Es sieht so aus, als gerate die deutsche Parteienlandschaft nicht nur in Bewegung, sondern möglicherweise sogar in schwere See. Mit ihrer Ankündigung, im nächsten Jahr mit einer neuen Sammlungsbewegung und populären Themen auf Stimmenfang gehen zu wollen, hat die jahrelang in führenden Positionen für die kommunistische «Linke» tätige Sahra Wagenknecht jedenfalls schon jetzt gehörig für Aufregung gesorgt.
Als die 54-jährige Sahra Wagenknecht, umrahmt von zahlreichen Gefolgsleuten, zum Wochenbeginn vor der Bundespressekonferenz in Berlin ihre politischen Zukunftspläne vorstellte, war das keine wirkliche Überraschung mehr. Seit Wochen, ja Monaten, kursierten Gerüchte, das «Gesicht der Linken», die jahrelange Galionsfigur, habe innerlich des Längeren schon mit den bisherigen Weggenossinnen und -genossen gebrochen, weil sie deren Politik in mannigfaltiger Weise nicht mehr teile. Und damit befinde sie sich keinesfalls allein, sondern könne sich auf eine ansehnliche Gefolgschaft stützen.
Jetzt also ist es amtlich. Zunächst soll eine «Bewegung Sahra Wagenknecht (BSW) - Bündnis für Vernunft und Gerechtigkeit» als Plattform einer neuen Partei gegründet werden. Und als Testläufe gelten der Urnengang zum Europaparlament im Mai 2024 und die anschliessenden Landtagswahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Nun hat es in der mehr als 70 Jahre langen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bereits zahlreiche ähnliche politische Anläufe gegeben. Doch, mit Ausnahme der Grünen, verliefen diese allesamt mehr oder weniger im Sand. Das könnte sich ändern.
Enorme Popularität
Tatsache ist, dass sich Sahra Wagenknecht im Verlauf der Zeit eine enorme Popularität erworben hat. Und zwar keineswegs allein auf Seiten der politischen Linken, sondern bis weit in bürgerlich-konservative Kreise hinein. In den diversen Talkshows zählt sie erkennbar zu den bevorzugten Gästen. Stets zurückhaltend, elegant gekleidet, auf den Punkt hin intelligent und verständlich argumentierend, selbst bei hitzigen Debatten und aggressiven Attacken auf ihre Person nie aus der Rolle fallend – kurz, eine Politdame, die breite Anerkennung, ja sogar Bewunderung findet. Und zwar ungeachtet aller Querelen, die sie mit der bisherigen Partei hatte. Oder jene mit ihr, der brillanten Kennerin und Exegetin Goethes und Hegels.
Noch sind Wagenknecht und ihre Jüngerschar konkrete Antworten nach ihrem Parteiprogramm schuldig geblieben. Aber schon die angegebenen Eckdaten lassen erahnen, dass hier erhebliches Gefahrenpotential für die traditionellen politischen Kräfte im Bund wie auch in den Ländern erwächst. Vereinfacht gesagt, hat die «Rebellin» praktisch sämtliche Themen und Probleme aufgegriffen und auf ihr Panier geschrieben, die in der Gesellschaft insgesamt zunehmend Unruhe, Angst, Ungewissheit und Sorge bereiten.
Von Migration bis Klimaschutz
Das Wagenknecht-Projekt reicht von der äussersten Linken bis ganz Rechtsaussen. Es fordert eine sehr viel stärkere Hinwendung zur Sozial-, Gesundheits-, «humanen» Pflege- und rigoroseren Steuerpolitik – und vertritt damit klassische Thesen der «Linken». Zugleich verlangt es eine radikale Veränderung bei der bisherigen Migrations-Praxis. Schon lange liegt Sarah Wagenknecht in dieser Frage mit ihrer bisherigen Partei im Clinch, weil sie den bisherigen, praktisch unkontrollierten Zuzug beenden möchte.
