«Unsere Aufgabe ist es, die Bösen zu töten, und wen kümmert es, was geschieht, nachdem wir die Bösen getötet haben? Und wenn wir in anderthalb Jahrzehnten erneut loslegen müssen, um weitere Bösewichte zu töten, können wir das ebenfalls tun, aber wir werden uns nicht an der Staatsbildung beteiligen.»
Donald Rumsfeld, US-Verteidigungsminister von 2001 bis 2006 im Kabinett von George W.Bush
Ohne Plan, ohne Strategie, ohne Kenntnis von Gesellschaft und Kultur – warum der US-Krieg am Hindukusch in einem Desaster endete.
Manche Behörden agieren im Verborgenen, und der Verdacht liegt auf der Hand, dass diese Heimlichkeit durchaus auf Absicht beruht. Eine wachsende Zahl von Journalisten, in diesem Falle jene der «Washington Post», geben sich glücklicherweise mit einem solchen politischen Versteckspiel nicht zufrieden. So entdeckten Redakteure des Blattes eine US-Bundesbehörde namens «Office of the Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction» (SIGAR), welche zwecks historischer Dokumentation Hunderte von Interviews mit Kriegsteilnehmern geführt hatte.
Aussichtsloses Unterfangen
Zwar musste erst ein Prozess gegen die Behörde helfen, die Dokumente freizugeben, aber in den USA gibt es immerhin den «Freedom of Information Act», welcher der Öffentlichkeit Zugang zu vielen als geheim eingestuften Papieren erlaubt. Die «Post»-Journalisten entdeckten auch Notizen, die sich der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld über die Lage in Afghanistan machte, er breitete diese oft achtlos im Büro aus, so kam der Name «Schneeflocken» für diese Notizen zustande. Und schliesslich entdeckten die «Post»-Redakteure Interviews der Universität von Virginia, welche Angehörige dieser Hochschule mit Afghanistanveteranen geführt haben. All diese Informationen hat die «Washington Post» bereits in einer Artikelserie publiziert. Nun aber hat der «Post»-Journalist Craig Whitlock aus diesem riesigen Konvolut an Originalquellen ein brisantes Buch unter dem Titel «The Afghanistan Papers» verfasst – wohl im Anklang an die «Pentagon Papers», mit deren Enthüllung Daniel Ellsberg 1971 die Täuschung der Öffentlichkeit über den Verlauf des Vietnamkrieges publik gemacht hatte.
So gut wie jedes der Hunderte von Zitaten belegt: Der Kampf gegen die Taliban, der sogenannte «Kampf gegen den Terror», der Milliarden Dollar verschlungen hat, war von Anfang an ein aussichtsloses Unterfangen.
Weil der Erfolg ausgeblieben sei, habe sich die die Regierung in Washington – so äusserten sich viele der Befragten – bemüht, «die Öffentlichkeit systematisch in die Irre zu führen». Statistiken seien manipuliert worden, um zu zeigen, «dass die USA auf dem besten Weg seien, den Krieg zu gewinnen». So habe Armeegeneral Dan McNeill gesagt: «Es gab keinen Plan für den Feldzug. Es gab einfach keinen.» Dafür mussten von 2001 bis 2021 insgesamt 775’000 US-Soldaten und Soldatinnen in Afghanistan ihr Leben riskieren, 2300 von ihnen wurden getötet, 21’000 verwundet – nicht gezählt sind hier die Opfer anderer Nato-Staaten.
Fehler und Fehleinschätzngen
Anfangs, schreibt der Autor, sei die Regierung bemüht gewesen, den Aufenthalt In Afghanistan so kurz wie möglich zu halten. Folge für die Armeeangehörigen: Schmutzwäsche habe per Hubschrauber zu einer Basis in Usbekistan gebracht werden müssen, erst nach Wochen sei im afghanischen Stützpunkt Bagram eine Dusche installiert worden.
Fehlern im militärischen Alltag entsprachen Fehleinschätzungen auf strategischer Ebene. Robert Gates, einst CIA Direktor, später Verteidigungsminister, habe, so der Autor, beklagt, dass man überhaupt keine Datenbasis über Al-Qaida gehabt habe und dass man, zudem, zwischen Taliban und Al-Qaida nicht unterschieden habe. In der Tat: Al-Qaida ist ein arabisches, global agierendes Netzwerk, die Taliban sind ein afghanisches, vornehmlich paschtunisches Bündnis, das an den Angriffen vom 11. September 2001 nicht beteiligt war – kein Afghane gehörte zu den Attentätern, dagegen waren 15 von 19 Angreifern saudische Staatsbürger. Nach einem Jahr Krieg, schreibt der Autor, hätten sich nur noch wenige Anhänger von Al-Qaida in Afghanistan versteckt, viele seien vorher gefangen oder getötet worden. Der Krieg sei ein Krieg gegen militante Usbeken, Pakistani und Tschetschenen geworden – ein Krieg gegen Menschen, die «mit dem 11. September nichts zu tun hatten».
