Das Gespräch mit Taoufik Ouanes *) führte Heiner Hug
Journal21.ch: Taoufik Ouanes, Tunesien galt als arabisches Musterland. Und jetzt dies…
Taoufik Ouanes: …und jetzt dies! Wir sind ja nicht naiv. Wir wissen, dass der Terrorismus an Boden gewinnt. Wir wissen, dass in den Bergen an der Grenze zu Algerien mehrere Tausend Terroristen auf Einsätze warten. Wir wissen, dass sie über riesige Mengen Waffen verfügen. Im Nachbarland Libyen sollen 40 Millionen Waffen lagern. Viele von ihnen sind schnell in Tunesien. Doch dass es den Terroristen jetzt gelang, zwei Symbole im Herzen der Hauptstadt zu treffen, hat uns bestürzt, traurig gemacht und eine riesige Wut ausgelöst.
Zwei Symbole?
Es gelang den zwei Terroristen, ein Symbol der tunesischen Kultur und ein Symbol der jungen tunesischen Demokratie zu treffen. Das Bardo-Nationalmuseum mit seiner phantastischen archäologischen Sammlung und seinen wunderbaren römischen Mosaiken ist der Louvre Tunesiens. Und das daneben liegende Parlament, das in Eile geräumt werden musste, ist die Hoffnung, dass wir es schaffen, das Land von der bleiernen Diktatur Ben Alis in eine echt demokratische Zukunft zu führen.
In Tunesien hat die Arabische Revolution begonnen. Tunesien ist das einzige Land, in dem sie geglückt ist. Ist der Traum jetzt ausgeträumt?
Wir sind keine Träumer. Aber das Attentat ist für die tunesische Volksseele eine schwere Kränkung, ein schwerer Rückschlag. Trotz aller Probleme, und wir haben viele, ist es gelungen, einigermassen demokratische Strukturen zu errichten. Freie Wahlen haben stattgefunden, wir haben eine freie Presse. Wir verkörperten die Hoffnung, dass es auch in arabischen Staaten gelingen kann, eine Demokratie zu errichten – trotz einer schlimmen Vergangenheit.
Und jetzt?
Natürlich lassen wir uns unsere Errungenschaften nicht von zwei Terroristen und einigen Helfern kaputtmachen. Sie hätten die Reaktionen im Volk, in der Politik und in den Medien sehen sollen! Unisono und in lauten, scharfen Tönen wurde der Terror verurteilt. Nein, nein und nochmals nein, wir lassen uns nicht zurückwerfen, wir gehen unseren demokratischen Weg weiter. Das war die Botschaft. Leute gingen spontan auf die Strasse und demonstrierten für die Demokratie. Die Aufwallung von Gefühlen war wunderbar. Und trotzdem.
Und trotzdem?
Trotzdem haben wir natürlich Angst, dass es nicht bei diesem Anschlag bleibt. Ein Attentat zieht meist ein weiteres und noch eines nach sich.
Der Terrorismus ist ein Krebsgeschwür, er frisst sich in unsere Gesellschaften. Nicht nur in den arabischen Ländern. Ich warne Europa davor zu glauben, Terrorismus sei nur ein arabisches Problem, ein Problem des Nahen Ostens. Der Westen muss endlich aufhören, sich in Sicherheit zu wiegen. Charlie Hebdo, Kopenhagen, Brüssel sind nur Vorläufer. Ich fürchte, dass alles viel schlimmer werden könnte. Die Italiener haben zu Recht Angst, dass Terroristen mit Flüchtlingsschiffen nach Italien übersetzen. Terrorismus wird immer mehr zu einem weltumspannenden Problem.
Was kann dagegen getan werden?
Ich finde es gut, dass die Amerikaner Luftangriffe gegen die Terroristen des sogenannten „Islamischen Staates“ fliegen. Doch das genügt nicht, das ist ein Tropfen auf einen heissen Stein. Militärisch kann der Terrorismus nicht bekämpft werden.
Sondern wie?
