Die Regierung in Helsinki wird auf Trab gehalten. Der Ausfall der Firma Nokia, die zeitweise die Hälfte der Exporteinnahmen erwirtschaftete, und der Einbruch des Russlandgeschäftes wegen den von Brüssel beschlossenen Sanktionen sorgen für eine Wirtschaftsflaute. Die „Wahren Finnen“ des Populisten Timo Soini haben bei den letzten Wahlen ihren Anteil an den 200 Parlamentssitzen schlagartig von 5 auf 39 erhöht, indem sie gegen die EU-Mitgliedschaft und die Einwanderungspolitik polemisierten.
Gustav Adolf und die „Hau-drauf“-Reiter
Jetzt mobilisieren sie die Jungwähler mit der Forderung nach Abschaffung des obligatorischen Schulfaches Schwedisch. Wer die zur Zeit laue Begeisterung für Französisch in unseren Schulen verfolgt, kann die Reaktion der finnischen Jungwähler verstehen. Alle sollen Schwedisch lernen, obschon diese Sprache nur noch für 5,4 Prozent Muttersprache ist.
In den Blogging-Kolumnen findet man die trotzige Feststellung “Wer in Finnland leben will, soll Finnisch sprechen!“ Diese Formel hat Gewicht in einem Land, das 700 Jahre schwedische Kolonie war, bis es 1809 zaristisches Grossfürstentum wurde und sich 1917 selbständig machte. In der Geschichte haben wir gelernt, dass sich der schwedische König Gustav Adolf im 17. Jahrhundert in den Dreissigjährigen Krieg einschaltete und europäische Geschichte machte.
Ich habe im Unterricht nicht begriffen, warum man seine gefürchteten Krieger „Hakkapeliten“ nannte. Erst später begegnete ich dem finnischen Ausdruck „hakka pälle“, was mit „hau drauf “ übersetzt werden kann. Der Ruf passt zu einer Zeit, wo bei Reiterangriffen Lärm, Geschwindigkeit und Wucht entscheidend waren. In diesem Fall verrät der Schlachtruf auch, dass der schwedische König seine Siege mit finnischem Blut bezahlte.
Mannerheims Sprachkenntnisse
In Finnland beginnt heute jede Diskussion über das Schulfach Schwedisch mit dem Aufruf, man müsse stolz sein auf die finnische Sprache. Die rituelle Wiederholung erweckt den Verdacht, dass die koloniale Vergangenheit unter dem schwedischen König und dem russischen Zaren noch immer auf dem nationalen Bewusstsein laste. Noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts wurde man bei Stockmann, dem grössten Kaufhaus in Helsinki, als Kunde zuerst auf Schwedisch nach den Wünschen befragt - ein Umstand, der viele Finnischsprachige kränkte.
Vom Stolz auf die Zweisprachigkeit ihres Landes spürt man bei der jungen Generation heute nicht mehr viel. Die Muttersprache von berühmten Finnen wird oft verschwiegen. So auch beim weltweit bekanntesten Finnen mit Reiterdenkmal in Helsinki, Generalfeldmarschall Carl Gustav Mannerheim. Der Freiherr mit schwedischer Muttersprache sprach als langjähriger Höfling in Sankt Petersburg Russisch, Deutsch, Französisch und Englisch. Finnisch blieb immer seine schwächste Sprache, in der er sich nie geläufig ausdrücken konnte.
Die Muttersprache wird auch verschwiegen bei der Schriftstellerin Tove Jansson, deren Mummi-Trolls weltweit bekannt wurden; ebenso beim Nationaldichter Johan Ludwig Runeberg und beim Nationalkomponisten Jan Sibelius.
Wie es Schweden mit dem Finnischen hält
Wie die Schweiz muss man sich auch Finnland fragen, welche Fremdsprachen in einer globalisierten Welt unentbehrlich sind. Die westliche Wirtschaft verlangt Englisch. Finnlands wichtiger Handelspartner im Osten und die vielen Touristen aus dem grossen Nachbarland möchten auf Russisch angesprochen werden. Und für ein EU-Mitglied wäre auch Deutsch wieder nützlich. Lohnt es sich wegen einer Minderheit von 5,4 Prozent Schwedisch als obligatorisches Schulfach zu führen? Viele in der jungen Generation finden das überflüssig. Sie erwähnen auch, dass die kulturell und wirtschaftlich noch immer recht einflussreichen Schwedischsprachigen ohnehin alle Finnisch verstehen. Und dann kommt der Hinweis auf Schweden, das mit 5,5 Prozent Finnischsprachigen eine vergleichbare Minderheit hat, ohne dass Schwedens Schüler Finnisch lernen müssen.
Schweden begnügt sich damit, Gemeinden mit mehr als 5000 Finnisch Sprechenden als zweisprachig einzustufen. Dort müssen Beamte zweisprachig sein und die Schulen haben im Unterricht Finnisch anzubieten. Nach der finnischen Verfassung gelten Gemeinden mit mehr als 3000 Schwedisch Sprechenden oder solche mit mindestens 8 Prozent Minorität als zweisprachig. Sie müssen auch Unterricht in Schwedisch anbieten und man sollte mit dieser Sprache vom Kindergarten bis zur Universität gelangen können.
