Glauben und Wissen sind ungleiche Partner. Wissen ist immer nur vorläufig. Der Glaube muss nicht bewiesen werden und kann durch Fakten nicht zum Einsturz gebracht werden. Die Aufklärung lehrt uns, welche Fragen mittels Vernunft anzugehen sind. Wir laufen Gefahr, Immanuel Kant zu vergessen.
Je mehr wir wissen, desto stärker rebelliert der Bauch
Was selbstverständlich erscheint, gerät in Gefahr, verwässert, vergessen und schliesslich in sein Gegenteil verkehrt zu werden. Das gilt ganz besonders für gewisse Grundwerte unserer Gesellschaft, welche in der Aufklärung fussen. Gesellschaftliche Fragen seien aufgrund der Vernunft, nicht des Glaubens und Aberglaubens anzugehen, lautet eine zentrale These von Immanuel Kant.
Tatsächlich ist die Aufklärung nicht einfach eine Errungenschaft der Moderne, derer wir uns für alle Zeiten gewiss sein dürfen, sondern eine permanente Aufgabe, welche manchmal leichter und dann wieder enorm schwierig ist. Paradoxerweise scheint die Aufklärung einen umso schwierigeren Stand zu haben, je mehr die modernen Wissenschaften an Erkenntnissen liefern und je stärker sie die dunkeln Ecken unseres Aberglaubens oder vermeintlichen Wissens ausleuchten. Allzu viel Rationalismus lässt den Bauch offensichtlich gegen den Kopf rebellieren, auch in Fragen, bei denen eigentlich letzterer gefragt wäre. Einige Stichworte: Genveränderte Pflanzen, Mobilfunkstrahlung, moderne Medizin und Homöopathie. – Wieso ist das so?
Wissenschaft schafft ‚vorläufig bestes Wissen’
Die Wissenschaft, wenn sie sich absolut ehrlich gibt und nichts beschönigt, sieht sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass dem Glauben nicht das Wissen entgegensteht, sondern das auf kritischer Vernunft basierende ‚vorläufig beste Wissen’. Glauben und Wissen sind demnach ungleiche Partner, ihre Spiesse ungleich lang. Der Gläubige darf zwar zweifeln, aber die Botschaft des Glaubens selbst steht fest wie ein Fels, an dem man sich festhalten und orientieren kann. Was nicht bewiesen werden muss, kann durch Fakten auch nicht zum Einsturz gebracht werden.
Da hat es das ‚vorläufig beste Wissen’ weit schwerer. Es verändert sich durch den Fortgang der Forschung; es kann bestätigt und damit verstärkt werden, sich verfeinern oder sich in gewissen Fällen gar in sein Gegenteil verkehren, wobei letztere Möglichkeit bei den Grundlagen der Naturwissenschaften eher unwahrscheinlicher sind im Vergleich etwa zum neusten Wissen über die menschliche Gesundheit oder das Klima. Man kann es den Wissenschaften und ihren Promotoren nicht verargen, dass sie immer wieder der Versuchung erliegen, den komplexen und nur schwer vermittelbaren Charakter ihres Wissens durch die einfachere Gegenüberstellung zu ersetzten: Hier Wissen, dort (Aber-)glaube. Der Preis, den die Wissenschaft für diese Verkürzung der Argumentation zahlt, ist evident: Wo immer Wissen durch neue empirische Informationen (teil-)revidiert werden muss, gibt es Enttäuschte und Überläufer ins Lager der Glaubenden. Hat nicht die Physik anfänglich die Schädlichkeit von Röntgenstrahlen völlig unterschätzt? Wie sollen wir da glauben, dass die Mobilfunkstrahlung harmlos sei? Und die Schulmedizin: Wie hilflos ist sie doch gegenüber vielen gesundheitlichen Problemen, trotz der eingesetzten drastischen chirurgischen oder chemischen Mittel mit all ihren Nebenwirkungen. Wieviel einfühlsamer ist da doch die Alternativmedizin...
Wissenschaft lebt von der Polyphonie an ihren Grenzen
Die Wissenschaft hat ein weiteres Handicap: Sie spricht nicht mit EINER Stimme, sondern liebt die Polyphonie und den Widerspruch, vor allem dort, wo sie sich in völlig neue Wissensgebiete vorwagt. Die Wissenschaft ist weder ein totalitärer Staat noch ein Grosskonzern mit zentralisierter PR-Abteilung, welche darüber wacht, dass nur konsistente Informationen an die Öffentlichkeit gelangen. Im Gegenteil, jeder Forscher, der etwas entdeckt hat oder entdeckt zu haben glaubt, kann darüber kommunizieren. Die wissenschaftliche Publikationsmaschinerie ist voller Inhalte, welche die Zeit nicht oder nur in modifizierter Form überdauert haben. Das ‚vorläufig beste Wissen’ entsteht aus einem kontinuierlichen Prozess von Vermuten, Kritisieren, Modifizieren, Verwerfen, an dessen Ende gewisse gefestigte Erkenntnisse übrig bleiben, welche ihrerseits, wie wir gesehen haben, auch nicht für alle Ewigkeit gebaut sein mögen.
