Nennen wir ihn Pouya, ein altpersischer, aber nicht alltäglicher Name. Auch sein wahrer Name stammt aus vorislamischer Zeit und ist nicht sehr verbreitet im Iran. Anfang sechzig ist der Mann und war bis vor kurzem ein einflussreicher Manager der islamischen Republik: Einkaufs-, Personal- und zuletzt Finanzmanager eines staatlichen Unternehmens mit über hunderttausend Mitarbeitern. Pouya hat sich nun in die frühzeitige Pension gerettet. Sein Aufstieg und Fall zeigen die Dramatik des Machtkampfes an der Spitze der Teheraner Herrschaftsclique und lassen ahnen, wie es im Land zugeht – und worum es eigentlich geht.
Seine Position liess Pouya jahrelang an jener sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit teilhaben, die im Iran nur ein sehr kleiner Kreis geniesst. Sein Gehalt lag samt offiziellen Zuschlägen und Zuwendungen bei etwa 11’000 US-Dollar monatlich; unvorstellbar viel für iranische Verhältnisse. Über Nebeneinkünfte und Finanztransaktionen „unterm Tisch“ redet er nicht. Seine Frau betreibt in Teheran einen Schönheitssalon für Damen der Oberklasse. Geschäftsreisen rund um die Welt gehörten in all den Jahren zu seiner wichtigen Aufgabe. Auch wegen Zahnarztbesuchen oder privaten Besorgungen hielt er sich oft in Europa, vor allem in Deutschland, auf. Pouya ist kein religiöser Mensch, er trinkt gern Rotwein und ist ein versierter Pokerspieler.
Wie und warum dieses märchenhafte Dasein sein Ende fand, hat mit politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen zu tun, die sich seit vier Jahren im Iran zugespitzt haben. Die Parallele zur Zeitspanne der Präsidentschaft Donald Trumps ist nicht zufällig. Pouya ist bei diesem Sturm sehr weich gelandet, er verbringt jetzt seine frühzeitige Pensionierung in einem Vorort von Teheran und bekommt etwa 900 Euro Ruhegehalt, immerhin so viel wie ein Universitätsprofessor.
Khameneis Personalrochaden
Es war kein plötzlicher Sturm, sondern eine sukzessive, aber aufwühlende Entwicklung, die Pouya vom überreichlich gefüllten Futtertrog vertrieb. In den vergangenen vier Jahren hat Ali Khamenei, der mächtigste Mann des Iran, ein grundsätzliches Revirement an der Spitze aller wichtigen Institutionen des Landes vorgenommen. Der mächtige Chef der Justizbehörde, Sadegh Laridjani, musste nach einer Korruptionsaffäre, die der später hingerichtete Blogger Zam aufgedeckt hatte, gehen.
Ihm folgte Ibrahim Raissi, den die Opposition Blutrichter nennt, weil er in den 1980er Jahren an Massenhinrichtungen beteiligt war. Laridjanis älterer Bruder Ali, der zwölf Jahre lang Parlamentspräsident war, wurde bei der letzten Wahl nicht einmal mehr in die Kandidatenliste aufgenommen. Das Parlament leitet jetzt Bagher Ghalibaf, ein Ex-Kommandant der Revolutionsgarden, der das Vertrauen Khameneis geniesst. Auch den Führungsstab der Revolutionsgarden hat Khamenei vollständig ausgetauscht.
Und im Frühjahr solle ein „junger Revolutionär“ Hassan Rouhani als Chef der Exekutive ablösen, fordert das Staatsoberhaupt des Iran bereits seit vier Jahren. Seine Personalrochade setzt sich auch im oberen und mittleren Management fort, mal lautlos und ruhig wie im Fall Pouyas, mal spektakulär und mit Gerichtsprozessen wegen Korruption oder anderer Vergehen. Pouyas Vorgesetzter sitzt im Gefängnis.
Warum diese Umwälzungen, auf was bereitet sich Khamenei vor?
