Wie Grossbritannien wird die Schweiz von der EU aus gesehen nun zum Drittstaat. „Schwexit“ nähert sich Brexit.
In einem vertraulichen Gespräch legt ein hoher Verantwortlicher der EU-Kommission dar, was aus der Sicht von Brüssel der kürzliche Entscheid des schweizerischen Bundesrates bedeutet, nach sieben Jahren Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zur Bündelung der mannigfaltigen Arten der schweizerischen Teilnahme am Gesamtwerk europäischer Freizügigkeit – eines Vertragswerkes, das die Schweiz ursprünglich selbst vorgeschlagen hat – das Gespräch ohne Resultat und ohne Rückfallposition abzubrechen.
Drittstaat, keine Nadelstiche
Die Schweiz wird zum „Drittstaat“, was bedeutet, dass nach dem allmählichen Auslaufen der bilateralen Verträge jedes gegenseitige Interesse neu verhandelt werden muss. Kein automatisches „roll over“ mehr von Vereinbarungen, die offensichtlich im gegenseitigen Interesse sind. Dies ganz speziell für die Schweiz, im Zentrum von Westeuropa gelegen.
Hier ist das europäische Unverständnis ob der schweizerischen Ablehnung denn auch am grössten. Warum um Gottes Willen sägt die Schweiz den eigenen „Europa-Ast’“ – die Sonderbehandlung, nach der die Schweiz von praktisch allen Vorteilen des Binnenmarktes profitieren kann, ohne sich als Mitglied verpflichten zu müssen – selbst ab? Ein Ast auf dem sich alles in allem sehr komfortabel sitzen lässt; in den wichtigsten Bereichen dieser Sonderbehandlung erhält die Schweiz mehr, als sie hineingibt.
Wenn neu verhandelt werden muss, weil ja eben der Rahmen fehlt, ist es völlig natürlich, dass auch neue Forderungen auftauchen. Solche sind also keine „Nadelstiche“ der EU gegen die Schweiz – wie es die hiesigen Europhoben auszudrücken pflegen, was von oberflächlichem Journalismus leider oft unbesehen übernommen wird –, sondern das Resultat von gegenseitigem Nehmen und Geben im Rahmen einer Verhandlung. Was heute bei einer auch osteuropäischen EU weit komplexer ist als zur Zeit der Aushandlung der ursprünglichen „Bilateralen“.
Aussenpolitik gegen Europa
Als wollte der Bundesrat noch eines drauf geben, erfolgte nur Tage nach dem Abbruchentscheid eine weitere Brüskierung gegenüber Europa: Anstatt eines durchaus gleichwertigen europäischen Kampfjets gibt die Schweiz einem amerikanischen Modell den Vorzug. Dass dieser Entscheid, wie übrigens auch jener zum Verhandlungsabbruch, auf der Basis von Verwaltungsgutachten erfolgt sei, welche dem Bundesrat „keine andere Wahl gelassen habe“, wirft grundlegende Fragen auf. Wer regiert denn eigentlich die Schweiz? Der Bundesrat ist zur staatspolitischen Führung des Landes nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Auch gegen Anfälle von juristischem Purismus einer Verwaltung, welche ausführen, aber nicht regieren soll.
Die Liste schweizerischer Alleingänge, welche von Europa nur als helvetische Schlaumeiereien begriffen werden können, lässt sich beliebig fortsetzen. Sie reicht vom voreiligen Abschluss eines bilateralen Freihandelsvertrages mit China und einer inhaltslosen Absichtserklärung über die Beteiligung an der chinesischen BRI (Belt and Road Initiative, die neue Seidenstrasse) bis hin zu einem Sonderabkommen mit dem anderen europäischen Aussenseiter, Grossbritannien, über Börsenequivalenz.
Pyrrhischer Sieg
Der Wirtschaftschef des Weltblattes „Financial Times“, Martin Wolf zieht fünf Jahre nach dem Brexit-Entscheid eine vernichtende Bilanz für sein eigenes Land: „Johnson’s Brexit win was a Pyrrhic victory“. So wie im Kleinen die beiden Finanzplätze London und Zürich auf mittlere Frist die Abnahme ihrer Bedeutung gegenüber der EU-Konkurrenz in Frankfurt, Amsterdam, Paris und Dublin nicht werden aufhalten können, so sieht Wolf im Grossen eine abschüssige Bahn für die britische Wirtschaft. Was in fünf Jahren mit dem allmählichen Fehlen europäischen Sauerstoffs auch für jene der Schweiz zutreffen könnte.
Das hohle Schlagwort von Johnson, als damaliger „cheerleader“ der Brexiteers, „Take back control“, ähnelt verzweifelt dem ebenso sinnentleerten Souveränitätsargument, mit dem die Europa-Gegner in der Schweiz das InstA bekämpft haben. Souverän ist ein Land, die Kontrolle über sein Schicksal behält es, wenn seine Entscheidungsträger dort präsent sind und mitmachen, wo die grossen, heute grenzüberschreitenden Probleme angegangen werden.
„Three Years in Hell“
Noch bedeutend dramatischer beurteilt ein anderer Beobachter an der Front das Brexit-Desaster. In der Zusammenfassung seiner in den wichtigsten irischen Medien erschienenen Tageskommentare in den Jahren seit dem Brexitvotum kommt der führende Journalist der Republik, Fintan 0’Toole, in „Three Years in Hell: The Brexit Chronicles“ zum Schluss, dass mit Brexit englischer – nicht britischer! – Nationalismus den Prozess zum Untergang der Union der vier britischen Völker (Engländer, Iren, Schotten, Waliser) eingeleitet habe. Zudem werde die „Nichtlösung“ an der inneririschen Grenze zwischen der Republik und Nordirland zum erneuten Aufflammen der sattsam bekannten Animositäten führen.
Auch hier besteht eine Parallele mit der Schweiz. Zwar wird Basel auch beim Wegfall der europaweiten Freiheiten für alle Schweizer kaum seinen Austritt aus der Eidgenossenschaft erklären. Aber dass die vier schwergewichtigen Grenzregionen – Basel im Dreiländereck, Genf im „Arc Lémanique“, das Tessin in der Lombardei, und die Bodenseeregion im Vierländereck – vom Absterben der vier europäischen Freiheiten stark getroffen würden ist offensichtlich.
Kehrtwende jetzt!
Die schweizerische Europapolitik befindet sich auf dem Holzweg. Gegenüber der EU kann das in den letzten Wochen zerbrochene Geschirr allein mit klarem Bekenntnis der Schweiz zu ihrem zentralen Interesse an der Teilnahme am Binnenmarkt geflickt werden. Völlig ungenügend sind ohnehin seit Jahren geschuldete kleinere Beiträge an den EU-Kohäsionsfonds. Das EU-Nichtmitglied Norwegen leistet hier seit Jahren ein Vielfaches, nämlich fünfmal mehr pro Kopf als die ebenso reiche Schweiz.
Nötig wäre beispielsweise eine substantielle Beteiligung am europäischen Wiederaufbaufonds. Dieser ist letztlich das Instrument zum Erhalt und zur Ankurbelung der gesamteuropäischen Austausche in der Folge des Pandemieeinbruchs. Daran ist die Schweiz ebenso interessiert wie jedes der EU-Mitgliedsländer.