Ende September 1990, nur wenige Monate nach dem Fall der Berliner Mauer, kündigte Präsident George H. W. Bush eine „neue Weltordnung“ unter der unipolaren Vorherrschaft der Vereinigten Staaten an. Kurz darauf begann der Erste Golfkrieg.
Im gleichen Geist handelte sein Sohn George W. Bush. Er führte die USA in den Zweiten Golfkrieg – mit dem Ziel, Saddam Hussein zu stürzen. Folge war die weitgehende Zerstörung des Irak.
Unbewegliche, starke Männer
Lange Zeit hat sich im Nahen Osten, bis zum Syrien-Krieg, wirtschaftlich und strategisch wenig verändert. Die Golfstaaten konnten ihre obsessive Angst vor dem Iran nicht abschütteln. Und Israel führt seine Abschreckungspolitk weiter – mit dem Argument, sie sei der einzige Garant für die Sicherheit des jüdischen Staats.
Alle Versuche, ein bisschen Frieden in die Region zu bringen und die verhärteten Fronten aufzuweichen, sind gescheitert. So ist die Palästina-Frage meilenweit von einer Lösung entfernt. Die Wiedervereinigung und der Wiederaufbau des Irak kommen kaum vom Fleck, und die Beziehungen der Golfstaaten zum Iran werden von Tag zu Tag schlechter. Grund für diesen Deadlock ist vor allem die Unbeweglichkeit der starken Männer des Nahen Ostens. Auch Bill Clinton und George W. Bush, die „Linien verschieben“ wollten, haben nichts verschoben.
Zermürbt durch einen zehnjährigen Bürgerkrieg
In der Zwischenzeit haben zwei Länder des Nahen Ostens, denen bisher eine eher untergeordnete Rolle zugeschrieben wurde, an Bedeutung gewonnen: Jordanien und Libanon.
Während Jordanien eher im Stillen versucht, seine Probleme zu lösen, macht der Libanon mehr und mehr Schlagzeilen.
Das Land, das von einem zehnjährigen Bürgerkrieg zermürbt war, hat enorme Anstrengungen unternommen, um die Wirtschaft und die staatlichen Strukturen wieder aufzubauen. Man hoffte, die strukturelle Multikonfessionalität – ein Hauptgrund für die Krise – eindämmen zu können. Das gelang kaum. Die Ermordung von Rafik Hariri im Februar 2005 haben diese Hoffnungen jäh zersört. Die multikonfessionelle Strutktur des Libanon scheint in Stein gemeisselt zu sein.
Der Hizbullah: Staat im Staat
Auf die historischen und strukturellen Gründe für diese Multi-Konfessionalität soll hier nicht näher eingetreten werden. Mehrere Forscher, Historiker und Journalisten haben diese Fragen auf teils brillante Weise untersucht.
Wir wollen hier in den Vordergrund stellen, dass sich die schiitische Komponente in der religiösen, sozialen und politischen Struktur des Libanon sehr schnell zu einer politischen Partei, dem Hizbullah, entwickelt hat.
Diese Organisation, von Israel gefürchtet, verfügt über eine gut organisierte Streitmacht. Es ist kein Geheimnis, dass der Iran den Hizbullah aufrüstet. Er ist inzwischen ein Teil des libanesischen Staates geworden. Er kann mehrere militärische Erfolge vorweisen und hat wesentlichen Einfluss auf das politische, sicherheitspolitische, wirtschaftliche und öffentliche Lebens des Landes. All dies geschieht unter den Augen der Institutionen des libanesischen Staates und seiner Armee, die weitgehend machtlos geblieben sind.
Auch der Hizbullah mischte mit
So wurde der Libanon in die strategische und politische Komplexität des Nahen Ostens eingewickelt. Der Hizbullah ist auf dem nahöstlichen Schachbrett eine einflussreiche und mitentscheidende Figur geworden.
In dieser fragilen Situation kam es nach dem Scheitern der arabischen Frühlingsrevolutionen zur Syrienkrise. Alle Akteure des Nahen Ostens glaubten, diese Krise zu ihren Gunsten ausnützen zu können. Der „Islamische Staat“ (IS) nistete sich eine Zeit lang in Syrien ein. Und Russland, das sich auf die Seite des Asad-Regimes schlug, fasste im Nahen Osten wieder Fuss.
Auch der Hizbullah mischt mit: Er unterstützt das Regime von Baschar al-Asad massgeblich. All das führt zu einer wackligen Allianz zwischen Asad, dem Hizbullah, dem Iran und Russland. Israel und die USA sahen eine drohende Gefahr aufziehen, unternahmen zunächst jedoch wenig.
