorbehaltlos einige Ziele der bürgerlichen Agenda unterstützen: Rückbau von Verschuldung und Subventionen, Vereinfachung des Steuersystems, Wahlfreiheit in der Versorgung, Orientierung an der ganzen Welt, Kostenwahrheit im Verkehr und Energie (inklusive Atomstrom).
Eigenverantwortung ruft nach verstärktem zivilgesellschaftlichem Engagement, dem Grundgedanken unseres Milizsystems. Dieses ist kein garantiertes Grundrecht. Bürgerliche Parteien müssten sich in Wirtschaftskreisen dafür stark machen. Arbeitgeber – wenn sie gegen staatliche Lenkung sind – hätten ein grosses Potenzial, im eigenen Betrieb Gegensteuer zu sozialistischen und gewerkschaftlichen Forderungen zu geben, indem sie Leute aus ihrer Crew dazu ermuntern und es ihnen ermöglichen, politisch aktiv zu werden.
Bürgerliche Renaissance
Ein zeitgemässes bürgerliches Modell müsste neue Ideen bringen. Der permanente Kampf gegen die eigene Regierung ist phantasielos, jener gegen den politischen Gegner wenig konstruktiv. Längst gilt die Devise „Kooperation statt Kampf“ als gewinnbringender. „Bürgerlich“ als richtungsweisende politische Einstellung sollte sich weniger als klassenkämpferischer Gegenpunkt zum Sozialismus (des letzten Jahrhunderts) verstehen denn als Anker und Ideenlieferant für clevere, verantwortungsvolle Lösungen.
Dieses neue Modell hätte zu akzeptieren, dass ein verlässlicher Mensch nicht einer politischen Schwarz-Weiss-Ideologie zugeordnet werden kann, denn er ist weder ein fanatischer oder verblendeter Kämpfer noch von einer Parteidoktrin abhängig. Die neue Bürgerlichkeit hätte dagegen gelebte Solidarität, ökologisches Verhalten, nachbarschaftliches Engagement und mutige Eigenverantwortung zu thematisieren. Natürlich neben den momentan wichtigsten offenen Fragen: Wie weiter mit dem Verhältnis zur EU? Wie umgehen mit den Zuwanderungs- und Flüchtlingsfragen?