Zwanzig Jahre nach Ausbruch des Krieges im Irak sind in den USA weder Politik noch Medien für ihre Rolle im Vorfeld der Invasion eines arabischen Staates näher zur Rechenschaft gezogen worden. Im Gegenteil, etliche Beteiligte sind für ihre gravierenden Fehler von damals belohnt worden.
«Die Architekten des Irak-Krieges», fragt Jon Schwarz auf der Website «The Intercept» zwei Jahrzehnte nach Ausbruch der Kämpfe im Zweistromland: «Wo sind sie geblieben?» Die Antwort: «Es geht ihnen allen gut, danke der Nachfrage.» Die US-Website steht für «furchtlosen, kontradiktorischen Journalismus, der die Mächtigen zur Rechenschaft zieht». Ihr Fazit in Sachen Irak: «Die Männer und Frauen, die diesen katastrophalen, kriminellen Krieg anzettelten, haben während der vergangenen zwei Jahrzehnte keinen Preis bezahlt. Im Gegenteil, sie sind mit Beförderungen und mit Geld belohnt worden.»
Für «The Intercept» gibt es dafür zwei mögliche Erklärungen. Die eine ist die, dass es der Job dieser Leute war, als Politikerinnen und Politiker für Amerika die richtigen Entscheidungen zu treffen und als Journalistinnen und Journalisten die Wahrheit zu berichten. Falls das zutrifft, hat das System wiederholt versagt und zufällig Leute befördert, die offensichtlich totale Versager waren.
Eine zweite mögliche Erklärung ist jene, dass es ihr Job war, einen Krieg zu starten, der das amerikanische Imperium erweitern und für das Verteidigungsestablishment und die Ölindustrie äusserst profitabel werden würde – ohne Rücksicht darauf, was für die Nation am besten war und der Wahrheit entsprach: «Das würde bedeuten, dass diese Leute äusserst kompetent waren und das System nicht Hunderte schrecklicher Fehler begangen hat, sondern, im Gegenteil, alles richtig gemacht hat, indem es sie befördert hat.»
Der Artikel beschäftigt sich ausdrücklich nicht mit der Optik des Irak, «nicht mit den Irakerinnen und Irakern, die seit 2003 gestorben sind». Der Beitrag tut dies zum einen nicht, weil sich Amerikas Medien gemäss «The Intercept» seit jeher nicht um die Leben von Ausländern kümmern. Zum andern nicht, weil der Autor keine Ahnung hat, wie viele Irakerinnen und Iraker gestorben sind. Schätzungen schwanken zwischen 151’000 und einer Million Toten.
Die USA, so Jon Schwarz, hätten mindestens drei Billionen Dollar für den Irakkrieg ausgegeben und die CIA eine Milliarde Dollar, um herauszufinden, dass Saddam Hussein keine Massenvernichtungswaffen besass. Dagegen sei kein einziger Dollar bereitgestellt worden, um herauszufinden, wie viele Irakerinnen und Iraker aufgrund des Krieges gestorben sind. Im Irak wurden 4’500 Angehörige der US-Armee getötet und 32’000 verwundet.
Indes ist vergangene Woche mit Benjamin Ferencz im Alter von 103 Jahren der letzte überlebende Strafankläger der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gestorben. Was internationale Medien in ihren Nachrufen auf den amerikanischen Juristen zu erwähnen versäumten, war der Umstand, dass Ferencz, ein lebenslanger Befürworter eines internationalen Strafgerichtshofes, der Überzeugung gewesen war, dass US-Präsident George W. Bush und führenden Mitgliedern seiner Regierung wie Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Aussenminister Colin Powell, Vize-Aussenminister John Bolton und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice wegen Kriegsverbrechen der Prozess hätte gemacht werden sollen – eine unbequeme Ansicht, die er wiederholt vertrat.
Bei einem seiner gutbezahlten Auftritte – mindestens 100’000 Dollar pro Stunde – hat George W. Bush jüngst den Krieg in der Ukraine als Folge der Entscheidung eines einzelnen Mannes verurteilt, «eine völlig ungerechtfertigte und brutale Invasion des Irak zu lancieren». Zum Amüsement des Publikums korrigierte sich der Ex-Präsident umgehend: «Ich meine, der Ukraine.»
Nach seinem Rückzug aus der Politik hat Bush auf seiner Farm in Crawford (Texas) Porträts zu malen begonnen und inzwischen zwei Bildbände veröffentlicht: einen ersten unter dem Titel «Portraits of Courage» mit Bildern von Veteranen und Helden des amerikanischen Alltags, die er während seiner Amtszeit getroffen hat, und einen zweiten unter dem Titel «Out of Many» mit Porträts prominenter Immigranten wie Madeleine Albright, Henry Kissinger oder Arnold Schwarzenegger.
«Bushs Malstil ist unelegant», schreibt die Kunstzeitschrift «Art in America» kritisch: «Die Augen seiner Porträtierten sind oft falsch ausgerichtet, die Farben sind manchmal verwaschen, und obwohl er versucht, Tiefe und Schatten zu erzeugen, gelingt es ihm letztlich nicht, den Gesichtszügen so etwas wie menschliche Wärme zu verleihen.» Der Ex-Präsident weiss um seine Schwächen: Er hat sich selbst als «bescheidenen Künstler» bezeichnet.
