In Bülach leben 18 000 Einwohner. Sie feiern zur Zeit das 1 200 Jahrjubiläum ihrer Stadt, die im Zürcher Unterland mit zwei Bezirken und 44 Gemeinden eine Zentrumsfunktion hat. 2006 geschah in Bülach etwas Ungewöhnliches. Die alteingesessene Regionalzeitung „Zürcher Unterländer“, ein langweiliges, mit den Ortsgrössen verbandeltes Blatt, erhielt plötzlich Konkurrenz. Und dafür sorgte ausgerechnet der Zürcher Medienkonzern Tamedia, der in den letzten Jahren durch Entlassungen und Abbau negative Schlagzeilen provoziert hatte. „Als grösste Investition des „Tages Anzeigers“ in seiner ganzen Geschichte,“ wie sich die damalige Projektleiterin ausdrückte, investiere das Medienhaus im grossen Stil in den Regional- und Lokaljournalismus. 60 neu angestellte Journalisten begannen in eigens dafür geschaffenen Regionalausgaben aus dem ganzen Kantonsgebiet zu berichten. In Bülach waren es 21 Journalisten und zahlreiche freie Mitarbeiter. Neben der aktuellen Berichterstattung aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport gab es in einem eigenen Bund auch viel Platz für gesellschaftliche Themen.
Vom Eindringling zum Leader
Der als links verschriene Tagi galt im konservativen Zürcher Unterland jedoch zuerst als unerwünschter Eindringling. Die Zahl der Leser ging zurück. Der Eindringling mutierte aber zum Aufmischer und Leader. Unter Markus Rohr, der aus der Redaktionsleitung des „Blick“ 2009 nach Bülach kam, begann die TA-Regionalausgabe, mit unabhängigem und kritischem Journalismus aufzufallen. „Ich wollte mit kontroversen Themen und Kommentaren politische Diskussionen anstossen,“ erklärt Rohr sein Verständnis von Journalismus. Besonders wichtig im Lokal- und Regionaljournalismus sei der Kontakt mit den Lesern. So wurde für Rohr der Besuch von Gemeindeversammlungen eine Pflicht. „Dort erfährt man immer etwas, auch wenn keine brisanten Themen auf der Traktandenliste stehen,“ sagt der Journalist. Und der Erfolg blieb nicht aus: Im Gegensatz zum landesweiten Abwärtstrend bei den Printmedien, so Rohr, habe der „Tages Anzeiger“ im Zürcher Unterland Leser gewonnen und schliesslich eine grössere Reichweite ausweisen können als der „Zürcher Unterländer“. Kritischer aber fairer Journalismus war nun auch hier auf Akzeptanz gestossen.
Aggressiver Verdrängungskampf
Die journalistische Erfolgsstory dauerte aber nicht lange. Ende November 2010 löste Tamedia die Regionalredaktionen auf. Denn inzwischen war der Konzern in den Besitz des „Zürcher Unterländer“ sowie der „Zürichsee Zeitung“ gelangt und am „Zürcher Oberländer“ hat er eine wesentliche Beteiligung . Die „historische Grossinvestition in den Lokaljournalismus“ entpuppte sich als Instrument in einem Verdrängungskampf. „Der mediale Mohr kann gehen“, schrieb die NZZ hämisch über das aggressive Vorgehen von Tamedia im Kampf um den regionalen Zeitungsmarkt. Die NZZ unterliess es aber, ihre eigene Rolle in diesem Verdrängungswettbewerb zu erwähnen. Die NZZ-Gruppe, die an den Zürcher Landzeitungen beteiligt war, war bereit, diese Beteiligungen gegen die „Thurgauer Zeitung“ einzutauschen, die Tamedia vor einigen Jahren gekauft hatte. Mit diesem Deal konnten beide Konzerne ihre Monopolstellung ausbauen: Tamedia in der Region Zürich und die NZZ-Gruppe in der Ostschweiz, wo die NZZ bereits das „St.Galler Tagblatt“ kontrolliert.
Mutiger Abschiedsartikel
In Bülach wandte sich Markus Rohr in einem mutigen Abschiedsartikel an die Leser: „Regionaljournalismus mit Tiefgang ist aufwendig. Wer guten Regionaljournalismus betreiben will, darf sich nicht allein am wirtschaftlichen Gewinn orientieren. Es braucht dafür auch Leidenschaft und die Ueberzeugung, dass bürgernaher Journalismus gerade im Zeitalter des World Wide Web Zukunft hat.“ Offensichtlich traf Rohr mit solchen Sätzen bei der Leitung von Tamedia einen offenen Nerv: Das vom Unternehmen signalisierte Interesse an einer Fortsetzung der Zusammenarbeit mit ihm war mit ausdrücklichem Verweis auf diesen Beitrag plötzlich nicht mehr vorhanden.
Leserprotest
Ganz anders reagiert die Oeffentlichkeit in Bülach und im Zürcher Unterland. Vertreter aus allen Parteien, des Gewerbeverbands, von Kirche und Kultur kritisieren den Entscheid von Tamedia und befürchten einen Rückfall in den medialen Einheitsbrei.
