Was ist das für ein Tohuwabohu in Berlin? Verdient die rot-grün-gelbe Koalition überhaupt noch die Bezeichnung «Regierung»? Oder nähert sich das, was täglich einem immer fassungsloser werdenden Publikum vorgeführt wird, nicht längst einem Stück aus dem Kaspertheater?
Um das sich von der Spree aus flächendeckend verbreiternde Gezänk in seinen Auswirkungen richtig einzuordnen – hier geht es nicht um das von Parteifarben bestimmte Erproben irgendwelcher polit-philosophischen Ideologie-Theorien in ruhigen, wirtschaftlich-prosperierenden Zeiten. Sondern es geht um das Wohlergehen (bzw. das Gegenteil dessen) einer Mittelmacht namens Deutschland mit rund 80 Millionen Einwohnern in Zentraleuropa. Und es geht damit auch, logischerweise, um dessen Auswirkungen auf das Geschehen in praktisch allen Staaten des «alten» Kontinents. Dies zumal in einer Zeit, in der tatsächlich Kriege – sozusagen nach gusto – wieder vom Zaun gebrochen, international bindende Verträge mit einer einfachen Handbewegung vom Tisch gefegt werden, in der moralische und humanitäre Werte rapide an Wert verlieren, in der die massenhafte Verbreitung von Hass und Gewalt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Solidarität gefährdet und blosse, «allein richtige» Überzeugungen immer häufiger sogar eigentlich unumstössliche Fakten überlagern. Kurz: in einer Zeit, die aus den Angeln geraten zu sein scheint.
Ein unwürdiges Schauspiel
In einer Zeit also, in der eine starke, den Bürgern Vertrauen einflössende Regierung mit überzeugenden Führungspersönlichkeiten so nötig wäre wie selten sonst. Aber ausgerechnet jetzt ziehen in Berlin die durch einen Regierungsauftrag miteinander verketteten «Ampel»-Parteien SPD, Grüne und FDP ein Schauspiel ab, als drehe sich die ganze Welt ausschliesslich um sie allein. Natürlich war diese Parteien-Trikolore von Anfang an keine Liebesheirat, sondern nach der Bundestagswahl 2021 praktisch allein dem Willen geschuldet, der CDU/CSU als zahlenmässigem Wahlgewinner den Wiedereinzug ins Kanzleramt zu vermasseln. Und selbstverständlich mussten, vor diesem Hintergrund, von vornherein Reibungsverluste einkalkuliert werden, zumal zahlreiche wichtige Polit-Positionen der einzelnen Partner schwer bis gar nicht vereinbar erschienen.
Richtig (und wichtig) ist freilich auch, dass sich praktisch zeitgleich mit Übernahme der Regierungsverantwortung nahezu sämtliche inneren und äusseren Rahmenbedingungen für jegliches politische Handeln dramatisch veränderten. Mit anderen Worten: Nicht jede Kritik an «denen da oben» ist berechtigt. Putins ruchloser Überfall auf die Ukraine kann in Tat und Wahrheit der Ampel ebenso wenig angelastet werden wie der am 7. Oktober 2023 durch den unvorstellbar brutalen Terrorakt der palästinensischen Hamas auf friedliche israelische Zivilisten ausgelöste und seither mit gnadenloser Vergeltung geführte Krieg im Gazastreifen. Trotzdem, diese Bundesregierung hat – vom Bundeskanzler bis zum letzten Minister oder zur letzten Ministerin – einen Amtseid abgelegt. Sie haben sämtlich geschworen, alles zu tun, um Schaden vom deutschen Volk abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren.
Nun ist es, zugegeben, gegenwärtig nicht leicht, dieser Pflicht in vollem Umfang nachzukommen. Zumal sich (nochmal sei daran erinnert) die bestimmenden Faktoren aussen- wie innenpolitisch radikal verändert haben, seit Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) mit ihren jeweiligen Gefolgschaften das Gestaltungszepter in die Hand nahmen. Das ursprünglich euphorisch als «Fortschrittskoalition» gestartete Parteien-Trio musste – gezwungenermassen – binnen kurzem auf Krisenmodus umschalten.