Vor allem sei die Frage des «Warum» nie gestellt worden – die Frage nach den Gründen, warum Al-Qaida und andere gegen die USA kämpften. Es habe ein «grundlegendes Verständnis der afghanischen Gesellschaft» gefehlt, die komplexen Beziehungen zwischen den Stämmen, die «ethnischen und religiösen Verwerfungslinien» habe man nicht begriffen, deshalb sei es einfacher gewesen, die Afghanen «in Gute und Böse» einzuteilen. «Mit von Geldscheinen gefüllten Taschen» sei die CIA in Afghanistan angerückt und habe «die Guten» angeworben – zu diesen hätten Kriegsverbrecher, Drogenhändler , Warlords und ehemalige Kommunisten gehört – um mit ihnen «die Bösen», nämlich die Taliban, zu bekämpfen.
«Nationbuilding» mit verheerendem Ergebis
Dabei waren die Warlords, die Führer verschiedener Stämme und Volksgruppen, die unzuverlässigsten Verbündeten. Der Autor schreibt: «Viele Warlords erwirtschafteten riesige Einkommen überwiegend mit illegalen Mitteln wie Drogenhandel oder Bestechungsgeldern, deren Höhe auch davon abhing, wie hoch das Amt des Warlords war. Infolgedessen wurde Korruption zu einem bestimmenden Merkmal dieser Regierung.»
Anders als Donald Rumsfeld es in einem seiner internen Papiere gesagt hatte, hätten sich, so der Autor, die USA dennoch an einem «Nationbuilding» versucht – mit verheerendem Ergebnis. 143 Milliarden Dollar seien für Wiederaufbau, Hilfsprogramme und die Ausbildung von Polizei und Armee ausgegeben worden – herausgekommen sei ein korrupter, dysfunktionaler Staatsapparat, «dessen Überleben von der militärischen Macht der USA abhing».
Noch schlimmer wurde es, als die USA im Jahr 2003 den Irak überfielen, um Saddam Hussein zu stürzen. Afghanistan geriet, fast, in Vergessenheit. Oberstleutnant Mark Schmidt, Mitglied der Special Forces, geschult in psychologischer Kriegführung, erklärte: «Offen gesagt, gingen wir die ganze Zeit herum und töteten Leute. Wir wurden eingeflogen, kämpften ein paar Wochen und wurden wieder herausgeholt – und natürlich rückten die Taliban sofort wieder nach.»
Um die Bevölkerung dennoch für das amerikanische Unterfangen zu gewinnen, versuchte man es mit dem Islam. Jemand habe gedacht, man müsse den jungen Afghanen Fussbälle schenken – mit aufgedruckten Zitaten aus dem Koran. Ein Parlamentsabgeordneter fasste gegenüber der BBC dieses ungeheuerliche Vorgehen so zusammen: «Ein Koranvers auf einem Ball, den man mit dem Fuss tritt, wäre in jedem muslimischen Land eine Beleidigung gewesen.» Kleine Nebenbemerkung: Würde man in den USA Bibelzitate auf einen Baseballschläger malen?
Deprimierende Einsichten
Ein weiterer Fehlschlag wurde der Kampf gegen den Mohnanbau. Die Amerikaner seien mit riesigen Traktoren angerückt, um die Mohnpflanzen zu vernichten. Oft seien die schweren Geräte in den Äckern stecken geblieben, oft hätten die Bauern ihre Felder geflutet, oft hätten reiche Drogenbarone die Amerikaner auf die Felder von Konkurrenten geleitet, damit ihre Anbauflächen verschont blieben. Viele Mohnbauern schreibt der Autor, «beschuldigten die Amerikaner, ihnen ihre Lebensgrundlage wegzunehmen. Besonders empört waren sie darüber, dass die Amerikaner ein Produkt zerstörten, das hauptsächlich im Westen konsumiert wurde.»
Man könnte solche Zitate noch über Seiten fortsetzen. Je mehr man liest, desto deprimierender wird die Einsicht in so viel Unkenntnis, Unfähigkeit aber auch in die Hybris einer Weltmacht, die von sich glaubt, das Mass aller Dinge zu sein und ein fernes Land wie Afghanistan nach ihrem Gusto gestalten zu können. Stets wird klar, dass die Amerikaner und mit ihnen die Nato keinerlei Konzept hatten, wie sie ihr ursprüngliches Kriegsziel in Afghanistan – nämlich die dauerhafte Ausschaltung der Taliban als dominierenden Faktor im Land – bewerkstelligen sollten. Nun sind die Taliban zurück. Sie liquidieren die wenigen Fortschritte, die es gegeben hat – etwa das zarte Pflänzchen einer Zivilgesellschaft und die aufkeimenden Frauenrechte – an der Wurzel. Ihre Landsleute können sie nicht ernähren, Hungersnot droht – nach zwanzig Jahren Krieg, (vorgeblichem) Wiederaufbau und manchen Lektionen in Demokratie.
Craig Whitlock: Die Afghanistan Papers. Der Insider-Report über Geheimnisse, Lügen und 20 Jahre Krieg. Ullstein Verlag, 2021.