Er wisse nur Eines mit Sicherheit, sagte am Sonntag ein politischer Experte am Fernsehen: Dass am 7. November, am Tag nach dem Urnengang, der Wahlkampf für den Einzug ins Weisse Haus im Jahr 2016 beginne. Worauf ein anderer Teilnehmer der Gesprächsrunde beifügte, er indes sei überzeugt, dass am Mittwochmorgen jene Hälfte der Nation, die den Verlierer gewählt habe, stinksauer sei.
Ein neues Stimmvolk wählen?
Umfragen zufolge scharen sich Afroamerikaner, Latinos, Frauen und Junge hinter Barack Obama, während Weisse, Männer, Senioren und College-Abgänger Mitt Romney bevorzugen.
„More oft he same“, zu diesem Schluss gelangte auch der konservative Kommentator George Will, der zumindest für den Fall eines Sieges von Barack Obama prophezeite, Washington werde sich nicht ändern und eine Wende zum Bessern sei weniger wahrscheinlich als je zuvor. Wills ironischer Lösungsvorschlag: „Wir müssen ein neues Stimmvolk wählen.“
Im Kongress - alles beim Alten?
Auf keinen Wechsel lassen auch Prognosen schliessen, die von stabilen Mehrheitsverhältnissen im Kongress ausgehen: Der Senat dürfte, allenfalls etwas knapper, in demokratischer Hand bleiben, das Abgeordnetenhaus, unter Umständen etwas schwächer, unter republikanischer Kontrolle.
Möglich wäre aber auch, Amerikas Wahlsystem zu ändern, das immer weniger repräsentativ ist. Hatten sich John F. Kennedy und Richard Nixon 1960 noch in praktisch allen 50 Bundesstaaten duelliert (Nixon trat in 50, Kennedy in 49 Staaten auf), so beschränkten sich Barack Obama und Mitt Romney 2012 mehr oder weniger auf jene neun oder zehn Schlüsselstaaten, welche die Wahl entscheiden dürften und wo es 110 von insgesamt 538 Elektorenstimmen zu holen gibt. Dabei halten es Experten nach wie vor für möglich, obzwar für wenig wahrscheinlich, dass der Urnengang am 6. November unentschieden endet, d.h. dass jeder Kandidat 269 Wahlmännerstimmen gewinnt.
Für und gegen Abschaffung des Elektorengremiums
In diesem Fall müsste das Repräsentantenhaus den Präsidenten und der Senat den Vizepräsidenten bestimmen, was angesichts der Kräfteverhältnisse auf dem Capitol wohl zur Folge hätte, dass sich der republikanische Präsident Mitt Romney mit dem demokratischen Vizepräsidenten Joe Biden arrangieren müsste – ein Szenario, das zum letzten Mal 1824 Wirklichkeit wurde und heute die Vorstellungskraft arg strapaziert.
Entsprechend lauter werden in den USA Forderungen, wonach das Elektorengremium, ein Erbe der amerikanischen Gründerväter, abzuschaffen und durch die Volkswahl des Präsidenten zu ersetzen sei. Was wiederum, entgegnen Befürworter des heutigen Systems, kleinere Staaten benachteiligen und dazu führen würde, dass die Kandidaten lediglich noch in bevölkerungsreichen Zentren wie Kalifornien, Texas oder Florida Wahlkampf führen würden.
Korrumpierende Spendenströme
In relativ wenige Schlüsselstaaten flossen denn auch nach wie vor Unsummen jenes Geldes, das die amerikanische Politik zunehmend korrumpiert, weil die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr wissen, wer zahlt und wer im Hintergrund die Fäden zieht. Das Ganze wird abgesegnet durch einen zweifelhaften Entscheid des Obersten Gerichts in Washington DC, das folgerte, Wahlkampfspenden, egal woher, seien eine Form öffentlicher Rede und dürften aufgrund des Ersten Verfassungszusatzes nicht beschränkt werden.
So haben denn Demokraten wie Republikaner um die zwei Milliarden Dollar ausgegeben, in erster Linie, um in den „swing states“ negative Fernsehspots ausstrahlen zu lassen, deren Heuchelei einen nach dem x. Sehen fast erschlägt: hier der inkompetente Verschwender und Sozialist Barack Obama, dort der skrupellose Wendehals und Kapitalist Mitt Romney; hier die weichen, vaterlandslosen Gesellen der demokratischen Partei, dort die harten, herzlosen Geldsäcke der Republikaner.
Angstmacherei als Wahlkampftaktik
Der Informationswert dieser Parteipropaganda tendiert gegen Null. Wobei es nicht darum geht, die Wählenden aufzuklären, sondern darum, sie zu alarmieren und an die Urnen zu bewegen, um drohendes Unheil abzuwenden. Nach wie vor zahlt es sich in der amerikanischen Politik aus, Furcht zu instrumentalisieren, ein Schachzug, den George W. Bush nach 9/11 zur Perfektion entwickelte und der den USA unter anderem zwei kostspielige Kriege im Irak und in Afghanistan bescherte.