Unterstützung erhalten die protestierenden Leser vom bürgerlich dominierten Bülacher Stadtrat, der den Entscheid von Tamedia „bedauert“. Der Abbau der journalistischen Vielfalt sei „ein Verlust für die Stadt Bülach, aber auch für die Region“. Auch der Stadtrat von Kloten hat sich auf Grund einer Interpellation in einem ähnlichen Sinn geäussert.
Zurück zum Buschtelefon
Eine grosse Stadt sei im Blickfeld von Radio, Fernsehen und der überregionalen Presse, sagt Claudia Forni aus Bülach. „Hier aber ist die lokale Berichterstattung in der Zeitung die einzige Informationsquelle jenseits der Buschtrommel.“ Und Maria Eisele, die eine E-Mail –Protest Aktion organisierte: „Ohne politischen Journalismus dreht sich hier alles um jene Stimmen, die gewohnheitsmässig das Sagen haben.“ Die linken Parteien, so die ehemalige Journalistin und aktive Politikerin, seien zur Sisyphusarbeit verurteilt, weil die Themen in der Oeffentlichkeit nicht mehr kontrovers diskutiert würden.
Auf die Proteste aus Bülach reagiert der Ko-Chefredaktor des „Tages Anzeigers“, Markus Eisenhut, gelassen. Sie würden von einer Person, Maria Eisele, orchestriert. Den Erklärungen der Behörden misst er keine grosse Bedeutung zu. Schliesslich, so Eisenhut, könne Tamedia nicht überall auch noch für die Lokalberichterstattung zuständig sein. Der Vorwurf der Monopolsituation werde herbeigeredet und entspreche nicht der Wirklichkeit.
Im übrigen Verbreitungsgebiet des „Tages Anzeigers“ gab es bisher keine offenen Protestäusserungen. Dennoch herrscht auch im Zürcher Oberland oder an den beiden Seeufern Unzufriedenheit, wie kürzlich an einer Tagung über Regional- und Lokaljournalismus zu erfahren war.
Auf den Redaktionen der Zürcher Landzeitungen füllten oft junge und unerfahrene Medienschaffende mit geringen Ortskenntnissen und fehlendem politischen Grundwissen die Seiten.
Selbsthilfe der Leser
Folgen der „Marktbereinigung“ sind auch in der Ostschweiz zu beobachten, wo die NZZ- Gruppe dominiert. Einige Gemeinden im Hinterthurgau beklagen sich, sie würden wegen ihrer Randlage journalistisch nicht mehr zur Kenntnis genommen. Vor kurzem haben Bürger aus den betroffenen Gemeinden eine Genossenschaft gegründet, die unter dem Titel „Regi die Neue“ eine Regionalzeitung herausgibt, welche die Bevölkerung wieder über das Notwendigste informiert.
Bei Abbaumassnahmen und Budgetkürzungen auf Redaktionen gehört die „Kultur“ zu den ersten Opfern. Das bekam auch die Oeffentlichkeit im Kanton Thurgau zu spüren. Auf Initiative von Kulturschaffenden gibt es wieder eine Kulturberichterstattung, die diesen Namen verdient. Und es ist erstaunlicherweise die Thurgauer Regierung, die dieses online - Projekt (www. Thurgaukultur.ch) zusammen mit der unabhängigen Kulturstiftung finanziert.
Bundesrat erkennt die Probleme – setzt aber weiterhin auf „Eigenverantwortung der Verleger“
Mit diesem Modell zeigt der Thurgau der Politik in Bern, wie man mit wenigen (staatlichen) Mitteln Journalismus auf regionaler Ebene fördern könnte. Davon will der Bundesrat aber (noch) nichts wissen, obwohl er in seinem Bericht zur Situation der Schweizermedien beunruhigende Entwicklungen feststellen muss: Inzwischen kontrollieren drei Verlage (Tamedia, NZZ, Ringier) mehr als 75 Prozent der Tageszeitungstitel. Der Konzentrationsprozess hat schwerwiegende Folgen vor allem in den Regionen, die in zunehmender Zahl nur noch von einer Redaktion abhängig sind. Ohne Wettbewerb leidet die Qualität im Journalismus und damit auch die Demokratie. Politiker und Parteien haben keine Alternative, wenn sie mit ihren Ideen bei der Redaktion kein Echo finden. Fehlende Medienvielfalt führt zur Entpolitisierung der Bevölkerung. Oder, wie es ein Bülacher formuliert: „Das Lokale wäre der beste Einstieg, um den Bürger wieder ernst zu nehmen. Wir dürfen uns nicht über die schwache Stimmbeteiligung beklagen, wenn der Bürger im Lokalen sich selbst überlassen wird.“
Der Bundesrat erkennt diese Probleme, setzt aber auf „Eigenverantwortung und Selbstregulierungsfähigkeit der Verleger“. Wie das in der Praxis funktioniert, ist in Bülach zu beobachten. Und Bülach ist (bald) überall.