Es ist ein typisches Ritual der Xhosa-Kultur, wenn ein Familienmitglied dem Tod nahe steht: Am Dienstag trafen Nelson Mandelas Kinder und Enkelkinder in dem Ort seiner Kindheit, Qunu, zusammen, wo sie das Familiengrab aufsuchten. Bei den Ahnen, so die Legende, habe die Familie entweder für eine warme Aufnahme des Sterbenden gebeten, oder appelliert, dem Kranken noch mehr Zeit zu schenken.
Südafrika vor einer Zäsur
Südafrika bangt in diesen Tagen um den Vater der Nation, der vor mehr als zwei Wochen in ein Krankenhaus in der Hauptstadt Pretoria eingeliefert wurde. Der Aufenthalt ist bereits sein vierter innerhalb eines halben Jahres, doch seit Sonntag scheint es um den 94-Jährigen besonders schlecht zu stehen. Nach einem Besuch am Krankenbett meinte Präsident Jacob Zuma, um Mandela stehe es kritisch.
In den letzten vier Tagen versammelte sich eine immer grössere Menge vor dem Militärkrankenhaus, in dem Mandela gegen eine wiederkehrende Lungeninfektion kämpft. Neben Journalisten aus aller Welt hielten auch Südafrikaner von gestern auf heute eine Nachtwache mit Kerzen ab. Verweint klagte ein 10-Jähriger auf Radio 2000 heute: «Er muss wieder gesund werden. Mandela ist mein Held.» Unterdessen mehren sich auch die Besucher. Unter diesen befand sich neben Ministern, Familienmitgliedern und Geistlichen auch Mandelas Exfrau Winnie Madikizela-Mandela.
Mehr als sechzig Jahre hatte Mandela gegen das weisse Minderheitsregime gekämpft, ehe er 1994 Südafrikas erster demokratisch gewählter Präsident wurde. Nach knapp drei Dekaden politischer Haft dürstete es ihn jedoch nicht nach Rache, sondern Versöhnung. Er gründete die Wahrheits- und Versöhnungskommission, welche reuige Apartheid-Verbrecher begnadigte. Für die Verbrüderung von Schwarz und Weiss sowie die Schaffung einer Demokratie erhielt er den Friedensnobelpreis.
Bleibt der ANC bei Mandelas Vermächtnis?
Bis heute gilt Mandela als moralische Bastion im Land am Kap. Während Südafrikaner an ihrem Helden festhalten, bleibt unklar, wie sich dessen Tod auf die politische Landschaft auswirken wird. Schon länger gilt der African National Congress (ANC) nicht mehr als dieselbe Partei, mit der Mandela das Land in die Freiheit führte. Weitreichende Korruption und die Spaltung in verschiedene Lager rückten die ehemalige Freiheitsbewegung in ein schlechtes Licht.
Während die einen auf einen Zerfall der Partei spekulieren, denken andere, Mandelas Tod werde die radikalen Individuen im ANC auferstehen lassen: Funktionäre, laut denen Mandela zu viele Zugeständnisse an Weisse machte. In London versuchte Planungsminister Trevor Manuel zu Beginn der Woche die internationalen Investoren zu beruhigen: Der ANC werde Mandelas ideelles Erbe fortführen und an einem besseren Südafrika arbeiten.