Eine Giftgas-Granate irgendwo hinzuschiessen, dürfte in der chaotischen Situation in Syrien nicht schwer sein. Und alle noch so tiefgründigen Experten-Analysen, die feststellen sollen, ob wirklich Giftgas eingesetzt wurde, sind reine Zeitverschwendung, wenn sie nicht nachweisen können, wer da geschossen hat. Aber da besteht kein Grund zur Sorge. Ohne Zweifel werden die notorischen westlichen Geheimdienste in Kürze auch «beweisen» können, dass Assads Armee – und nur sie – Giftgas geschossen hat.
Wer hat Interesse am Skandal?
Fragen eines einfachen Nachrichtenhörers: Welches Interesse sollte Assad haben, in der jetzigen Situation Giftgas einzusetzen? Setzt Assad Giftgas ein, um eine NATO-Intervention zu provozieren und sein eigenes Grab zu schaufeln? Wohl kaum.
Und weiter: Wer hat in der jetzigen militärischen Pattsituation wohl ein Interesse daran, einen Giftgas-Skandal zu inszenieren? Die Antwort ist klar. Es sind die sogenannten Rebellen, – eine Bezeichnung, die semantisch-assoziativ irgendwo zwischen Robin Hood und Piraten der Karibik angesiedelt ist, was weniger der Realität nahekommt als den Bedürfnissen westlicher Fernsehzuschauer nach einfacher Welterklärung.
Was von den Schweizer Medien zu erwarten wäre, ist die Diskussion der Desinformations-Problematik der Geheimdienste. Aber weit gefehlt. Im «Echo der Zeit» von gestern Abend (26.April) zum Beispiel wird mit eifriger Seriosität diskutiert, wie und ob die Experten den Einsatz von Giftgas überprüfen können. Als ob es darum ginge. Vielleicht wird man Rückstände von Sarin nachweisen können. Und weiter? Wo kommt das Giftgas her? In der Geschichte der «Erkenntnisse westlicher Geheimdienste» gibt es eine schier endlose Liste von fabrizierten Stories, die den Zweck verfolgten, die öffentliche Meinung zu manipulieren.
Die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddams
Wieviel Experten haben monatelang Beweise für die famosen Massenvernichtungswaffen des Saddam-Regimes im Irak gesucht? Und wie viele Monate lang haben die europäischen Nachrichtensendungen das Spiel mitgemacht? Wie viele Bildbeiträge habe ich selbst 2002 und 2003 in der Schweizer «Tagesschau» zusammengeschnitten, auf denen UNO-Experten und Bilder von irgendwelchen Granaten zu sehen waren, in denen «Spurenelemente» von irgendwelchen Uranrückständen, bakteriologischen Kampfstoffen oder verdächtigen chemischen Substanzen vermutet wurden?
Es waren viele Beiträge über lange Monate, und all dem war eines gemeinsam, nämlich die subtile Suggestion, welche fleissig an der Konstruktion der Main Stream Opinion wirkte: Der Bösewicht Saddam hat Massenvernichtungswaffen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sie finden.
Er hatte sie offenbar nicht, die Massenvernichtungswaffen. Und die Düpierten von damals werden die Düpierten von morgen sein. Denn der heutige Journalismus hat ein kurzes Gedächtnis. Schlimmer: Die rasenden News-Fabriken haben kaum noch Zeit für Gedächtnis.
Die lange Liste geheimdienstlicher Manipulationen
Die Liste der geheimdienstlichen Elaborate ist ermüdend lang. Im August 1964 wurde ein amerikanisches Kriegsschiff in der Bucht von Tonkin von vietnamesischen Schnellbooten angegriffen. Der Vorfall lieferte der Regierung Lyndon B. Johnson den Grund für den Beginn des Vietnamkrieges. Es war eine vom Geheimdienst konstruierte Falschinformation, wie Pentagon-Mitarbeiter 1971 aufdeckten.
Vier Jahrzehnte später hatte sich nichts geändert, obwohl – oder gerade weil – die Fernsehkameras an jedem Ort der Welt die Illusion von Unmittelbarkeit erzeugen. Die Medien der Welt sahen zu, wie Aussenminister Colin Powell 2003 vor den Vereinten Nationen trübe Satellitenfotos von Zisternenlastwagen zeigte und dabei versicherte, dies seien Saddam Husseins rollende Laboratorien für bakteriologische oder chemische Waffen. Es waren Fotos von Wassertransportern, mehr nicht. Powell behauptete später, er habe nicht gewusst, dass die CIA ihm Dokumente geliefert habe, die auf Fälschungen beruhten. Die Regierung George W. Bush führte die Welt in die Irre, um einen Krieg zu beginnen, der lange schon beschlossene Sache war.
Die CIA konstruierte eine Menge «Geheimdienst-Erkenntnisse», um Saddam Hussein Nuklearwaffen unterzuschieben. Joseph Wilson, ein amerikanischer Diplomat, wurde auf die falsche Fährte gesetzt, hatte aber genug Anstand und Ehrgefühl, um die notorischen Erkenntnisse seines Geheimdienstes als das zu entlarven, was sie waren: plumpe, amateurhaft fabrizierte Fälschungen.
Die internationalen Fernsehstationen verbreiteten die ergreifenden Story der Krankenschwester Najirah, die in einem Hearing der Menschenrechtskommission des US-Kongresses unter Tränen beteuerte, sie habe gesehen, wie irakische Soldaten den kleinen wehrlosen Babies in einem kuwaitischen Spital die Schläuche aus den Brutkästen zogen. Najirah war in Wirklichkeit die Tochter des kuwaitischen Botschafters in Washington, und die Brutkasten-Story war die Erfindung einer PR-Agentur, die für die westlichen Geheimdienste arbeitete.
Grauzone der Legalität
Ein Schattenreich der Manipulation und Fabrikation von Desinformation: Die notorischen Secret Services arbeiten in der Grauzone der Legalität und haben eine Menge auf dem Kerbholz. Wer stützte 1953 den iranischen Premier Mossadegh? Wer stürzte 1954 den Reformpräsidenten Jocobo Arbenz in Guatemala? Wer bildete die lateinamerikanischen Militärs in Panama in Counterinsurgency-Strategien aus? Wer finanzierte und unterstützte die Militärputschs in Lateinamerika? Wer erfand die Operation Condor in Südamerika, wer die Operation Phoenix in Vietnam? Wer unterstütze und finanzierte paramilitärische Einheiten, die in Italien den Terror säten? Wer baute Savimbis Unita in Angola auf? Wer baute die Mudschaheddin in Afghanistan auf? Wer lieferte den Contras in Nicaragua Waffen und bezahlte mit Kokain? Und Bagram? Guantánamo? Abu Ghraib? Viele Fragen, stets die gleiche Antwort.
Doch das scheint für die meisten Medien kein Thema zu sein. Es ist immer wieder frappierend zu sehen, wie dieselben Journalisten, die jahrzehntelang treu und brav auf die mehr oder weniger schlau fabrizierten «Erkenntnisse westlicher Geheimdienste» hereingefallen sind, heute stets aufs neue jeden Brei löffeln, den die Schlapphüte ihnen vorsetzen.