Dass sie damit der rechtsextremen AfD in die Quere kommt, die bislang – quasi monopolistisch – auf der Zuwanderungs-Wiese grasen konnte, ist unübersehbar. Und die bürgerliche Mittelschicht, die zum Beispiel das Abschalten auch der letzten Atomkraftwerke in Deutschland für einen groben Fehler hält, kommt ebenfalls nicht zu kurz. Weil das «Bündnis für Vernunft und Gerechtigkeit» den Klimaschutz weniger dringend erachtet, als es etwa die Grünen tun.
Kurz und gut – was hier entsteht, ist auf Abspaltung angelegt. Das Abenteuer Wagenknecht trifft schon jetzt die Partei «Die Linke» mit voller Wucht. Diese war nach der Wiedervereinigung aus der einstigen, allmächtigen DDR-Staatspartei namens SED hervorgegangen und schien – nach mehrfachen Namenswechseln – auf dem besten Weg zu sein, zumindest in Ostdeutschland zu einer Macht zu werden. Das ist vorbei. 2021 verdankte die Linke ihren Wiedereinzug in den Bundestag allein der Tatsache, dass drei ihrer Kandidaten Wahlkreise direkt eroberten.
Jetzt sind 10 Abgeordnete aus der Partei aus- und Sahra Wagenknecht zur Seite getreten. Damit wird die Linke demnächst im Berliner Parlament ihren Fraktionsstatus sowie sämtliche damit verbundenen Privilegien und staatlichen Zahlungen verlieren. Das gilt auch für rund 100 Mitarbeiter und deren Arbeit.
Noch nicht das Sterbeglöcklein
Ordentlich Bewegung also auf der Parteienebene. Und zwar, ohne dass eine Wahl stattgefunden hätte. Doch auch bei Deutschlands extremen politischen Rechtsaussen, der «Alternative für Deutschland», herrscht helle Aufregung. Schliesslich – was soll aus einer Partei werden, wenn ihr aus einer neuen Bewegung der Mitte das einzige, wirkliche Zugpferd namens «Migrationspolitik» genommen wird? Damit wäre natürlich noch nicht das Sterbeglöckchen für die AfD eingeläutet. Immerhin verfügt sie mittlerweile für durchaus stabile organisatorische Strukturen und personelle Kader.
Allerdings weisen erste demoskopische Umfragen aus, dass sich jeder vierte Bundesbürger «prinzipiell» vorstellen könnte, den «Neuen» zu wählen. Das sind vermutlich nicht die nationalistisch gestimmten, von Fremdenangst gepeinigten und Antisemitismus predigenden Hardcore-AfDler. Wohl aber Teile derer, die vor allem aus Protest gegen was auch immer ins rechte Lager gerutscht waren.
«Les extremes ce touchent» lautet ein Satz aus der französischen Philosophie, die Extreme berühren sich. Das trifft, wie beschrieben, gewiss auf Sahra Wagenknechts von thematisch ganz links bis ans rechte Ufer reichende Bewegung.
Wagenknecht und das Beispiel Lafontaine
Damit könnte sie, ohne Frage, Geschichte schreiben. Geschichte über menschliche Schicksale und politische Spaltungen. Vielleicht könnte sie sogar eine Art neue Rosa Luxemburg werden? Wobei ein blosser Blick in die Historie zeigt, dass die erbittertsten Schlachten stets unter und zwischen Kräften der Linken stattfanden. Und das sogar bis vor nicht einmal so langer Zeit.
Ein gewisser Oskar Lafontaine, Vorsitzender der SPD und Bundesfinanzminister im Kabinett Gerhard Schröder, warf dem Kanzler und seiner Partei 1999 den gesamten Bettel hin, weil er mit der Politik nicht mehr einverstanden war. Er verliess im Zorn die Sozialdemokratische Partei und ging zur damaligen WASG, die dann mit den Linken verschmolz. In den folgenden Jahren traten auch viele andere SPD-Genossen bei den «Sozis» aus. Die Partei hat den Aderlass und den Richtungskampf bis heute nicht verkraftet.
Oskar Lafontaine ist der Ehemann von Sahra Wagenknecht.