Unter den Porträts führender Politiker, die George W. Bush 2014 in seiner Präsidentenbibliothek in Dallas (Texas) zeigte, hing auch ein Bild des russischen Präsidenten Wladimir Putin: «Das Gemälde von Putin sticht nicht unbedingt durch seine künstlerische Leistung hervor», schrieb ein Rezensent in der «Washington Post»: «Es ist wirklich faszinierend zu sehen, wie Bush sich mit der Identität Putins auseinandersetzt, eines Mannes, von dem er einst behauptete, ihn gut zu verstehen. ‘Ich habe dem Mann in die Augen geschaut. Ich fand ihn sehr direkt und vertrauenswürdig’, sagte Bush nach dem ersten Treffen mit seinem russischen Amtskollegen im Jahr 2001. ‘Ich konnte einen Eindruck von seiner Seele gewinnen: ein Mann, der sich seinem Land und dessen Interessen zutiefst verpflichtet fühlt.’»
«Es war eine einsame Zeit in Washington vor zwanzig Jahren», hat der Journalist David Corn im Magazin «Mother Jones» geschrieben: «Das heisst, einsam für alle – besonders für jene Journalistinnen und Journalisten –, welche die Eile der Regierung Bush-Cheney zum Krieg im Irak hinterfragten.» Corn arbeitete damals für die Zeitschrift «The Nation» und war, wie er selbst einräumt, kein Nahost-Experte, «ebenso wenig wie viele jener Leute es waren, die das Land in einen Krieg trieben und kaum kompetent Krieg führen oder die Zeit danach managen würden.» Ein erfahrener Analyst des militärischen US-Geheimdienstes (DIA) erinnert sich, bei Treffen mit renommierten Nahost-Experten aus der Regierung und von Denkfabriken keinen einzigen Kollegen getroffen zu haben, den die Regierung Bush um Rat gefragt hätte.
Doch nach 9/11, so Corn, habe es in Washington nur wenige prominente Medienschaffende, Mitglieder der linken Intelligenzia oder Politikerinnen und Politiker gegeben, die nicht auf den Kriegswagen aufspringen mochten. Im US-Kongress stimmten seinerzeit rund die Hälfte aller Demokraten, einschliesslich Senator Joe Biden, dafür, George W. Bush zu erlauben, im Irak militärisch zu intervenieren. In einer Gesprächsrunde auf Fox News verkündete der Neokonservative Bill Kristol vor Kriegsausbruch vollmundig, ein Krieg im Irak könnte «für den ganzen Nahen Osten Folgen, unglaublich positive Folgen» haben.
Zwar mangelte es vor dem Krieg in Zeitungen und Zeitschriften nicht an Beiträgen, die Äusserungen der US-Regierung in Zweifel zogen. Doch solche Storys erschienen nur unregelmässig und erst im Innern eines Blattes, neben prominenteren Geschichten auf der Frontseite, die den Krieg befürworteten. So erschien zum Beispiel in der «Washington Post» wenige Tage vor Kriegsausbruch ein Artikel unter dem Titel «»Bush klammert sich an dubiose Behauptungen bezüglich des Irak». Die US-Regierung, so die beiden Autoren, basiere ihre Politik auf Anschuldigungen gegen den irakischen Präsidenten Saddam Hussein, die von der Uno, europäischen Regierungen und selbst US-Geheimdiensten in Zweifel gezogen würden und sich in einigen Fällen als falsch erwiesen hätten. Die Story erschien auf Seite 13.
«Viele der enthusiastischen Befürworter des Irak-Krieges haben in der Folge prächtig Karriere gemacht», schreibt David Corn: «Nur wenige haben öffentlich irgendwelche Anzeichen von Reue oder von Belastung durch ihren kolossalen Fehler gezeigt. (Powell war eine Ausnahme. Noch während Jahren schien ihn seine Rolle im Krieg nicht losgelassen zu haben)»
Zu Ende aber ging 2005 zumindest vorläufig die Karriere von «New York Times»-Mitarbeiterin Judith Miller, die drei Jahre zuvor noch den Pulitzer-Preis für ihre Berichterstattung über Al-Qaida und Osama bin Laden gewonnen hatte. Die Reporterin hatte die Leserschaft unter Verweis auf dubiose Quellen wiederholt vor den Gefahren irakischer Massenvernichtungswaffen gewarnt, unter anderem kurz nach der Invasion in einem Artikel unter dem Titel «Unerlaubte Waffen bis zum Vorabend des Krieges gelagert, soll ein irakischer Wissenschaftler bekräftigen». Zwar hatte Miller den Informanten nicht interviewen dürfen und auch nie mit ihm gesprochen, aber man habe ihr erlaubt, schrieb sie, «ihn aus der Distanz zu sehen» – eine völlig neue Recherchier-Methode.
Bald darauf erklärte sie im Fernsehen, die Aussagen des Wissenschaftlers beinhalteten «mehr als eine rauchende Schusswaffe. Was gefunden worden ist, kommt einer silbernen Kugel gleich.» Judith Miller ist heute Mitglied der renommierten privaten Denkfabrik Council on Foreign Relations (CFR) in New York, deren Ziel es ist, Amerikanerinnen und Amerikanern zu helfen, «die Welt und die aussenpolitischen Herausforderungen, die sich den Vereinigten Staaten stellen, besser zu verstehen».
David Corns Fazit zur Rolle der Medien im Vorfeld des Irak-Krieges: «Medienschaffende sollten der Wahrheit dienen und nicht Schönfärbereien verbreiten. Zu viele unter ihnen sind in jener schrecklichen Zeit ihrer Berufung nicht gefolgt.» Er zitiert Voltaire, der gesagt hat, die Menschheit habe die Hölle erfunden, um Leute davon abzuhalten, das Falsche zu tun, nachdem sie erfahren hätten, dass dies auf Erden keine Konsequenzen nach sich ziehe: «An diesem düsteren Jahrestag (des Kriegsausbruchs im Irak) lässt sich sicher nachvollziehen, wie er zu diesem Schluss gekommen ist.»
Quellen: The Intercept, Mother Jones, The Guardian, Washington Post, The New York Times, Wikipedia