Er sei vor kurzem auf der Biennale in Venedig gewesen und in mehreren Stunden habe er nichts gefunden, dem er „die Türen meines Zuhauses geöffnet hätte.“ Er fand nur „eine schreckliche Armut an Ideen, künstlerischer Kultur und handwerklichem Können.“ Der Kultur sei nicht nur die Qualität, sondern auch jeder Massstab zur Beurteilung von Qualität abhanden gekommen.
Nichts für die Massen
Was ist Kultur, worin besteht ihre Grösse, was bewirkt ihren Niedergang? In seinem einleitenden Essay bezieht sich Llosa auf den Lyriker und Essayisten T. S. Eliot. Der hat auf diese Fragen so geantwortet: Die Kultur – gemeint ist natürlich die Hochkultur – bezieht ihre Grösse aus der Grenzerfahrung zur Transzendenz. Die Ungreifbarkeit der Religion sei es, die ihr Rätsel aufgebe und ihr damit die Energie zuführe. Diese Rätsel markieren die Grenzen der menschlichen Einsicht. Ihnen entlangzuwandern, ist das Wagnis der Kultur, aber auch ihre Notwendigkeit. Anders öffnet sich nicht der geistige Horizont.
Dieser geistige Horizont ist nicht massentauglich. Im Gegenteil: Es ist geradezu eine aristokratische Tugend, sich auf den Weg dazu begeben zu können. Kultur, so betont Llosa im Anschluss an T. S. Eliot wieder und wieder, erfordere Anstrengung, sei nicht ohne einschlägige Kenntnisse zu haben und schon gar nicht Gegenstand von Abstimmungen.
Kunstmarkt statt Kunst
Die Weltsicht von T. S. Eliot ist für Llosa zeitgebunden, konfessionell und muss relativiert werden. Aber der Kern bleibt doch verpflichtend: Kultur gehört einer eigenen, der dritten Sphäre an – hier bezieht sich Llosa explizit auf den Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Karl Raimund Popper, der damit die Welt der geistigen und kulturellen Inhalte bezeichnet hat. Diese Welt hat ihre eigenen Regeln, Massstäbe und vor allem: ihre eigene Qualität.
Um diese Qualität zu erkennen und sie zu würdigen, bedarf es disziplinierter Arbeit, Vorbereitung und Übung. Das ist genau das Gegenteil der Massentauglichkeit. Nicht jeder verfügt über die geistigen Gaben und die nötige Askese, die gebraucht werden, um sich den Anforderungen der Hochkultur zu stellen. Allerdings ist in unserer „Kultur“ etwas anderes an diese Stelle getreten: Kunstmarkt, das Bildungssystem und Massenmedien. Entsprechend ist Kultur zu dem geworden, was noch der Letzte in der Klasse versteht und vor allem: was ihm gefällt.
Gute Absichten, grosse Schäden
Das Buch von Llosa ist selbst ein kulturelles Ereignis. Denn in ihm praktiziert er etwas, was zu jeder guten Kultur im Sinne Llosas gehört: Irritation. Diese Irritation besteht darin, dass nach einem faszinierenden Eingangskapitel mit Bezügen zu T. S. Eliot, George Steiner und Guy Debord ein zweites Kapitel folgt, das etwas zu plakativ die „Kultur des Spektakels“ und damit unseren kulturellen Niedergang beschreibt. Was, so fragt man sich, kann jetzt noch folgen? Und dann sieht man, dass die meisten weiteren Texte aus den vergangenen zwei Jahrzehnten stammen und in El País veröffentlicht worden sind. Hat der Suhrkamp Verlag seinem Autor die Möglichkeit zum Recycling geboten?
Aber dann erlebt man eine wunderbare Überraschung. Die Texte aus früheren Jahren sind überhaupt nicht alt und abgestanden, sondern quicklebendig. Immer schöpft Llosa aus dem Vollen. Dabei erschliesst sich seine Methode. Diese besteht darin zu zeigen, wie aus den besten Absichten jeweils der grösste Schaden entstand. Dazu muss man wissen, dass Llosa selbst den Weg des linken Rebellen zum skeptischen Liberalen gegangen ist.
Die Umdeutung des Banalen zur Kultur
So beschreibt er, dass unsere frühere Hochkultur mit den besten Absichten kritisiert worden ist. Diskriminierte sie denn nicht die Kultur der „einfachen“ Leute, indem sie nur das gelten liess, was der sogenannten Oberschicht als wertvoll erschien? Und darüber hinaus: Zeigt sich in ihr nicht eine unerhörte Kulturarroganz der Europäer, die nur die eigene Kultur schätzten und blind waren für die Werte anderer Völkerschaften? Im Zeichen der political correctness wurde der Kulturbegriff so lange erweitert, bis jede noch so banale Lebensäusserung als kultureller Ausdruck gewertet werden konnte. Damit sind auch alle Massstäbe des Urteilens dahin.
