Nach einem verhaltenen Start zu Beginn der Pandemie hat die EU mit dem erfolgreich verabschiedeten Wiederaufbaufonds gezeigt, was europäische Solidarität bedeutet. Die wirtschaftlich Stärkeren helfen den Schwächeren und dies mit dem vollen Einsatz des national gewonnenen guten Rufes der wirtschaftlichen Schwergewichte. Europa nimmt am internationalen Kreditmarkt gemeinsam Geld auf, zu Bedingungen, welche sich an seinen besten Schuldnern orientieren, und verteilt es innerhalb nach Massgabe des Bedarfs, auch und gerade an jene, welche allein viel mehr bezahlen müssten.
Aussenpolitischer Erfolg der EU
Der Wiederaufbaufonds dient den EU-Mitgliedern, stellt aber gleichzeitig einen aussenpolitischen Erfolg für die Union dar; er zeigt, dass sie auch in Krisenzeiten zusammenhält und als Einheit auftritt. Ironische Brexit-Fussnote: Hätte GB noch mitentschieden, wäre wohl dieses Resultat, wenn überhaupt, nur mit viel mehr internen Konzessionen möglich geworden.
Ein Erfolg ist auch die via den Fonds erreichte Massregelung von Ungarn und Polen. Das Einknicken von Orban und Kaczynski angesichts des drohenden Verlustes von EU-Mitteln hat gegen innen und aussen gezeigt, dass via „Brüssel“ unbotmässige Mitgliedsländer zur menschenrechtlichen Raison gebracht werden können.
Das am Weihnachtstag verabschiedete Handelsabkommen mit dem aus der Union ausscheidenden Grossbritannien ist genau so ausgefallen, wie Michel Barnier, im Auftrag der bis zuletzt einigen EU-Mitglieder, dies jahrelang vorausgesagt hat: Wenn ein Land aus dem EU-Binnenmarkt ausscheidet, erhält es nicht mehr, als was nach WTO-Regeln global vorgesehen ist. Freier Zugang für Waren, sofern sie entsprechend zertifiziert und ordnungsgemäss dokumentiert sind.
Ob schliesslich das Investitionsabkommen mit China auch längerfristig als Erfolg der EU, und damit Europas, angesehen werden kann, ist noch offen. Bedenken bestehen, insbesondere ob China die eingegangenen Verpflichtungen im Bereich Menschen- und Arbeitsrechte auch einhalten wird. Das Fehlen von Sanktionsmechanismen im Vertrag beunruhigt, zumal angesichts der laufend aggressiveren Haltung Beijings in allen aussenpolitischen Belangen. Zumindest kurzfristig bringt das Abkommen aber Vorteile für die europäische Industrie. Darunter namentlich die Autoindustrie, wovon auch die zahlreichen Zulieferfirmen in der Schweiz profitieren werden.
Schlechte Bilanz von GB
Boris Johnson bezahlt für seine vermeintliche „Freiheit von Europa“ einen hohen Preis. Über 70% des britischen Pro-Kopf-Einkommens werden durch Dienstleistungen erbracht. Diese sind vom Abkommen ausgeschlossen; eine zumindest schleichende Abwertung des Finanzplatzes London ist zu erwarten, da dessen Produkte nicht mehr frei in Europa verkauft werden können.
Britische Produkte – vom Spezialabkommen betreffend Nordirland einmal abgesehen – müssen vor ihrem Export in den Binnenmarkt, also grundsätzlich auch in die Schweiz, zunächst aufwendige Prüfverfahren, gekoppelt mit entsprechender Dokumentkontrolle an der Grenze, durchlaufen. Ihr vorher automatischer Wettbewerbsvorteil auf dem Binnenmarkt von über 500 Millionen Konsumenten gegenüber amerikanischer, kanadischer und in absehhbarer Zeit wohl auch chinesischer Konkurrenz entfällt. Natürlich gilt das auch umgekehrt. Aber: 2019 gingen 46% der britischen Warenexporte in den Binnenmarkt, umgekehrt waren es nur 15%.
„Freiheit von Europa“ bedeutete für Johnson auch immer die Aufhebung der Personenfreizügigkeit und damit Einwanderungskontrollen. Detaillierte Zahlen zeigen aber nun, dass der Exodus von Europäern aus GB in Reaktion auf das Brexitvotum von 2016 seither durch eine Einwanderung von nichteuropäischen Ausländern zumindest kompensiert worden ist. Ob die nordenglischen Arbeiter, welche bei der Brexitabstimmung und anlässlich der letzten Wahlen den Schalmeienklängen von Rattenfänger Boris gefolgt sind, Billigarbeitskräfte vom indischen Subkontinent den legendären „Polish plumbers“ vorziehen, bleibe dahingestellt. Die Tausenden von Austauschstudenten unter „Erasmus“, durch Johnson gestoppt, werden kaum zu künftigen Boris-Fans zählen.
