In den USA hat die Stimmabgabe längst begonnen. Bis Freitag hatten bereits 25 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner gewählt, und Schätzungen zufolge werden bis zu 40 Prozent der 135 Millionen Stimmberechtigten bis Dienstag ihre Wahl getroffen haben. Dem Vernehmen nach haben Frühwähler mehrheitlich für Barack Obama gestimmt, in zwei, drei Schlüsselstaaten angeblich so überwiegend, dass Mitt Romney am Wahltag selbst gegen 60 Prozent der Stimmen machen müsste, um noch zu gewinnen.
Das hat den republikanischen Herausforderer jedoch nicht daran gehindert auf ABC News auf die Frage der Moderatorin Diana Sawyer, was für eine Botschaft er für den Präsidenten habe, flapsig zu antworten: „Start packing.“
Akt der Willkür in Florida
Und bereits hat es auch in jenem Staat erneut Probleme gegeben, der im Jahr 2000 beim Rennen zwischen Al Gore und George W. Bush Wahl entscheidend war: in Florida. Dessen republikanischer Gouverneur Rick Scott hat eigenmächtig entschieden, die Zeit zu halbieren, die Frühwählern für die Stimmabgabe zur Verfügung steht – im Wissen darum, dass Frühwähler mehrheitlich Barack Obama bevorzugen. Dieser Akt der Willkür hat dazu geführt, sich in Florida unter der Woche vor einzelnen Wahllokalen lange Schlangen bildeten und Wähler bis zu fünf Stunden lang warten mussten.
Gleichzeitig haben sich Verantwortliche in einzelnen Wahldistrikten des Staates übermässig viel Zeit gelassen, um angeforderte Briefstimmen zu verschicken, die jeweils bis zum Wahltag returniert sein müssen. In einigen Fällen sind Stimmen noch nicht spediert worden, die vor einem Monat angefordert wurden. Erneut ist in Florida erneut von einem „Wahldebakel“ die Rede. Von einer „Bananenrepublik“ wie vor acht Jahren mag allerdings noch niemand sprechen. Seinerzeit hatten sich ausländische Diktatoren zynisch bereit erklärt, für die Nachzählung der Stimmen Wahlbeobachter in die USA zu entsenden.
Wunschdenken?
Indes streiten sich die am Fernsehen omnipräsenten Experten, wie viel von Mitt Romneys demonstrativem Selbstbewusstsein auf Fakten und wie viel auf Wunschdenken basiert. Denn jede Partei macht vor der Wahl eigene Wählerumfragen und die Ergebnisse dieser Befragungen weichen mitunter merklich von den Resultaten „neutraler“ Umfragen ab.
Als Indiz, dass es um den Republikaner schlechter bestellt sei, als er wahrhaben wolle, wertete eine TV-Kommentatorin auf MSNBC den Umstand, dass bereits Berichte zirkulierten, die wissen wollten, was Romneys Vizepräsidentschaftskandidat Paul Ryan im Falle einer Niederlage künftig zu tun gedenke. Jener Paul Ryan, der bei einem Wahlkampfauftritt unlängst über Obamas Politik gesagt hat: „Wir wissen, wie dieser Film endet: Wie in Europa.“
Tausende Anwälte stehen bereit
Während nur wenige Beobachter am 6. November mit einem unentschiedenen Wahlausgang, d.h. mit einem Gleichstand der Elektorenstimmen (269:269) rechnen, halten es mehrere für möglich, dass der Wahlausgang juristisch angefochten werden wird – wie 2000, als am Schluss das Oberste Gericht der USA in einem bis heute umstrittenen Entscheid George W. Bush aufgrund eines Vorsprungs von wenigen Hundert Stimmen zum Sieger in Florida und damit zum Gewinner der Präsidentenwahl kürte. Der „New York Times“ zufolge stehen in erster Linie in Schlüsselstaaten wie Florida, Ohio, Pennsylvania, Virginia oder Wisconsin Tausende von Anwälten bereit, um am Dienstag als Wahlbeobachter zu fungieren und bei allfälligen Unregelmässigkeiten umgehend zu intervenieren.
In Ohio zum Beispiel warten 2500 Anwälte der demokratischen Partei darauf, ihre Schiedsrichterrolle zu spielen, wovon 600 allein im Cuyahoga County in Cleveland, einem Distrikt, dessen Stimmen für den Wahlausgang im Staat und damit landesweit entscheidend sein könnten. Die Republikaner dagegen haben am selben Ort lediglich 60 Anwälte aufgeboten und verlassen sich noch auf freiwïllige Wahlbeobachter in den Stimmlokalen.
Die USA, ein Vorbild in Sachen Demokratie?
Beide Seiten befürchten, die jeweils andere Partei könnte versuchen, die Wahlen zu sabotieren, zum Beispiel durch die Verbreitung von Falschmeldungen, was die Standorte von Urnen oder die Öffnungszeiten von Wahllokalen betrifft. Umstritten ist etwa die Frage, ob Wahllokale zu den angegeben Zeiten schliessen dürfen, auch wenn noch etliche Wähler in Schlangen darauf warten, ihre Stimme abzugeben.