Dazu passt schön der Werbespot für einen neuen Film, ein Re-make des unsäglichen Streifens „Red Dawn“, der seinerzeit schilderte, wie böse Invasoren aus der Sowjetunion über eine brave amerikanische Kleinstadt herfallen, von deren Schülern am Ende aber heldenhaft zurückgeschlagen werden. „Für sie ist das nur irgendein Ort“, sagt im TV-Spot eine Figur über die Eindringlinge. „Für uns aber ist es die Heimat.“
Gefragt wäre Authentizität
Der Angstmacherei der Politik widersprach am Wochenende in der populären Fernsehsendung „60 Minutes“ der populäre Historiker David McCullough, der die Biografien dreier amerikanischer Präsidenten verfasst hat. „Wir sind ein optimistisches Volk“, sagte McCullough, „und unser Land geht nicht vor die Hunde.“ Und wie müsste heute, fragte der CBS-Moderator, ein guter Präsident beschaffen sein? Er müsste sich selbst, seinen Prinzipien und Überzeugungen treu bleiben sowie unverblümt die Wahrheit sagen.
Authentizität, meinte der Historiker, würde die Nation überzeugen, so wie es seinerzeit Präsident Harry Truman (1948-1952) gelungen sei, wider alle Prognosen ins Weisse Haus einzuziehen. Auf Trumans Pult im Oval Office stand jenes legendäre Schild, das verkündete: „The buck stops here“ – der Präsident ist letztlich für alles verantwortlich, ob ihm das passt oder nicht.
David McCullough sprach auch von der „Magie der Geschichte“, jener geheimnisvollen Kraft, die es wiederzuerwecken gelte, sollen sich Amerikas Zukunftsaussichten wieder aufhellen.
Hektische Fahrpläne
Wenig Magie versprach jedoch der hektische Fahrplan, dem Barack Obama und Mitt Romney einen Tag vor der Wahl folgten. Der Präsident wollte in Wisconsin, Ohio, und zum Ende in Iowa Halt machen, um die Basis zu mobilisieren. In Iowa deswegen, weil dort, wie Obama sagte, 2008 mit seinem Sieg in der Vorwahl gegen Hillary Clinton „alles begonnen“ habe. Jene unglaubliche Reise, deren Weg die Hoffnung und deren Ziel der Wechsel war. Inzwischen ist beides irgendwo auf der Strecke geblieben, und Barack Obama bittet lediglich noch um mehr Zeit, um Begonnenes weiterzuführen oder zu beenden.
Mitt Romney indes plante, am Montag in Florida, Ohio, Virginia und New Hampshire aufzutreten, um seine Botschaft eines Neubeginns zu verkünden. „Wir sind nur noch zwei Tage davon entfernt, einen neuen Weg einzuschlagen, einen frischen Start zu wagen“, hatte er am Wochenende in Des Moines (Iowa) in seiner ihm eigentümlichen Rhetorik erklärt, ein Heiler, welcher der Nation strahlenden Blicks Wohlfühlpillen verabreicht und das Geld aus der Tasche zieht.
Ex-Generäle für noch mehr Militärausgaben
Die Pillen scheinen zu wirken. Mehr als 500 frühere Generäle und Admiräle der US-Streitkräfte haben in einem Zeitungsinserat den Herausforderer ihrer Unterstützung versichert, der das Budget des Pentagon kräftig anheben will, um Amerikas Einmaligkeit und Stärke in der Welt zu gewährleisten. Als wäre im Zeitalter des Internet und der sozialen Medien „soft power“ inzwischen nicht mächtiger als „hard power“, die aus den Läufen der Gewehre kommt.
Wer hat das bessere "ground game"?
Wenn sich alle Experten unterschiedlicher Couleur in Einem einig sind, dann in der Prognose, dass am Wahltag die Stimmbeteiligung darüber entscheiden wird, wer Amerikas nächster Präsident wird. Allgemein heisst es, die Demokraten hätten das bessere „ground game“, ein Begriff, der dem American Football entlehnt ist und dort für das Vorrücken mit dem Ball auf dem Rasen dank roher Gewalt und nicht dank eleganter Pässe in der Luft steht. „Air war“, Luftkrieg, heisst dagegen der Wahlkampf am Fernsehen.
Jedenfalls hat die demokratische Partei in den einzelnen Staaten mehr in Wahlkampforganisationen investiert als die Republikaner. Ob sich die Dutzenden von Millionen Dollar auszahlen, wird sich weisen. Die „Financial Times“ meldet, laut Barack Obamas Wahlkampfleitung hätten Freiwillige bisher „125‘646‘479 persönliche Telefonanrufe oder Hausbesuche“ gemacht, d.h. mehr als jeden dritten Amerikaner kontaktiert.