In den vergangenen vier Jahren hat er oft wiederholt, dass eine Verständigung mit den USA weder leicht noch schnell erreichbar sei – einerlei, wer in Washington regiere. Soll heissen: Der Druck aus dem Ausland und die quälenden Sanktionen werden weiterhin bestehen, dem Land stünden noch schwierigere Zeiten bevor. Zudem könnte sich genau in dieser Zeit die Frage aller Fragen stellen: Wer soll dem gesundheitlich angeschlagenen 82-Jährigen nachfolgen? Angesichts vieler Unwägbarkeiten schafft Khamenei, solange er am Leben ist, mit seinen radikalen Massnahmen Gewissheiten: für sich selbst, für sein System und für seinen Nachfolger, wer auch immer dieser sein mag.
„Geht in die Elendsviertel“
Pouya weiss genau, was im und um den Iran passiert. Er sei in einen gewaltigen Weltstrudel, eine politische Umwälzung innerhalb der Führung des Iran sowie den wirtschaftlichen Niedergang des Landes geraten, sagt er, und fügt hinzu, dass er froh sei, immerhin seine Haut gerettet und noch ein Auskommen zu haben. Via Skype erzählt er, dass man sich anhand seines Falls vorstellen könne, wie tief bei dieser Krise jene gelandet seien, die nicht so wohlhabend, abgesichert und gut vernetzt waren wie er.
Denn trotz allem gehöre er immer noch zu den Privilegierten, beklagen könne er sich nicht, allerdings auch kaum seine Wohngegend verlassen, unter anderem wegen Corona. Wolle man das wahre Elend sehen, das das Land im Griff habe, müsse man sich in die Slums im Süden Teherans begeben, sagt Pouya: später Realitätssinn eines tief Gestürzten?
Das Karitative ist konterrevolutionär
In diese Elendsviertel haben sich manche begeben und teils teuer dafür bezahlt. Einige von ihnen, wie die Vorstandsmitglieder der Imam-Ali-Gesellschaft, sitzen deshalb seit zwei Jahren im Gefängnis: weil sie den Slumbewohnern geholfen und sich um Kinder und Jugendliche gekümmert haben, die ihr Dasein auf den Strassen der iranischen Grossstädte fristen. Laut Presseberichten gibt es im ganzen Land Millionen Kinderarbeiter, wie sie im Volksmund heissen.
Die Imam-Ali-Gesellschaft war ein karitativer Verein, bekannt und angesehen im ganzen Land, mit über zehntausend Freiwilligen, hauptsächlich Studierende. Sie hatten ihre Gemeinschaft nach Ali, dem ersten Imam der Schiiten und dem Schwiegersohn des Propheten, benannt, weil er für die Schiiten das Sinnbild von Anstand und Makellosigkeit ist. Sprichwörtlich ist, wie Ali allabendlich anonym und mit einem Sack voller Lebensmittel die Behausungen der Armen aufsuchte.
Seit dem 20. Juli 2020 ist das Büro der Imam-Ali-Gesellschaft in Teheran versiegelt. Vier der Vereinsgründer sitzen seit zwei Jahren ohne Anklage im Teheraner Evin-Gefängnis und warten auf ihren Prozess.
Organisiertes Handeln gegen Armut gefährde die nationale Sicherheit, laut darüber zu reden oder zu schreiben sei Schwarzmalerei, die nur den Feinden helfe, so die Logik der Herrschenden.
Der anonyme Chronist
Will ein Chronist als Zeitzeuge das fortdauernde Verschwinden der iranischen Mittelschicht dokumentieren und darüber berichten, muss er deshalb sein Inkognito wahren – wie etwa jener Autor von Sozialreportagen, der sich Reza Shokri nennt, ein persischer Allerweltsname wie Heinz Müller im Deutschen. Umfassend ist die Bandbreite seiner Reportagen, bildhaft und lebensnah seine Beschreibungen. Sie erscheinen regelmässig auf der renommierten Webseite «radiozamaneh».
Wie eine Kamera registriert Shokri, wie Menschen in den Slums vegetieren, warum sie dort gelandet sind und welche Zukunft sie für sich selbst und den Iran sehen. Mit Erschütterung erfährt man in seinen Reportagen, wie viele Hochschulabsolventen samt ihrer Familien im Elend gelandet sind: weil sie arbeitslos sind oder einfach ihre Miete nicht bezahlen konnten. Das sind bleibende Dokumente einer Zeitenwende.