Die erwähnte Sonderregelung für Nordirland erscheint prekär. Dass die nordirischen Englischnationalen in der Westminster-Abstimmung gegen das Handelsabkommen gestimmt haben, ist die politische Ausprägung davon. Irland seinerseits wird sich jeder Änderung der Regelung, wie sie von den Brexit-Tories bereits erfolglos versucht worden ist, kategorisch widersetzen. Mittelfristig geht Irland in Richtung der von der irischen Bevölkerung seit Jahrhunderten angestrebten Vereinigung der gesamten grünen Insel unter Souveränität Dublins. Schon kurzfristiger, so etwa nach einem weiteren überwältigenden Sieg der schottischen Unabhängigkeitspartei anlässlich von Regionalwahlen, wird Johnson sich einem zweiten, diesmal wohl erfolgreichen Referendum in Schottland nicht mehr widersetzen können.
Das England von Johnson wäre dann geschichtlich jenes, welches sich sebst ärmer gemacht hat und zudem seine letzten beiden Kolonien, Schottland und Irland, aufgeben musste.
Die schweizerische Bilanz
Wohl beschäftigt sich die schweizerische Aussenpolitik nicht ausschliesslich mit Europa und der EU. Politisch, wirtschaftlich und auch emotional ist aber Europa das weitaus wichtigste Thema unserer Aussenpolitik – wie das für das europäische Kernland Schweiz auch natürlich erscheint. Umso befremdlicher zunächst die politische und auch publizistische Untätigkeit der schweizerischen Behörden, welche 2020 die weitaus wichtigste aussenpolitische Herausforderung an unser Land hinter die aufwendigen Pandemiekulissen geschoben haben. Das Rahmenabkommen mit der EU ist entscheidend für die künftige Wohlfahrt der Schweiz und wird unsere aussenpolitische Agenda im Jahr 2021 prägen.
Verhandlungen und Ergebnis über den Brexit haben klar gezeigt, dass die Übernahme von EU-Recht, wie zwischen der Schweiz und Brüssel in den verschiedensten bilateralen Abkommen festgelegt, zwingend eine Rolle für den Europäischen Gerichtshof EuGH vorsieht. Genau dies hatten übrigens GB und EU zu Beginn der Gespräche über das Handelsabkommen in einer gemeinsamen Erkärung festgehalten. Nur weil Johnson ausdrücklich darauf verzichtet hat, am Binnenmarkt teilzunehmen – mit all den oben gezeigten wirtschaftlichen Nachteilen – kommt der EuGH im Handelsabkommen nicht vor. Kein vernünftig denkender Politiker in der Schweiz schlägt vor, dass wir so freiwillig aus dem europäischen Binnenmarkt austreten. Entsprechend sinnlos sind die von sonst rationalen Aussenpolitikern angestellten Souveränitäts-Spielchen zur Vermeidung des EuGH im Rahmenabkommen.
Brexit und sein Resultat beinhaltet eine zweite Lehre für die Schweiz. So wie die Randregionen Schottland und Nordirland nicht gewillt sind, sich von der EU im englischen Sinn abzukapseln, so eindeutig wäre die Reaktion der schweizerischen Regionen mit grenzüberschreitender Verflechtung – Grossräume Arc Lémanique, Dreiländereck Basel, Bodenseeregion, und Mailand mit dem Tessin – auf eine Kündigung aller bilateralen Verträge mit der EU im Falle einer schweizerischen Ablehnung des Rahmenabkommens. Entweder dieses oder eine von Köppel & Co regierte Schweiz mit ensprechenden Zäunen. Was das für den einzelnen Schweizer und die einzelne Schweizerin bedeutet, haben wir zu Beginn der Pandemie mit dem Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen und fehlendem italienischen Pflegepersonal in Tessiner Spitälern erlebt.
Das Investitionsabkommen EU-China hat gezeigt, wie voreilig der Abschluss eines bilateralen Freihandelsvertrages (FTA) der Schweiz mit China war. Mit dem Hebel des Binnenmarktes hat es Brüssel immerhin zuwege gebracht, dass die Menschenrechte im weiten Sinn überhaupt in ein Wirtschaftsabkommen Einlass gefunden haben. Was Beijing bislang strikte abgelehnt hat. Was die Schweiz damals abgehalten hat, solches im bilateralen Abkommen zu verlangen. Was wiederum, mit dem nun vorliegenden Beispiel des EU-Abkommens vor Augen, unser FTA im politischen Sinn eher jämmerlich aussehen lässt. Solche Alleingänge werden in Brüssel natürlich wahrgenommen. Und dürften unsere Ausgangsposition für den Abschluss der Rahmenabkommensgespräche nicht verbessern. Wie übrigens auch die ebenso rein kommerziell und ohne politisches Verständnis für unsere EU-Nachbarn durchgedrückte Offenhaltung der Skiregion Schweiz. Geschenke von Nachbarländern, geschweige denn von Brüssel, sind so noch weniger zu erwarten.
Die aussenpolitische Bilanz der Schweiz fällt negativ aus. Einmal mehr haben wir uns in Nabelschau auf kurzfristige Eigeninteressen konzentriert, anstatt mit einem wachen Blick über die Grenzen das Terrain optimal auf die grosse aussenpolitische Schicksalsfrage für die Schweiz vorzubereiten: unser ungelöstes Verhältnis zu Europa.