Die Stars dieses Sommers schillern und glänzen und ihre Auftritte werden bejubelt. Hinter, vor oder neben ihnen steht aber in jeder Oper eine Gruppe, die dem Gesamtwerk erst die stabile Basis gibt, auf der sich die einzelnen Stars dann so richtig entfalten können: der Chor. Aus voller Kehle ist er immer dabei.
Ein Chor ist die Gemeinschaft von Sängerinnen und/oder Sängern, in der jede Stimmlage mehrfach besetzt ist. So nüchtern erklärt Wikipedia den Begriff. In Wirklichkeit ist der Chor viel mehr. Im antiken griechischen Drama hat er die Geschichte kommentiert, in der Oper sorgt er für geheimnisvolle, bedrohliche, fröhliche oder traurige Stimmung. Und er kommentiert das Geschehen. Je nachdem.
In Salzburg sind es zwei Chöre, die ebenso Aufmerksamkeit verdienen wie die Stars.
Da ist einerseits der Wiener Staatsopernchor, der – wie die Wiener Philharmoniker – während der Salzburger Festspiele hier dominiert. Dieses Jahr ist aber auch der russische Chor von „musicAeterna“ hier, den Kritiker mittlerweile als einen der weltweit Besten bezeichnen. Insbesondere die tiefen, russischen Männerstimmen sind von geradezu betörender Intensität.
Der Wiener Staatsopernchor feiert gleich auch noch sein 90-jähriges Jubiläum. Seit sechs Jahren wird der Chor – während der Salzburger Festspiele – von Ernst Raffelsberger (Foto: © Salzburger Festspiele) geleitet. Den Rest des Jahres verbringt Ernst Raffelsberger im Zürcher Opernhaus, und zwar ebenfalls mit Chören. Er ist also das ganze Jahr umringt von singenden Gruppen.
Ist das nicht langweilig? Immer das Gleiche? Auch in den Ferien? „In Salzburg ist es doch ganz anders als im normalen Opernbetrieb“, widerspricht Raffelsberger, räumt aber ein, dass es im Juli, während der Proben, ganz schön anstrengend war. „Jetzt im August ist es dagegen recht entspannt.“ Immerhin sind es vier Produktionen, die Raffelsberger mit dem Chor begleitet. Verdis „Aida“, Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“, Alban Bergs „Wozzeck“ und Donizettis „Lucrezia Borgia“. „Diese Vielfalt finde ich grossartig“, schwärmt er. „Da hatten wir zum Beispiel an einem Tag zwei Proben von ‚Lady Macbeth‘ mit Mariss Jansons und eine für ‚Aida‘ mit Riccardo Muti. Das hat man in dieser Kombination als Chorleiter sonst nirgends. Mir macht es wirklich Spass, auf mehreren Baustellen gleichzeitig zu arbeiten.“
Eine „Baustelle“, auf der Raffelsberger in Salzburg nicht arbeiten konnte, war Mozarts „Clemenza di Tito“ unter der Leitung von Teodor Currentzis, der mit dem eigenen Orchester und Chor „musicAeterna“ aus Russland angereist war. Dieser Chor steht unter der Leitung von Vitaly Polonsky. „Der Chor ist phänomenal …!“, urteilt auch Ernst Raffelsberger. Womit er aber nichts gegen den Wiener Staatsopernchor gesagt haben will. „Der Wiener Chor hat andere Qualitäten und arbeitet unter anderen Voraussetzungen. Und ich denke, wir haben hier in Salzburg mit dem Wiener Chor ein ziemlich hohes Niveau erreicht. Und wenn ich im Sommer zwei Monate hier mit ihnen arbeite, ist es schon fast eine Urlaubssituation. Da staut sich nicht so viel auf und es hat auch keine Konsequenzen für den Rest des Jahres. Es ist eine ziemlich entspannte Arbeit.“
Sein russischer Kollege Vitaly Polonsky (Bild: © Alexey Sukhanov) hat „Clemenza di Tito“ schon in Perm mit dem Chor einstudiert. „Aber eigentlich haben wir hier in Salzburg noch einmal von vorn angefangen, weil die Bühnen-Inszenierung hinzukam“, sagt Polonsky. „Alles war anders. Ausserdem ist die Bühne der Felsenreitschule viel grösser als unsere in Perm. Akustisch war es aber kein Problem.“
„Clemenza di Tito“ ist in Salzburg nicht die einzige Aufgabe des Chores. Hinzu kamen das Mozart-Requiem und ein düster-geheimnisvolles Chorwerk von Alfred Schnittke über das Gebet eines armenischen Mönches aus dem Mittelalter. Also auch der Chor von „musicAeterna“ hat in Salzburg zu tun … „Trotzdem: es war nicht harte Arbeit, sondern interessante Arbeit“, sagt Polonsky. „Leider habe ich als Tourist nicht viel von Salzburg mitgekriegt, aber man spürt hier eine ganz besondere Atmosphäre.“
Für den Chor sei die Arbeit mit Regisseur Peter Sellars ein grosses Vergnügen gewesen, erzählt Polonsky. Zumal der Chor nicht nur singt, sondern als Flüchtlingsgruppe auf der Bühne durchaus auch schauspielerisch gefordert ist. „Peter Sellars gibt zwar keine Antwort auf die Probleme unserer Zeit, aber er schafft ein Umfeld, in dem man selbst versuchen kann, einen Weg zu finden, wie man auf Gewalt und Grausamkeit reagieren will. Und wenn man selbst mitten drin auf der Bühne steht, wird einem völlig klar, dass Gewalt nicht die Antwort auf Gewalt sein kann. Sondern ‚clemenza‘“, fügt er noch bei, also Milde und Barmherzigkeit.
Demgegenüber braucht der Wiener Staatsopernchor bei „Aida“ weniger schauspielerische Fähigkeiten. Dort ist vieles statisch. Das macht die Sache allerdings auch nicht unbedingt einfacher.
Ernst Raffelsberger: „Aida ist eigentlich ein sehr intimes Stück, ausser im Triumphbild. Für mich ist es interessant, dass der Chor sich in drei Gruppen aufteilt: das Volk, die Priester und die Gefangenen. Ich versuche, jeder Gruppe einen eigenen Charakter zu verleihen, damit sie sich deutlich voneinander unterscheiden. Und da kann ich sagen, dass Riccardo Muti das auch sehr unterstützt. Es darf nicht nur laut und bombastisch sein, sondern auch leise Töne sollen zum Klingen kommen.“
Riccardo Muti und der Chor kennen sich seit vielen Jahren. „Muti hatte ja sein Debut an der Wiener Staatsoper 1973 auch schon mit ‘Aida’ – und dem Staatsopernchor …“, sagt Raffelsberger. „Es herrscht also gegenseitige Freundschaft, und Zuneigung.“ Und überhaupt: die Probenarbeit mit Muti sei richtig lustig. „Er kennt die Stücke aus dem Effeff. Meistens kommt er mit einer Anekdote auf die Probe, er weiss genau, wie er Spannung in den Chor bringt – oder wie er ihn entspannt. Er ist nie verkrampft und die Arbeit war jedes Mal sehr erfreulich.“
Chor und Orchester „musicAeterna“ in der Schweiz:
27. August 2017
Grand Théâtre Genève
„Clemenza di Tito“, konzertant
4. September 2017
Locarno, «settimane musicali»
Mozart Requiem
Werke von Henry Purcell und Alfred Schnittke