«Breaking point» – mit «Bruchstelle» nur unzulänglich übersetzt, da im deutschen Ausdruck weniger Dramatik mitschwingt – ist die Überschrift eines Plakates der Brexit-Befürworter. Der englische Nationalistenführer Nigel Farage hat es über das vergangene Wochenende am Fernsehen stolz präsentiert. Darauf ist ein Strom von Flüchtlingen zu sehen, welcher sich dem Betrachter entgegen windet. Offensichtlich eine Aufnahme aus dem Drama, welches sich im vergangenen Sommer im Balkan abspielte. Es suggeriert zu zeigen, was dem UK blühe bei einem Verbleib in der EU.
Anti-europäische Murdoch-Medien
Ein ehemaliger Minister von Premierminister Cameron, welcher wegen seiner Haltung als Brexit-Befürworter aus dem Kabinett flog, hat das Plakat «mit Schaudern» zur Kenntnis genommen. Er hat sich damit auf die Seite der EU-Befürworter geschlagen, welche diese Brexit-Werbung mit faschistischer Rhetorik der 1930er Jahre verglichen haben. Damit ist für einmal die unheilige Allianz der «normalen» konservativen Brexit-Befürworter und der nationalistischen Scharfmacher von Farages UKIP-Partei zerbrochen. Aber nicht nur das. Eine Bruchstelle ist auch erreicht worden zwischen zwar scharfem, aber auf dem Boden demokratischer Ausmarchung bleibendem Abstimmungskampf einerseits und xenophober Hetz- und Hasskampagne andererseits.
Das Plakat steht nämlich in einer langen Reihe antieuropäischer und fremdenfeindlicher Schmähungen, welche letztlich auf einen Mann zurückgehen. Seit Rupert Murdoch, weit rechts stehender Medienmogul mit australischem und amerikanischem Pass, wichtige englische Medien – «The Times», «The Sun», «News of the World» (wegen schwerer presserechtlicher Verstösse heute geschlossenen), «Sky-TV» und «Fox-TV» – übernommen hatte, kannte deren Europa-Hatz bei geeigneter Gelegenheit weder geschmackliche noch rechtliche Grenzen. Schon vor über zwanzig Jahren wurde so in seinen Massenblättern mit Headlines wie «Up yours, Delors» gegen den ehemaligen EG-Kommissionspräsidenten polemisiert.
Diese Hetzkampagne ist von den Brexit-Befürwortern im Vorfeld der von Cameron leichtfertig vom Zaune gebrochenen Brexit-Abstimmung konsequent und nahtlos fortgesetzt worden. So etwa mit dem Bild türkischer Horden von Sozialhilfe-Empfängern, welche nur darauf warten würden, über den Kanal in «merry Old England» einzumarschieren, wenn Grossbritannien in der EU bleibe. Völlig unbelastet von der Tatsache, dass die Türkei weder heute, noch mit grösster Wahrscheinlichkeit auch morgen je Mitglied des grenzenlosen europäischen Marktes und damit auch der Personenfreizügigkeit sein wird. Von den sorgfältig austarierten Bedingungen für eine Stellenannahme im Ausland durch EU-Bürger im Rahmen dieser 4. Binnenmarktfreiheit ganz zu schweigen.
Trendumkehr nach Mord an Jo Cox?
Die je nachdem subtil oder derb fremdenfeindlich ausfallende Kampagne der Brexit-Befürworter schien noch Anfang letzter Woche ihre Früchte zu tragen. Die «Leave»-Befürworter konnten sich immer mehr absetzen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass alle wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und historischen Gegebenheiten für den Verbleib des UK in der EU sprechen. Zu schweigen von einem Übergang von «Great» zu «Small Britain» im Falle eines Austritts, da Schottland, Wales und Nordirland mit grosser Mehrheit Nein stimmen werden und damit der Anfang zu einer möglichen Zersplitterung des Vereinigten Königreiches gemacht würde.
Eine solche Kampagne führt nicht notwendigerweise zu Gewalt. Aber gelegentlich und in verwirrten Köpfen eben doch. So geschah es offensichtlich beim «Britain first»-Fanatiker, der am vergangenen Donnerstag die Labour-Abgeordnete und konsequente Europa-Befürworterin Jo Cox ermordete. Seither halten sich das Verbleib- und das Austritts-Lager in den Meinungsumfragen die Waage. Offensichtlich ist eine Bruchstelle erreicht worden. Sowohl zwischen den beiden Parteien als auch innerhalb des heterogen Haufens der Brexit-Befürworter.
«Hate is not ok!» scheint auf der Insel als Botschaft angekommen zu sein. Eine Lehre, welche nicht nur für Grossbritannien gilt. Mit unverantwortlichen Scharfmacher-Plakaten wird auch anderenorts Politik gemacht.