Leichtfertig verspieltes Vertrauen
Alles unbestritten. Dennoch verschlägt es dem Beobachter stets von Neuem den Atem, wenn er sieht, wie leichtfertig – ja, geradezu mutwillig – die Ampelträger mit dem Vertrauen der Bürger umgehen, es (gefühlt) durch Nichtstun verspielen. Am Abend der bayerischen und hessischen Landtagswahlen im vorigen Frühherbst haben die hohen Wahlergebnisse der rechtsradikalen bis rechtsextremen «Alternative für Deutschland» aller Welt diesseits und jenseits der deutschen Grenzen eine lange Zeit nicht mehr für möglich gehaltene gesellschaftliche Tendenz aufgezeigt. Eine Entwicklung, die seither auch durch die Meinungsumfragen aller Institute bestätigt wird: Das nach dem Krieg von Generationen wiederholt abgelegte Zwei-Worte-Versprechen «Nie wieder!» hat offensichtlich seine Gültigkeit verloren.
Wie wäre es sonst möglich, dass mit der AfD eine politische Sammlung einen so starken Zulauf erfährt, die praktisch alles in sich bündelt, was Radikalismus und Extremismus mit sich führen? Zum Beispiel übersteigerten Nationalismus und daraus erwachsende Fremdenfeindlichkeit und neuer Antisemitismus. Zum Beispiel Anti-Europa-Parolen und damit Attacken auf die grösste Leistung, die dieser von sinnlosen Kriegen gebeutelte Kontinent je zustande gebracht hat. Mit Angriffen auf die Demokratie insgesamt mit ihren freiheitlich-liberalen Werten und stattdessen Hinwendung zu Autokraten und Diktaturen.
Minderheiten gegen Sicherheitspolitik
Solchen Entwicklungen durch eigene, politisch überzeugende Massnahmen zu konterkarieren und damit die AfD und ähnliche mittlerweile zwischen Rhein und Oder auftretende Irrlichter zu entzaubern – das wäre die verdammte Pflicht und Schuldigkeit von Scholz, Habeck, Lindner und Co. Natürlich ist der Schutz gesellschaftlicher Minderheiten und Randgruppen wichtig und aller Ehren wert. Aber dass die sexuelle Selbstbestimmung einiger weniger Individuen Vorrang haben soll vor der (endlich beginnenden) Neubesinnung der bürgerlichen Majorität auf die Notwendigkeit einer wehrhaften Aussen- und Sicherheitspolitik – das erschliesst sich einem Anhänger des politischen Realismus nur schwer. Ähnliches gilt für die partielle Freigabe des Anbaus von Cannabis im Vergleich mit der krisenhaften Entwicklung im Gesundheitswesen.
Ganz zu schweigen von einer dringend notwendigen (ja, eigentlich längst überfälligen) Neuausrichtung der Einwanderungspolitik. Der Satz des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck gehört eigentlich in Granit gemeisselt: «Unsere Herzen sind weit, aber unseren Möglichkeiten begrenzt.» Wer die Augen nicht mutwillig verschliesst, erkennt doch an der Situation und mithin natürlich auch der zunehmend aggressiven Stimmung in vielen Kommunen, dass diese längst total überfordert und am Ende sind. Die Kindergärten sind überfüllt, genau wie die Schulen. Es gibt nicht genügend Deutsch-Unterricht, der Leistungspegel der Klassen sinkt dramatisch. Ganz zu schweigen von der zunehmenden Radikalisierung vor allem islamischer Schüler und Jugendlicher auf den Schulhöfen. Gar keine Frage – die zunehmend überalternde deutsche Gesellschaft braucht auch in Zukunft qualifizierte Zuwanderung. Aber, diese muss gesteuert und darf nicht weiterhin durch hohe Sozialleistungen befeuert werden.
Will die FDP wieder mal raus?
All dies (und noch viel mehr) endlich energisch in Angriff zu nehmen, wäre wirklich des Schweisses der Edlen wert. Stattdessen ähnelt der Lärm aus den Berliner Koalitionszentralen eher dem Geschrei aus Kindergärten. Natürlich setzen politische Prozesse Diskurse und Dispute, manchmal auch Streit und mitunter Krach voraus. Aber diese – selbstverständlich auftretenden – Meinungs- und Überzeugungs-Unterschiede öffentlich auszutragen, um damit angeblich das «eigene Profil» herauszuheben, ist schlichtweg absurd. Es interessiert keinen und nützt auch niemandem – ausser den Feinden unserer Verfassung. Die Bürger wollen Ergebnisse. Und sie haben auch ein Anrecht darauf.