Seine letzte Reportage stammt vom Dezember 2020 und trägt den Titel: «Die wollen uns umbringen». «Die», das sind wie überall die Mächtigen. Shokri berichtet über das Auf und Ab des Dollarkurses auf dem Schwarzmarkt und beschreibt plastisch und nachvollziehbar, wie die US-Währung den Alltag der Iranerinnen und Iraner bestimmt und wie die Preise elementarer Güter wie Brot, Fleisch und Eier an den Dollar gekoppelt sind. Der offizielle Wechselkurs des US-Dollar liegt bei 1 zu 4’200 Toman, auf dem Schwarzmarkt bei 1 zu 24’000 (Stand Anfang Dezember 2020). Dieser Schwarzmarktkurs spiegelt die Realität der Lebensmittelpreise im Iran wider.
Doch manchmal ist es gar nicht nötig, anonyme Reportagen zu lesen, um zu begreifen, was im Iran los ist. Auch aus manchem offiziellen Mund dringt ab und zu die Wahrheit heraus.
Das Elend und der Volksvertreter
Mostafa Reza Hosseini Ghotb Abadi weiss genau, wann die Verzweiflung des Volkes begann und wie sie um sich griff. Er muss es wissen: Der 50-Jährige, der einen Ingenieurstitel trägt, ist Abgeordneter und leitet die Kommission für Beschwerden und Klagen des Volkes im iranischen Parlament. Eine bessere Adresse für die Erkundung der Volksmeinung gebe es nicht: Er sei das Sprachrohr der Armen und Entrechteten, berichte über die Arbeit seiner Kommission und spreche über eigene Erlebnisse und Erfahrungen, stellt die Webseite Fars ihn vor. Für diesen Abgeordneten trägt – wie für fast alle seine Kollegen im Parlament – nicht Donald Trump, sondern Hassan Rouhani die Hauptverantwortung für die iranische Misere.
Ghotb Abadi wird bei der Beschreibung der Lage grundsätzlich und geht weit zurück in die Geschichte, er weiss, wie alles anfing: «Das Volk meint zurecht, die Fahrt ins Jammertal begann mit der Zinswirtschaft: als die Banken das Gottesgebot, den Koran und die Religionsvorschriften missachteten und mit horrenden Zinsen die Ersparnisse des Volkes einheimsten, um diese dann mit noch höheren Zinsen zu verleihen. So trieben die Wucherer das Volk ins Elend, so begann unser Weg in Verderbnis und Ausweglosigkeit.»
Für den Volksvertreter war das Mass am 15. November 2020 voll, an diesem Tag trat er in seinem Parlamentsbüro in den Hungerstreik. Damit wolle er gegen die Regierungspolitik demonstrieren und der Öffentlichkeit kundtun, wie «himmelschreiend» Armut und Ungerechtigkeit in seiner Heimatstadt Shahr Babak seien, liess er verlauten. In seinem Wahlkreis in der Provinz Kerman gebe es nicht genug zu essen, dort herrsche nackte Not, die Menschen hungerten, es fehle sogar an Trinkwasser, deshalb wolle er bei seinem Hungerstreik auch nicht trinken.
Medienwirksam liess sich der Parlamentarier am ersten Tag seines Fastens von Journalisten ablichten, einige Tage lang las man auf Webseiten, die den Hardlinern nahestehen, hier und da über seine Aktion. Doch das Medienecho verhallte so schnell, wie es entstanden war. In der coronaverseuchten Öffentlichkeit ist auch im Iran fast alles kurzlebig.
Die Scham des Freitagspredigers
Die Realität in der Stadt Shahr Babak ist aber weiterhin unverändert. Nicht nur dort, sondern im ganzen Land verlören die Menschen in ihrer Verzweiflung ihren Glauben, warnte der Abgeordnete: seine letzte öffentliche Äusserung in Sachen Armut. Doch auch diese Warnung fand keinen grossen Widerhall. Seitdem hört man von ihm nichts mehr.