Dieser anarchistische Züge tragende Prozess bietet sich der Kritik der Glaubenden geradezu auf dem Präsentierteller an. Es gibt für praktisch jede Meinung irgendwo im Informationsausstoss der Wissenschaft Argumentationshilfen, man muss sich ihrer nur selektiv bedienen. Doch ist die polyphonische oder oft sogar kakophonische Natur der wissenschaftlichen Information der Preis für das Innovationspotenzial der Forschung. Wird versucht, diese rebellische Natur zu zähmen, wie das etwa in der Klimaforschung sowohl von wissenschaftlicher als auch politischer Seite her versucht worden ist, droht die Lebenskraft der Forschung verloren zu gehen.
Wissen gehorcht selten dem Muster richtig/falsch
Noch ein letzter Punkt: Insbesondere in den Lebenswissenschaften, aber nicht nur dort, hat Wissen praktisch nie den absoluten Charakter von ‚richtig/falsch’. Meistens geht es um statistische Aussagen wie ‚Aus A folgt mit x Prozent Wahrscheinlichkeit B’. Statistische Zusammenhänge sagen für den Einzelfall wenig aus und sind daher schwierig zu kommunizieren, insbesondere in der Medizin. Es gibt Kettenraucher, die vom Lungenkrebs verschont bleiben und Nichtraucher, die Lungenkrebs haben. Und doch gibt es einen wissenschaftlich gesicherten Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs. Er wird durch konkrete Vorstellungen über die Auswirkung von Schadstoffen in der Lunge plausiblisiert.
Tatsächlich aber sind statistische Zusammenhänge allein kein Beweis für eine Kausalität: In der Morgendämmerung pfeifen die Vögel und Zeitungsverträger sind unterwegs, aber daraus lässt sich nicht schliessen, die Vögel würden wegen der Zeitungsverträger pfeifen oder umgekehrt. Daher ist es in der Statistik – wie überhaupt in der Wissenschaft – einfacher, die Nichtexistenz einer kausalen Abhängigkeit zu beweisen als deren Existenz. Das ist nicht einfach zu vermitteln, wie die Mitglieder des Swiss Medical Board unlängst zur Kenntnis nehmen mussten, als sie, gestützt auf die Nichtexistenz gesicherter statistischer Zusammenhänge, mit Recht für die Sistierung der flächendeckenden Mammografie plädierten.
Zwischen Relativierung und Verkünden von Wahrheiten
Kurz, die Wissenschaft hat es nicht leicht, den richtigen Weg zwischen selbstkritischer Relativierung und dem Verkünden von Wahrheiten zu finden. Differenziertheit geht oft im Getöse des öffentlichen Disputes unter, und umgekehrt verstösst der Anspruch auf absolute Wahrheit gegen die Grundlagen der Forschung. Und doch müssen wir uns im Sinne der Aufklärung in unserem Handeln nach dem, was wir haben, nämlich dem ‚vorläufig besten Wissen’, ausrichten. Und das sollten auch die Kritiker der Wissenschaft tun, dort wo sie sich mit wissenschaftlichen Themen befassen. - Ich nehme damit bewusst andere Gebiete aus, die Religion zum Beispiel oder die persönliche und nicht auf andere Menschen übertragbare Erfahrung, wo die Wissenschaft abseits zu stehen hat.
Politische Korrektheit ist fehl am Platz
Leider gehört es heute zu einer falsch verstandenen politischen Korrektheit, jede Ansicht gleich ernst zu nehmen, auch dort, wo das ‚vorläufig beste Wissen’ dieser entgegensteht. Im vollem Bewusstsein in ein Wespennest zu stechen, frage ich: Wo gibt es heute stichhaltige Beweise für die Schädlichkeit von Mobilfunkstrahlung oder der Anwendung genveränderter Pflanzen, wo einen Nachweis der Nützlichkeit homöopathischer Arzneimittel, welcher nur einigermassen vergleichbar wäre mit dem, was wir von der Pharmaindustrie bezüglich Risiko und Nutzen verlangen, wenn sie ein neues Medikament auf den Markt bringen und auf die Liste der Krankenkassen setzen lassen will?
Es wäre an der Zeit, dass die wissenschaftliche Forschung wieder etwas mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen würde. Die Aufklärung braucht Unterstützung, auch wenn sie an der politischen Korrektheit aneckt und oft unbequem ist. Der blinde Glauben, der oft in Fanatismus mündet, wie gewalttätige Tierschützer in England und anderswo beängstigend vordemonstrieren, untergräbt letztlich die Basis unserer Gesellschaft.