Mehr denn je steht das Thema der Überwachung im Brennpunkt. Und mehr denn je scheint es, dass der Rechtsstaat seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Dilemma zumutet: Unverdächtig ist, wer sich datifizieren lässt; und wer sich nicht datifizieren lässt, ist a priori verdächtig. Man muss nicht nur die Terrorgefahr, sondern genereller den Hintergrund des Datenverkehrs bedenken. Dann beobachtet man das Verwischen von Grenzen, die für das Fortbestehen einer liberalen demokratischen Gesellschaft vital sind.
Im Infotop
In den USA gibt es das „Information Sharing Environment“ (ISE), eine Initiative, welche sogenannte lokale „Fusionszentren“ des Datensammelns im ganzen Land verteilen will: eine Umwelt des Informationsaustauschs, ein Infotop. Die Initiative muss als geschickter Schachzug der Grenzverwischung zwischen regulierten und deregulierten Aktivitäten betrachtet werden. Während Privatunternehmen ihre Datenakkumulation hinter dem Geschäftsgeheimnis verbergen können, steht die Regierung unter dem öffentlichen Auge des Gesetzes und der Verfassung.
Durch die „Fusion“ erweitert sie ihren Zugriff auf die Black Boxes der Privatfirmen, so wie sie als Gegenleistung gewissen Tätigkeiten dieser Firmen einen quasi-öffentlichen Anstrich verleiht. Das Logistik-Unternehmen FedEx zum Beispiel kooperiert mit der US-Regierung und geniesst im Gegenzug gewisse Privilegien und Immunitäten staatlicher Institutionen. Die Fusionszentren entwickeln sich zu Attraktoren im digitalen Universum: Sie ziehen die Datenströme aus öffentlichen und privaten Datenbanken an, von Strafvollzugsbehörden, Spitälern, Steuerbehörden, Kreditinstituten, Reisebüros, Onlineshops, aus Besitzverzeichnissen, Einwandererdossiers, Autovermietungen, Postzustellungen, Gas- und Heizungsabrechnungen, Hotelreservationen, Casinobesuchen. Motto: je mehr, desto besser.
Grenzverwischung zwischen „nachweislich“ und „vermutlich“
Brüssel hat auch im europäischen Raum den Ruf nach solchen Sammelstellen verstärkt. Der EU-Kommissar für Migration Dimitris Avramopoulos forderte die Bildung eines gesamteuropäischen Nachrichtendienstes à la FBI: ein EBI sozusagen. In Forschungsprojekten wird schon seit einiger Zeit an einschlägigen Technologien gearbeitet. Wie gesagt, ist das durchaus plausibel. Aber man sollte sich unbedingt mit der impliziten Logik solcher Massnahmen näher beschäftigen.
Das heisst, es gibt immer mehr Datenbanken des Verdachts. Die Grenze zwischen „nachweislich“ und „vermutlich“ verwischt sich. Nehmen wir folgendes halbfiktive Beispiel: In einer Stadt stellt man Waffenbesitz signifikant häufiger im muslimischen als in anderen Milieus fest. Nun erweist sich bei genauerer Analyse, dass man unter „muslimischem Milieu“ einen Eintopf versteht, in den man nicht nur Muslime mit nachgewiesenem Waffenbesitz, sondern alle des Waffenbesitzes verdächtigten Muslime wirft. Wenn es nun mehr Datenbanken des Verdachts gibt, gibt es auch mehr derartig verdächtige Personen. Im Vergleich mit anderen Milieus schneidet daher der so homogenisierte Muslim-Eintopf unverhältnismässig schlecht ab. Eine Gefahr lauert darin, dass man in „fusionierten“ Daten-Eintöpfen Leute zusammenmischt, die eine differenzierte Analyse verdienen würden (die Statistiker sprechen hier von einer „Inhomogenitätskorrelation“).
Je mehr riesige Datensilos zur Verfügung stehen, desto grösser die Möglichkeit der beliebigen Datengruppierung. Das tun heute vermehrt Algorithmen. Wer aber stellt fest, welche Gruppierungen zulässig und welche unzulässig sind? Man beachte, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, dass das französische „Anti-Terror-Gesetz“ nicht von Terrorismus spricht, sondern von „Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“. Darunter kann auch das Biobauernpaar fallen, das eine Mautstelle blockierte, um gegen ein Flughafenprojekt zu protestieren. „Alles Terroristen!?“
Grenzverwischung zwischen Militärischem und Zivilem
Generell erodieren im Infotop die Grenzen zwischen Militärischem und Zivilem. Die Agentur Reuters berichtete 2013 über eine ungewöhnliche Transaktion zwischen dem amerikanischen Verteidigungs-, Justiz- und Finanzministerium. Die Bundessteuerbehörde (Finanzministerium) hatte gewisse verdächtige „dicke Fische“ der Steuerhinterziehung im Visier. Sie benötigte dazu rechtserhebliche Evidenz. Diese wurde ihr von der Drogenvollzugsbehörde (DEA, Justizministerium) geliefert, und zwar über eine ihrer Spezialeinheiten, der „Special Operations Division“ (SOD): eine Bespitzelungsabteilung, die auch mit der Nationalen Sicherheitsbehörde (NSA, Verteidigungsministerium) kollaboriert.