Zwei Wochen nach dem kurzlebigen Hungerstreik sagte Jawad Bagheri, Freitagsprediger der Stadt Assalem, in seiner Predigt, es sei beschämend und erniedrigend, als Freitagsprediger allwöchentlich über die Preise von Eiern und Huhn sprechen zu müssen. Diese bemerkenswerte Predigt ist als Videoclip verewigt, denn coronabedingt treten die Prediger der Islamischen Republik seit Monaten nur noch virtuell auf.
Zwischen dem Städtchen Assalem im Norden und der Grossstadt Shahr Babak im Süden des Iran liegt eine Entfernung von 1’200 Kilometern. Assalem ist von Wäldern und Bergen umgeben, Shahr Babak liegt am Rande der Wüste. Doch die Probleme sind hier wie dort die gleichen. In dem grossen weiten Land kennt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung offenbar nur noch dieselben wenigen Gesprächsthemen: Armut, Arbeitslosigkeit und Verteuerung.
Die Hardliner um Khamenei machen Rouhanis Regierung für das Elend verantwortlich. Doch Tatsache ist, dass diese Probleme nicht erst in den vergangenen acht Jahren entstanden sind. Ausserdem werden alle wichtigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entscheidungen von Khamenei selbst getroffen.
Die amtliche Statistik spricht
Wie fast alles hat auch die Armut in der Islamischen Republik eine offizielle Definition. Für eine vierköpfige Familie liegt die amtliche Armutsgrenze laut dem Amt für Statistik bei 10 Millionen Tuman, etwa 300 Euro (Stand Mitte Oktober 2020).
Vor zwei Jahren lag die offizielle Armutsgrenze noch bei 2,73 Millionen Tuman.
Diese zwei Zahlen sprechen Bände über die horrende Inflation und die Folgen des Sanktionsregimes im Iran.
Der Mindestlohn liegt derzeit offiziell bei 1,91 Millionen Tuman, etwa 60 Euro, und nicht jeder Arbeitgeber zahlt diesen Betrag. Die durchschnittliche Miete für eine 50-Quadratmeter-Wohnung in Teheran liegt bei 4 Millionen Tuman. Niemand wundert sich, wenn Wohnungsbauminister Mohammad Eslami sagt, ein Viertel der iranischen Bevölkerung lebe in den Slums am Rand der Grossstädte.
Das iranische Parlament hat eine Recherchekommission, die regelmässig eigene Studien über soziale Themen veröffentlicht. Etwa 40 Prozent der 80 Millionen Iraner*innen lebe unter der offiziellen Armutsgrenze, die Mehrheit der Arbeiter in absoluter Armut, ergab die jüngste davon.
20 Millionen Familien im Iran bräuchten Lebensmittelsubventionen, sagte kürzlich Präsident Rouhani – er sei entschlossen, diese Hilfe jeder bedürftigen Familie zukommen zu lassen.
Diese erschreckenden Zahlen sind durchschnittlich und beziehen sich auf das ganze Land. Es gibt regionale Unterschiede. In der Provinz Belutschistan an der Grenze zu Pakistan regiere der Hunger, schreibt die Webseite Tasnim, die den Hardlinern nahesteht.
Es brennt heimlich
Unter der Oberfläche der iranischen Gesellschaft tobe ein Vulkan, die blutigen landesweiten Unruhen, die vor einem Jahr gleichzeitig in mehr als 100 Städten des Iran stattfanden, könnten jederzeit wieder ausbrechen, sagt der Soziologe Said Madani von der Universität Teheran. Madani gilt als regimekritisch, doch seine Einschätzung teilen auch Universitätslehrer, die den Herrschenden nahestehen.
Die Professoren stützen ihre Analysen auf handfeste Daten und Fakten, doch ganz abgesehen von der Entschlossenheit der iranischen Sicherheitskräfte, jegliche Massenproteste gewaltsam niederzuschlagen, stellt sich die Frage, ob eine landesweite Rebellion in Zeiten der Pandemie überhaupt denkbar ist.
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Übernahme mit freundlicher Genehmigung vom Iran Journal