Mit Schmerz, aber auch mit Lust nimmt Llosa diejenigen französischen Intellektuellen aufs Korn, mit denen er in seiner Jugend studiert beziehungsweise die er gründlich gelesen hatte: Jacques Derrida, Michel Foucault, Jean Baudrillard. Ihr ganzes Bemühen, die Hochkultur in den Generalverdacht der blossen Herrschaftssicherung zu stellen und ihre Werke zu „dekonstruieren“, hat in seinen Augen nicht nur zu aufgeblasenem hohlen Geschwätz, sondern auch zum Niedergang der Schulen geführt: Wenn den jungen Menschen keine kulturellen Massstäbe mehr vermittelt werden, dann haben sie keine Chance zu wachsen und aufzusteigen. Als sein ehemaliger Studienfreund Jean Baudrillard im Londoner „Institute of Contemporary Art“ einen öffentlichen Vortrag hielt, verzichtete Llosa am Ende darauf, ihn persönlich zu begrüssen.
Das Ende der Erotik
Banalisierung tötet. Mit grösster Präzision führt Llosa diesen Gedanken in Bezug auf Erotik und Sexualität aus. Wenn es darum geht, über die Sexualität so weit aufzuklären, dass es keine „Tabus“ und keine Geheimnisse mehr gibt, ist am Ende die Raffinesse der Erotik dahin; es bleiben mechanische Verrichtungen, Enttäuschung und Frustration.
Überhaupt die Geheimnisse: Scharf geht Llosa mit Wikileaks und ihrem Gründer Julian Assange ins Gericht. Der falsche Anspruch einer sensationsgierigen Öffentlichkeit, über alles und jedes informiert zu werden, habe zu der Illusion geführt, dass eine Welt, in der es keine Geheimnisse mehr gäbe, besser und demokratischer sei. Sicher ist für Llosa: Sie würde nicht funktionieren. Und mehr als Banalitäten habe Wikileaks nicht zutage gefördert.
Tante Julia und der Kunstschreiber
Immer wieder taucht das Thema der Religion auf: Wie steht es mit den Kruzifixen in deutschen Klassenzimmern, mit den Kopftüchern in französischen Schulen, überhaupt mit der Trennung von Kirche und Staat? Die Religion, so Llosa, könne nur dann einen wirklich positiven Einfluss ausüben, wenn es eine klare Trennung von Kirche und Staat gebe. Religion müsse auf die Privatsphäre beschränkt bleiben. Denn Religionen seien intolerant und neigten zum totalitären Anspruch. Aber es ist berührend, wie positiv und unverzichtbar Llosa die Religionen in ihrer Bedeutung für die Kultur und die geistige Ökologie jedes Einzelnen sieht, auch wenn er an einer Stelle wie nebenbei bemerkt, dass er kein gläubiger Mensch sei.
Die Texte, die über zwei Jahrzehnte entstanden sind und für diesen Band pointiert ergänzt wurden, zeigen nicht nur die Beharrlichkeit Llosas. Man versteht noch besser, warum er 2011 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Llosa hat ja nicht nur Romane und Essays verfasst, die dem Leser zum Teil viel abverlangen. Seine Satire, „Tante Julia und der Kunstschreiber“, ist unnachahmlich, unvergesslich und jongliert unglaublich witzig mit den Versatzstücken der Alltagskultur, der Medienwelt und erotischen Phantasien. Als Hörspiel wurde diese Satire übrigens vom Schweizer Radio DRS wunderbar in Szene gesetzt und ist als Hörbuch zu empfehlen.
Apropos Satire: Am Ende des Bandes staunt man darüber, wie ein Autor, der mit Recht und Schärfe den Niedergang unserer Kultur im Zeichen des Boulevard analysiert und beschreibt, seine Souveränität bewahrt. Zur Wahrung dieser Souveränität gehört eine Leichtigkeit, wie sie nur ein ausgeprägter Sinn für das Spiel schenken kann - das Spiel der Kultur jenseits des Banalen. "Tante Julia und der Kunstschreiber" war die vorweggenommene Probe aufs Exempel dieses Essaybandes.
Mario Vargas Llosa, Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, Aus dem Spanischen von Thomas Brovot, Suhrkamp Verlag Berlin 2013