Klärungsbedürftig dürfte mancherorts auch sein, welche Art von persönlichem Ausweis Stimmende an der Urne vorzeigen müssen. Ausserdem dürfen etliche Amerikanerinnen und Amerikaner nur provisorisch stimmen, etwa dann, falls ihre Heimadresse nicht mit jener der Wahlliste übereinstimmt, oder sie sich nur ungenügend ausweisen können. In Ohio sind vor vier Jahren 200 000 provisorische Stimmen abgegeben worden, wovon die Zuständigen später 80 Prozent für gültig erklärten.
Da in den USA die einzelnen Staaten für die Ausrichtung von Wahlen verantwortlich sind, haben etliche republikanische Gouverneure auf dem Rechtsweg versucht, die Stimmabgabe zu erschweren. Eine hohe Stimmbeteiligung nützt erfahrungsgemäss den Demokraten, eine tiefe den Republikanern. Zwar sind die meisten Gouverneure mit ihren Ansinnen vor Gericht abgeblitzt, was sie aber, siehe Florida, nicht daran hindern dürfte, die Stimmabgabe auf legalem Weg zu erschweren – ein Umstand, der dem Anspruch der USA, in Sachen Demokratie weltweit ein Vorbild zu sein, Lügen straft.
"Privatisierung" der Wahlen per Computer
Wobei aber, wie die Vergangenheit zeigt, auch die demokratische Partei vor Versuchen des Wahlbetrugs nicht gefeit ist. In Ohio sollen Demokraten etwa einzelne Wahlhelfer dafür bezahlt haben, dass es ihnen gelungen war, mehrere Leute dazu zu bringen, sich registrieren zu lassen.
Unvergessen sind auch die mächtigen demokratischen „Parteimaschinen“, die wie zum Beispiel jene in Chicago unter Bürgermeister Daley Sr. die Leute mit einer Mischung aus Hilfsbereitschaft und Drohgebärde zu den Urnen karrte. „Vote early, vote often“, hiess einst eine Devise: Wähle früh und wähle mehrmals! Derweil existiert in den USA in Sachen Wahlbetrug nach wie vor ein grundsätzliches Problem, das viele Leute nach den Vorkommnissen in Florida und entsprechender Gesetzgebung („Help America Vote Act“) inzwischen für gelöst halten.
Laut einem Artikel von Victoria Collier in „Harper’s Magazine“ besteht das Problem darin, dass heute Computer die Stimmen zählen und die Auszählung an jene Privatunternehmen ausgelagert worden ist, die diese Rechner herstellen: „Diese Privatisierung unserer Wahlen ist ohne Wissen oder Zustimmung der Öffentlichkeit erfolgt und hat eine der gefährlichsten und am wenigsten verstandenen Krisen in der Geschichte der amerikanischen Demokratie zur Folge. Wir haben faktisch die Fähigkeit verloren, Wahlresultate zu verifizieren.“
"Die Wahlen können gestohlen werden"
Am 6. November, so Collier, sei nur Eines unwiderlegbar: „ Amerikas Wähler werden nicht mit Sicherheit wissen können, wer ein einzelnes Rennen, vom Hundefänger bis zum Präsidenten, gewonnen hat. Auch die wahren Resultate von Initiativen und Referenden, die einige der dringlichsten Probleme unserer Tage (…) betreffen, werden sie nicht kennen. Unsere auf Glauben gestützten Wahlen sind das Ergebnis eines neues Dunkeln Zeitalters der amerikanischen Demokratie, eines Zeitalters, das uns paradoxerweise der technische Fortschritt beschert hat.“ Wäre Amerika ein fremder Staat, gibt ein früherer Wahloffizieller in Washington DC zu bedenken, und würde dieses Land von den USA analysiert, sie kämen zum Schluss, dass diese Nation reif sei für Wahlfälschung und Wahlbetrug.
Und was sagen Amerikas angeblich so unerschrockene Medien zum Thema? Autor Jonathan Simon wirft der nationalen Presse vor, dazu eine Mafia-ähnliche „omerta“ zu praktizieren: „Es ist die brutale Wahrheit, dass amerikanische Wahlen gestohlen werden können und gestohlen werden, weil Amerikas Medien Wahlbetrug als etwas erachten, was – aller Erfahrung zum Trotz – in diesem Land schlicht nicht vorkommen kann.“
Simons Vorwurf gilt ebenso für Amerikas Politiker, in erster Linie für Demokraten, unter denen in jüngerer Vergangenheit etliche wie Al Gore 2000 oder John Kerry 2004 mutmasslich Opfer von Unregelmässigkeiten bei der Auszählung der Stimmen geworden sind. „Für demokratische Gesetzgeber und Kandidaten grenzt es an politischen Selbstmord, die Integrität der amerikanischen Demokratie in Frage zu stellen“, sagt Ben Prashnik, einst Senator des Staates Vermont. Das Oberste Gericht der USA hat seinen Gesetzesvorschlag, der in Vermont saubere Wahlen gewährleisten sollte, beinahe ein Jahrzehnt nach dessen Verabschiedung als weitgehend verfassungswidrig gestrichen.