An den Bregenzer Festspielen inszeniert Philipp Stölzl auf der Seebühne Carl Maria von Webers Oper «Der Freischütz» als bildstarkes Spektakel, in dessen Zentrum eine Sprechrolle steht. Das wirft interessante philosophische Fragen auf.
In Zürich haben sich gerade 20’000 Anhänger der «Zeugen Jehovas» versammelt. Sie glauben, dass das Armageddon, der Weltuntergang, kurz bevorsteht, und dass Satan, das Böse, überall lauert – es sei denn, man sei ein praktizierender «Zeuge Jehovas». Man kann das für antiquiert halten und den Teufel für abgedankt. Im Mittelalter noch hat er mit seinem Hexenglauben weite Landstriche beherrscht, dann aber hat – wie Kurt Flasch in «Der Teufel und seine Engel» materialreich dargelegt hat – ein steter Niedergang eingesetzt.
«In Europa ist der Teufel tot», stellt er kurz und bündig fest. «Hier lebt er nur noch als geschichtliche Figur oder artistischer Einfall. Als Gefühlsrest in einem Winkel melancholischer Seelen oder als Prätention autoritätslos gewordener Institutionen.» Denn der Teufel «taugt nicht zur Erklärung des Ursprungs des Bösen». Und weiter: «Man sagt mir, es gebe in der Menschheitsgeschichte das diabolisch Böse, und das sei sein Werk. Aber wir wissen nicht, wo die Grenze des menschenmöglich Bösen liegt. Das kann nur die Erfahrung zeigen.»
Als Kunstfigur lebt der Teufel fort
Freilich, auch das stellt Flasch fest: «Als Kunstfigur lebt Lucifer quicklebendig in Film und Internet.» Wie quicklebendig er ist, das lässt sich gerade auf der Bregenzer Seebühne besichtigen, wo Carl Maria von Webers 1821 uraufgeführte Oper «Der Freischütz» in der Inszenierung und auf der Bühne von Philipp Stölzl gerade Premiere gehabt hat. Stölzl kennt sich in Bregenz aus; hier hat er schon 2019 und 2021 Giuseppe Verdis «Rigoletto» bildmächtig im selbst entworfenen Bühnenbild mit riesigem Clownskopf in Szene gesetzt. Er weiss mit den Mitteln umzugehen, die ihm hier zur Verfügung stehen, und er greift für seinen «Freischütz» auch auf das zurück, was er als Filmregisseur gelernt hat: Nicht nur Carl Maria von Webers Musik hüllt die Besucher auf der Tribüne ein, es sind auch Geräusche, die das Unheimliche spürbar machen. Wölfe heulen, Vögel krächzen, virtuelle Gewitter gehen nieder.
Und dann ist da noch das allgegenwärtige Wasser. Nicht als stimmungsvolle Umgebung, sondern, ganz nah beim Publikum, als grosses Becken, aus dem sich ein im Dreissigjährigen Krieg zerstörtes Dorf erhebt. Schnee liegt auf den Hügeln, auf dünnem Eis balancieren die Figuren in Gesine Völlms historischen Kostümen aus der Entstehungszeit der Oper dem sumpfigen Wasser entlang, wenn sie nicht gerade darin versinken, daraus hervortauchen oder elegant darin schwimmen.
Und dann ist da noch ein rotgewandeter, agiler Geist: Samiel, der Teufel, den Moritz von Treuenfels so lustvoll spielt wie weiland Gustav Gründgens seinen Mephisto. Stölzl hat ihn ins Zentrum gesetzt, er lenkt die Handlung, manchmal korrigiert er auch, wenn er spürt: Das Publikum könnte unzufrieden sein. Das wirft Fragen auf: Ist der Teufel mittlerweile ins Unterhaltungsgewerbe abgewandert mangels anderweitiger sinnvoller Beschäftigung? Hat er den Menschen seiner eigenen Bösartigkeit überlassen? Hat er den Dienst als Projektionsfläche einer unreifen Menschheit aufgegeben? Und wie steht es denn mit Gott, mit dem Guten, das uns, ganz am Ende, beinahe etwas augenzwinkernd begegnet? Alles nur Maskerade?
«Wollen Sie ein richtig fettes Happy-End?»
Während solche Gedanken ins Gehirn kriechen, nimmt unter uns das Drama seinen Lauf, dem Stölzl in neuen, zusammen mit Jan Dvořák erarbeiteten Dialogen eine modernere Gestalt verliehen hat. Vor allem die Frauenrollen – Agathe (Elissa Huber) und Ännchen (Gloria Rehm) – profitieren davon. Agathe ist schwanger, sie denkt an Flucht, während die Herren der Schöpfung noch meinen, hier spiele sich alles nach ihren althergebrachten Regeln ab. Mit dem Probeschuss, den der ungelenke und – in den Augen des Dorfs – ziemlich unmännliche Amtsschreiber Max (Thomas Blondelle) erfolgreich absolvieren muss, will er des Erbförsters Kuno (Raimund Nolte) Tochter Agathe an den Traualtar führen.
Max tappt verzweifelt im Wasser umher, da weiss der Kriegsveteran Kaspar (Oliver Zwarg) Rat; er hat eine dunkle Beziehung zu Samiel, dem roten Jäger, und weiss, wie man Freikugeln giesst, die unfehlbar treffen. Zur Demonstration lässt er Max einen Adler vom Firmament schiessen. In der Wolfsschlucht züngelt das Feuer, die unheimliche Stimmung des unheimlichen Abends erreicht ihren Höhepunkt. Die Dämonen der Stunttruppe des Wired Aerial Theatre tauchen aus dem Dunkel auf, Nebel wabern, und die von Enrique Mazzola mit viel Sinn für die enorme Bandbreite von Carl Maria von Webers farbiger Musik geleiteten Wiener Symphoniker setzen ihre kräftigsten Akzente. Agathe hat einen Alptraum, und Samiel fragt ins Publikum: «Wollen Sie ein richtig fettes Happy End?»
Man kann also wünschen, freilich nur hier in der Bregenzer Traumwelt, die in diesem «Freischütz» auftrumpft mit allem, was sie aufzubieten vermag, vom feuerspeienden Drachen bis zum Pferdeskelett, auf dem, wie könnte es anders sein, Samiel reitet, der agile Teufel. War das jetzt zu viel des Spektakels, verdrängen all die Effekte nicht die Fragen, die sich stellen angesichts des Bösen in der Welt? Auch dieser Gedanke begleitet mich ins Dunkel der Nacht.
Weitere Vorstellungen bis zum 17.August