Kein Angriff auf den Iran?
Jetzt allerdings ist Washington bestrebt, die Kontrolle im Nahen Osten wiederzuerlangen. Erstes Hauptziel ist es, den Iran zu schwächen. Das gleiche Ziel verfolgt Israel, das die Islamische Republik als tödliche Gefahr fürchtet.
Weder die USA noch Israel sind derzeit auf eine direkte, bewaffnete Konfrontation mit dem Iran vorbereitet. Netanjahu, der arg Federn verloren hat, und die bevorstehenden amerikanischen Wahlen sprechen nicht für einen Waffengang, der nur kostspielig wäre und verheerende Folgen auch für die Angreifer haben könnte.
Aber: Gäbe es die Möglichkeit, den Iran ausserhalb seines Territoriums zu schwächen oder anzugreifen. Und wenn ja: wo und wie?
„Libanon = Hizbullah“
Da blicken nun die Strategen in Washington und Tel Aviv auf den Libanon, die Wiege und Heimat des vom Iran geförderten Hizbullah. Für viele ist die schiitische Organisation ein Staat im Staat. Der ehemalige israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman ging sogar noch weiter und stellte die Gleichung auf: „Libanon = Hizbullah“. In den Augen vieler Strategen ist der Libanon nicht nur der „weiche Unterleib“ der Region. Der Zedernstaat könnte ein bevorzugtes Ziel für einen Schlag gegen den Iran ausserhalb seiner Grenzen darstellen. Ein Krieg gegen den Libanon hätte die Zerstörung des Hizbullah zur Folge. Und umgekehrt!
Doch eine militärische Operation gegen den Iran ausserhalb seiner Grenzen mag keine naheliegende Option sein. Abschreckendes Beispiel ist Jemen. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die dort, wohl auch im Namen der USA und Israels, einen Stellvertreterkrieg gegen die vom Iran unterstützten Huthis führen, haben den Iran nicht wesentlich geschwächt.
Kaum ein US-Eingreifen im Libanon
Dazu kommt, dass kein arabisches Land einen Stellvertreterkrieg im Libanon führen will. Die USA und Israel müssten also selbst und direkt eingreifen. Das wäre riskant. Die Geschichte lehrt, dass die direkte amerikanische Intervention im Libanon im Juli 1958 kein grosser Erfolg war. Im Oktober 1958 wurden die USA gezwungen, den Libanon ziemlich ruhmlos zu verlassen. Und noch immer erinnern sich die USA daran, dass bei einem Selbstmordanschlag auf die amerikanische Botschaft in Beirut am 18. April 1983 sechzig Menschen ums Leben kamen – ein Albtraum für die Amerikaner.
Man kann nun einwenden, dass die Umstände heute nicht mehr die gleichen sind. Doch die Rückkehr der Russen auf die nahöstliche Bühne hat sicher einen Einfluss auf amerikanische Planspiele.
Ein direktes Eingreifen der USA scheint also eher unwahrscheinlich. Allerdings ist Trump, sollte er wiedergewählt werden, zu vielem fähig. Seine Aussenpolitik ist sprunghaft und scheint wenig durchdacht.
Gefahren eine Militäroperation
Ein weiteres Szenario wäre, dass Israel, ohne direkte Unterstützung der USA, beschliesst, den Libanon und vor allem den Hizbullah anzugreifen. Doch Netanjahu muss die Kosten eines solche Abenteuers sorgfältig abwägen. Vor allem wird er sich an den israelisch-libanesischen Konflikt von 2006 erinnern müssen, als ihm die Streitkräfte des Hizbullah ernsthaft zusetzten. Er wird sich auch an die Militäroperationen vom September 2019 erinnern müssen, als der Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah seine Truppen und Raketen auffuhr. Nicht alle bewaffneten Konflikte mit dem Hizbullah sind zugunsten Israels ausgefallen. Die sprichwörtliche Unbesiegbarkein Israels hat doch einige Schrammen abbekommen.
Eine militärische Option gegen den Libanon scheint mit vielen Gefahren verbunden zu sein. Also bleibt die Frage, ob mit Sanktionen etwas erreicht werden kann.
Den Libanon austrocknen
Gerade im Fall des Libanons können Wirtschafts- und Finanzsanktionen verheerende Auswirkungen haben und das soziale libanesische System zerstören. Trotz ihrer Schärfe haben die Sanktionen gegen den Iran nicht das gewünschte Ziel erreicht und Teheran nicht in die Knie gezwungen. Ein gut strukturierter und autoritär regierter Staat kann vielen Sanktionen standhalten.