Die Datenbeschaffung („acquisition“) auf rechtlich dubiosen Wegen erfolgte in einem Kartell der Verschwiegenheit. Jedenfalls, argumentieren Juristen, sind Daten der nationalen Sicherheit nicht dazu gedacht, für Zwecke des Strafvollzugs gebraucht bzw. missbraucht zu werden. Die Harvard-Juraprofessorin und Ex-Bundesrichterin Nancy Gertner redete Klartext: „Es sieht so aus, als würden die NSA und die DEA gewisse Ermittlungen zusammenschwindeln.“
Genau das trifft den neuralgischen Punkt: Die Steuerbehörde „akquieriert“ klandestin Informationen vom Militär und von der Justiz und fabriziert aus diesem geheimen Fundus sozusagen gerichtsfertige Evidenz. „Parallelkonstruktion“ nennt sich das kollusive Manöver im Jargon. Was geschehen ist und was man als geschehen konstruiert – „zusammenschwindelt“ – , ist tendenziell einerlei.
Grenzverwischung zwischen Nachrichtendienst und Ermittlung
Man muss diese Tendenz aus einer etwas abstrakteren Warte betrachten, um sich den beunruhigenden Horizont der invasiven Überwachung zu vergegenwärtigen, den sie eröffnet. In diesem Horizont fällt auch eine Grenze, die auf Anhieb nebensächlich erscheint: der Unterschied zwischen Nachrichtendienst („intelligence“) und Ermittlung („investigation“). Ermittlung ist retrozipierend, eine Nachforschung: sie untersucht einen Fall, nachdem er geschehen ist. Nachrichtendienst ist antizipierend, eine „Vorforschung“: er untersucht einen Fall, bevor er geschehen ist.
Ursprünglich war der Nachrichtendienst beschränkt auf die Spionage im Ausland: Informationsbeschaffung über potenzielle feindliche Bewegungen. Tatsächlich aber verschmelzen die Tätigkeiten seit längerem schon. Nachrichtendienst findet im Inland statt, da der Feind sich längst nicht mehr nur „draussen“ herumtreibt. Und man sucht ihn zu antizipieren, indem man ihn möglichst früh, das heisst bereits anhand seines Alltagsverhaltens „datenfest“ macht. Wie das General Keith Alexander, dem Ex-Chef der NSA, zugeschriebene Bonmot lautet: „Collect it all!“ Anders gesagt: Fast jede Person ist potenzielles Zielobjekt, weil heute fast jede Person ein Datenprofil aufweist, aus dem man „vorsorglich“ gewisse Verhaltensweisen prognostizieren kann. Man mache den Heuhaufen nur gross genug, und man findet eine Nadel – oder fingiert sie.
Grenzverwischung zwischen Dissens und Delikt
Infotope stellen aufs Ganze gesehen also einen Möglichkeitsraum dar, in dem das Potenzielle tendenziell ebenso viel Gewicht erhält wie das Aktuelle. Eine mögliche Bedrohung wird wie eine wirkliche Bedrohung behandelt, ein mögliches persönliches Profil so, als wäre es eine wirkliche Person. Und auf diese Weise wird auch die „herrschende Lage“ definiert.
Damit verwischt man einen weiteren, für den liberalen Staat vitalen Unterschied: jenen zwischen Dissens und Delikt. Gewisse grenzwertige Politiker, zum Beispiel der türkische Staatschef, scheinen jeglichen Dissens als Delikt zu betrachten. Und der ehemalige FBI-Direktor Robert Mueller befürwortete die Aufhebung einer solchen Grenze bereits im Jahre 2006: „Zwischen jenen, die Dissens äussern, und jenen, die eine terroristische Tat begehen, existiert ein Kontinuum. Irgendwo in diesem Kontinuum müssen wir mit unseren Nachforschungen beginnen. Tun wir das nicht, dann tun wir unseren Job nicht.“
Auf der Hut vor den Hütern
Mag sein, aber man muss sich klar machen, dass ein solches professionelles Verständnis die Verfügungsgewalt staatlicher Organe legitimiert, „vorsorglich“ eine kritische Haltung als Terror zu klassifizieren. Wer verschiebt die Punkte im Kontinuum, und aus welchen Gründen? Verschiebt sich der Schutz des Bürgers unter dem Axiom des Verdachts „kontinuierlich“ in seine Ausspähung?
Im Übrigen ist gerade das viel vorgetragene Argument, durch Überwachungsmassnahmen seien schon etliche Terrorakte verhindert worden, ziemlich schwach auf der Brust. General Keith Alexander brüstete sich 2013 vor dem US-Kongress, das Programm Prisma habe über 50 Terrorakte vereitelt. Die Behauptung hielt einer genaueren Analyse nicht stand. Das ist die Dialektik: Sicherheit ist gut, aber nicht, wenn sie von einem manischen Verdacht diktiert wird. Ungestüme Fichierer sind uns auch aus der jüngeren Geschichte der Schweiz sattsam bekannt. Tatsächlich ist der schlimmste Feind der Demokratie und der offenen Gesellschaft der Furor ihrer selbsternannten Hüter.
https://www.theguardian.com/technology/2017/mar/11/tim-berners-lee-web-inventor-save-internet