Soeben haben es die Liberalen wieder einmal geschafft, das Scheinwerferlicht auf sich zu lenken. Denn, letztendlich, steht die Frage im Raum: Will (besser: wird) die FDP aus der Ampel-Koalition ausscheren, falls sich Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner nicht gegen Robert Habeck, seinen grünen Kollegen aus dem Wirtschaftsressort, und grosse Teile der SPD-Fraktion durchzusetzen vermag? Es geht darum, der kränkelnden Wirtschaft auf die Beine zu helfen. Aber womit? Über Steuererleichterungen und radikalen Bürokratie-Abbau (Lindner)? Oder mit finanziellen Direkt-Zuwendungen an die Wirtschaft, was aber die Aufnahme weiterer Schulden voraussetzte (Habeck)? Darüber kann durchaus diskutiert werden. Was aber hat wohl den FDP-Bundesgeschäftsführer Bijan Djir-Seral geritten, als er vor wenigen Tagen an durchaus prominenter Stelle die oppositionelle CDU/CSU als den eigentlichen Verbündeten der Liberalen bezeichnete?
Ein Spiel mit dem Feuer
1983 hatte es schon einmal einen Schwenk der Freien Demokraten von der SPD zur Union gegeben. Das hat Djir-Seral gestaltend wohl kaum miterlebt. Es war das Ende der mit den Namen Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher verbundenen sozialliberalen Koalition und der Beginn der dann 16 Jahre währenden Ära Helmut Kohl. Der seinerzeitige Schritt der FDP hatte zuvorderst finanzpolitische Gründe. Allerdings waren die Gemeinsamkeiten mit den Sozialdemokraten ohnehin erkennbar aufgebraucht. Das Manöver der FDP glich damals einem waghalsigen Ritt über den Bodensee und hatte auch eine Spaltung der Partei zur Folge. Es ging bei der anschliessenden, vorgezogenen Bundestags-Neuwahl gerade so eben gut aus für die FDP. Aber die damalige Zeit ist mit der heutigen in keiner Weise vergleichbar. Seinerzeit, in einem Drei-Parteien-System, konnte die FDP noch als Königsmacher auftreten. Unter den zersplitterten Verhältnissen heutzutage (nicht zuletzt auch wegen des noch immer ungebremsten Zulaufs zu den neuen Nazis) gilt das nicht mehr.
Es ist also ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, das die Liberalen im Moment spielen. Und bislang ist – bemerkenswert – noch kein Parteimitglied von Rang dem Bundesgeschäftsführer in die Parade gefahren. Andererseits – wahrscheinlich wäre eine solche Aktion Djir-Serals gar nicht möglich gewesen, wenn Olaf Scholz, der Mann an der Spitze, eine überzeugendere Rolle spielen würde. Nicht unbedingt mit lautem Gepolter oder ständigem Auf-den-Tisch-Hauen. Erfolgreiche Koalitionen verliefen meistens eher im Stillen, nicht selten besser bei einem Glas Wein als vor Kameras und Mikrofonen. Wer Führung wolle, werde Führung bekommen, hatte Scholz einst getönt. Auf die Einlösung des Versprechens wartet die Nation bis heute.
Wenn das ein Spiel sein sollte, so zeichnet sich zumindest kein Gewinner ab. Nimmt man nämlich die jüngsten Zahlen der Allensbacher Meinungsforscher zur Hand, so würde (aktueller Stand) die Ampel gegenwärtig keine Mehrheit bei Bundestagswahlen bekommen. SPD 18 Prozent, Grüne 14 Prozebt, FDP 6 Prozent. Macht zusammen 38 Prozent, also weit weg von einer absoluten Mehrheit. CDU und CSU erreichen in der neuesten Wählergunst immerhin 32 Prozent; ohne Union ginge demnach gar nichts. Vielmehr könnte sie im Bündnis mit den Sozialdemokraten oder selbst mit den Grünen die Rechtsaussen von der AfD (18 Prozent) in Schach halten. Mit der FDP ginge das nicht.
Das, freilich sind müssige Zahlenspielchen. Sie führen nicht an der Tatsache vorbei, dass die Ampel in der Pflicht ist, endlich tätig zu werden. Sollte sich allerdings nichts (fundamental) ändern und weiterhin das lautstarke Gegeneinander dem leiseren (aber vermutlich erfolgreicheren) Miteinander vorgezogen werden – dann freilich sollte dem Berliner Ampel-Spuk so schnell wie möglich ein Ende bereitet werden. Wie ein Konstruktives Misstrauensvotum funktioniert, ist wohl allgemein bekannt. Denn: Ein Ende mit Schrecken ist bekanntlich allemal besser als ein Schrecken ohne Ende …