Dies ist im Libanon nicht der Fall. Das Land kann wirtschaftlich und finanziell schnell ausgetrocknet werden. Es ist konfessionell gespalten, immer wieder in interne Kämpfe verwickelt und wird durch die grassierende Korruption und enorme Schulden zermürbt.
Zerfall des libanesischen Pfundes
Eine Austrockung Libanons oder gar eine Erstickung des Libanon, um den Hizbullah zu zerstören – das scheint die Strategie Washingtons und Tel Avivs zu sein, eine Strategie, die in den letzten Wochen an Fahrt gewonnen hat.
Es ist in der Tat kein Zufall, dass das libanesische Pfund, die nationale Währung des Libanon, gegenüber dem US-Dollar stark und sichtbar fällt. Im Jahr 1997 wurde der offizielle Wechselkurs auf 1’500 Pfund zum Dollar festgelegt. Der Rückgang dieser Parität, der Ende 2019 begann, ist in letzter Zeit schwindelerregend und unkontrolliert geworden. Ein US-Dollar ist derzeit mehr als 7’000 libanesische Pfund wert.
Jeder Zweite lebt unter der Armutsgrenze
Die libanesische Wirtschaft ist eine dienstleistungsorientierte Wirtschaft. Deviseneinnahmen stammen hauptsächlich aus dem Tourismus und aus Geldtransfers der libanesischen Diaspora. Diese beiden Quellen versiegen von Tag zu Tag mehr, obschon sie für das Land lebenswichtig sind. Der Libanon importiert fast 80% seines lokalen Verbrauchs. Im Oktober 2019 führten die Abwertung der Landeswährung und die Knappheit des Dollars dazu, dass das libanesische Bankensystem seine Aktivitäten mit dem Ausland fast einstellte.
Dies führte zu brutalen Versorgungsengpässen. Plötzlich fehlten Nahrungsmittel, Medikamente und Treibstoff. Der Volkszorn kochte, Ausschreitungen waren die Folge. Doch kaum jemand kümmerte sich darum. Innerhalb weniger Wochen fiel mehr als die Hälfte der libanesischen Bevölkerung unter die Armutsgrenze. Der Libanon ist praktisch bankrott, und auch der IMF hilft ihm nicht.
Neuer Bürgerkrieg?
All dies vertieft die politische Krise und destabilisiert das Land noch mehr. Wollen Trump und Netanjahu diese Politik beschleunigen? Vieles deutet darauf hin. Ein Zusammenbruch des Hizbullah wäre damit unvermeidlich.
Das Ziel dieses Plans besteht darin, den militärischen Arm des Iran im Nahen Osten zu amputieren. Das soll beitragen, Teheran in die Knie zu zwingen. Mit dem Kampf gegen den Hizbullah nimmt man in Kauf, dass auch der Libanon aufgerieben wird und untergeht.
Es besteht kein Zweifel, dass die Folgen der Umsetzung dieses Plans unermessliche politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Auswirkungen haben werden. Darüber hinaus werden die Folgen der humanitären Katastrophen für den Libanon und die gesamte Region sowohl unmittelbar als auch auf lange Sicht enorm sein. Der Libanon läuft daher Gefahr, in einen verheerenden Bürger- und Sektenkrieg zu geraten. Noch schlimmer! Das Land könnte zu einem „failed state“ werden. Wird ein Staat als „gescheiterter Staat“ deklariert, diente das immer wieder zur Legitimierung ausländischer Interventionen. Beispiele sind Somalia, Afghanistan, Jemen, Syrien und Libyen.
Gescheitertes Modell Libanon?
Die Architekten dieses Plans für den Libanon wissen nicht – oder wollen nicht wissen –, dass solche Konsequenzen in keiner Weise im Interesse des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit liegen.
Vor 100 Jahren war der Grosslibanon als französisches Mandatsgebiet gegründet worden. Er zerbracht 1942. Aus ihm gingen Libanon und Syrien hervor. Ein Teil wurde der Türkei zugeschlagen. Auch das jetzige institutionelle und politische Modell des Libanon ist an seine Grenzen gestossen.
Und Europa?
Die politisch institutionalisierte Multikonfessionalität ist einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. Die Frage ist, ob sie überleben wird. Die Schweiz, die es geschafft hat, ihre Unterschiede unter einen Hut zu bringen, dient vielen Libanesen als Vorbild. Doch im Grunde wissen sie, dass ein solches Modell für „die Schweiz des Nahen Ostens“ nicht möglich ist.
Vielleicht denken Netanjahu und Trump, dass die Zerstörung des Libanon und des Hizbullah unvermeidlich ist. Und wie denkt Europa ?
(aus dem Französischen übersetzt von hh)