Der Unterschied zu Schweden beginnt damit, dass Schwedisch in Finnland zweite Landesprache ist. Dies störte bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wenig, weil die Sprache nur im Gymnasium unterrichtet wurde. Als Schwedisch dann Pflichtfach in der Grundschule wurde, regte sich Widerstand. Allerdings kann auch Englisch erste Fremdsprache sein, wobei Schwedisch zur zweiten Fremdsprache wird. Schwedisch ist inzwischen auch nicht mehr als Maturfach vorgeschrieben, was eine erhebliche Zurücksetzung bedeutet.
Schwedisch sprechende Einheit im Kampf gegen die Rote Armee
Im Januar 2013 wurde von der Regierung auf Grund der Verfassung das Gesuch von 8 Gemeinden an der Ostgrenze abgelehnt, die aus Rücksicht auf die vielen russischen Touristen die zweite Amtssprache Schwedisch durch Russisch ersetzen wollten.
Könnte Finnland für seine schwedische Minderheit nicht einfach die schwedische Regelung einführen? Obschon die beiden Minderheiten nach einem erheblichen Rückgang der Finnland-Schweden in den letzten Jahrzehnten nahezu gleich gross sind, hinkt der Vergleich. Finnlands Schwedischsprachige bildeten über Jahrhunderte die Oberschicht und die Zweisprachigkeit gehörte zur Tradition, die auch die Kultur des zwischen Westen und Osten lavierenden Finnland bestimmt.
Die Schwedisch Sprechenden in Finnland fühlten sich immer als Finnen. Sie waren 1917 dabei beim blutigen Bürgerkrieg, der auf die Erklärung der Unabhängigkeit folgte. Schwedischsprachige Soldaten kämpften im Winterkrieg und im Fortsetzungskrieg gegen die Rote Armee. Beim überstürzten Rückzug der finnischen Armee 1944 war es sogar eine schwedischsprachige Einheit, die erstmals eine sowjetische Attacke in der Bucht von Wiborg stoppen konnte; ein Umstand, der in den Geschichtsbüchern nicht immer erwähnt wird, weil wie in der Schweiz zwischen den Sprachgruppen eine gewisse Rivalität besteht.
Schwedisch-finnische Annäherungen
Das Verhältnis der Finnland-Schweden zum schwedischen Nachbar ist vergleichbar mit dem Verhältnis der Deutschschweizer zu Deutschland. Sie sind finnischer Nationalität, obschon die Sprache ihren Zugang zur schwedischen Lektüre und Kultur erleichtert. Als Finnland im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee kämpfte, blieb Schweden neutral. Aber schwedische Freiwillige beteiligten sich an der finnischen Verteidigung. In der finnischen Notsituation nach 1944 leistete Schweden grosszügige Hilfe und nahm auch Emigranten aus Finnland auf.
Der bessere Lebensstandard im reichen Schweden zog damals ohnehin Finnen beider Sprachgruppen an. Hohe finnische Offiziere flüchteten zudem ins neutrale Schweden, weil sie befürchteten, von der die sowjetischen Überwachungskommission wegen Kriegsverbrechen belangt zu werden. Schwedisch ist aber die einzige Landessprache und bei der Fürsorge für finnische Minderheiten in zweisprachigen Gemeinden geht es lediglich um eine Politik der guten Nachbarschaft.
Die Globalisierung macht auch in Skandinavien heute vieles möglich, was noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Der Lebensstandard im Euro-Land Finnland war in den letzten Jahren oftmals höher als in Schweden. Der grösste finnische Buchverlag (WSOY) wurde von der schwedischen Bonnier-Gruppe übernommen, ohne dass die finnische Literatur darunter spürbar gelitten hätte. Gegenwärtig wird auch über eine Zusammenlegung der schwedischen und finnischen Seestreitkräfte diskutiert, was eine gemeinsame Kommandosprache nötig machen könnte.
Schwedischsprachige Universität Turku gibt Gegensteuer
Der Protest der „Wahren Finnen“ macht das Regieren in Helsinki nicht leichter. Die 2011 entstandene politische Lage zwang die früheren Gegenspieler „Konservative Sammlung“ und „Sozialdemokraten“ eine gemeinsame Regierung zu bilden und dabei auch Kleinparteien einzubinden. Dazu gehört die Partei der Finnland-Schweden, die zur Bedingung machte, dass die Position der schwedischen Landessprache nicht weiter reduziert werden dürfe. Gerade diese Forderung erheben aber jetzt die „Wahren Finnen“. Nach ihrer bodenständigen Vorstellung sollte der Unterricht ohnehin für alle Fremdsprachen freiwillig sein. Beim Schwedisch zielen sie aber einmal auf das Anliegen eines Koalitionspartners in der Regierung und versuchen zugleich junge Wähler anzulocken.
Als Journalist erlebte ich die schwedische Minderheit in Finnland immer als wohltuenden Ausgleich. Beim Gespräch auf der Redaktion des Huvudsstadsbladed (Tagblatt der Hauptstadt) in Helsinki erhielt ich oft rationalere Antworten als bei den finnischsprachigen Medien. Als die Finnen 1964 für Mannerheim ein Reiterdenkmal errichteten, ernannte die schwedischsprachige Universität Turku den schweizstämmigen und 1945 auf Befehl von Moskau als Kriegsverbrecher verurteilten General Karl Lennart Oesch zum Ehrendoktor, weil er als kompetenter Stratege zur Rettung der finnischen Unabhängigkeit beigetragen habe. Und beim Lenin-Kult von Präsident Kekkonen in den 1970er Jahren gab die Universität Turku in historischen Seminarien und Konferenzen bewusst Gegensteuer.