Der Westen glaubt immer noch, durch verstärkte Sicherheitsmassnahmen sei der Terrorismus einzudämmen. Selbstverständlich braucht es starke und wirksame Sicherheitsvorkehrungen, doch das genügt nicht. Der Westen muss endlich, endlich einsehen, dass es eine internationale Zusammenarbeit braucht, und zwar nicht nur auf sicherheitspolitischem Gebiet. Alle müssen zusammenarbeiten und Strategien entwickeln, alle: die Politik, Geheimdienste, Militär, Polizei, Religionsvertreter, Universitäten, Hilfswerke. Da wird heute viel zu wenig getan. Noch wird eine Kooperation durch nationalistische Interessen gebremst. Doch der Terrorismus macht nicht mehr an den Landesgrenzen halt, Terrorismus ist grenzüberschreitend. Wenn ein Land glaubt, es sei eben noch ein sicherer Hafen, könnte es bald eines andern belehrt werden. Auch Europa ist in Gefahr.
Offenbar gingen 3‘000 Tunesier in den Irak und nach Syrien, um für den sogenannten „Islamischen Staat“ zu kämpfen. Kein anderes Land stellte so viele Kämpfer. Warum gerade Tunesier?
Von den 3‘000 sind jetzt 500 zurückgekehrt und könnten den Terror zu uns tragen. Tunesien ist ein Schulbeispiel dafür, wie der Terror gezüchtet wird. Präsident Zine el-Abidine Ben Ali terrorisierte das Land 23 Jahre lang, er fälschte Wahlen, war korrupt, führte eine repressive Politik und trieb weite Teile des Volkes in die Armut und in die Hoffnungslosigkeit. Vor allem die Jungen waren völlig frustriert und ohne Perspektive. Sie fanden im Islam und seinen Ablegern eine Zuflucht. Sie, die Hoffnungslosen, wurden in die Arme der Extremisten getrieben. Am Anfang stand die Diktatur; dass die Terroristen Zulauf hatten, ist Folge der Diktatur. Alles wurde verbrämt mit einem islamischen Mäntelchen. Der Islam wurde und wird von den Terroristen für ihren Terrorismus missbraucht.
Aber die Terroristen wollen doch, wie sie sagen, einen „islamistischen Staat“ errichten.
Ihre Strategie ist, alles zu zerstören, alle Staatsgefüge. Sie betreiben die Politik der verbrannten Erde. Sie wollen alle humanistischen Werte, für die wir seit Jahrhunderten kämpfen, über den Haufen werfen. Kaputt machen, kaputt machen: das ist ihre Philosophie. Sie wollen keinen Staat, sie wollen keinen Islam und schon gar keinen „islamischen Staat“. Kaputt machen hat nichts zu tun mit dem Islam. Sie wollen eine terroristische Diktatur, wie die auch immer aussehen mag.
Hinter dem terroristischen „Islamischen Staat“ stehen zudem handfeste wirtschaftliche Interessen. Wie in jedem Krieg verdienen viele viel Geld. Woher kommen die teils hochmodernen Waffen? Und der Ölpreis? Die Terroristen verkaufen das Öl aus den von ihnen eroberten Ölfeldern zum Teil zu 12 Dollar. Das bringt das Wirtschaftsgefüge viele Länder aus den Fugen. Andere verdienen köstlich dabei.
Im Westen wird der Islam ab und zu als gewalttätige Religion dargestellt.
Dagegen wehre ich mich und rufe diese Leute auf, endlich den Koran richtig zu lesen. Der Islam ist eine durch und durch friedliebende Religion. Die gewalttätigen Passagen müssen in den geschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Wer sich weigert, das einzusehen, will den Islam einfach nur beschädigen. Der Islam wird von den Jihadisten missbraucht. Der Ausdruck „Jihad“ ist im ganzen Koran nur fünf Mal erwähnt, und in ganz anderem Zusammenhang als ihn die Terroristen heute gebrauchen.
Wegen der Erfolge der sogenannt islamistischen Terroristen wachsen in Europa rechtsextreme und rechtsnationalistische Parteien. In Frankreich wird wohl der Front National von Marine Le Pen zur stärksten Partei werden.
Das ist ja das Schreckliche. Da wirkt längst schon eine Spirale. Je mehr Erfolge die Terroristen haben, desto stärker werden die Rassisten. Und Rassismus, Armut, Hoffnungslosigkeit, Frustration ist das beste Terrain für Terrorismus. Rassismus und Armut gleich Terrorismus. Das ist fast schon eine mathematische Gleichung.
*) Taoufik Ouanes, tunesisch-schweizerischer Doppelbürger, arbeitet als Wirtschaftsanwalt auch für Schweizer Firmen in Tunis. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel über internationale Beziehungen. Er lebt in Tunis und Genf.