Die zu Unrecht als «Wende» verharmloste Revolution setzte vor dreissig Jahren dem «ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat» – dies die Selbstbezeichnung der DDR in ihrer Verfassung – ein Ende. Zwar brach das Ereignis des Mauerfalls am 9. November 1989 überraschend über Ost und West herein. Doch der im Kern marode Zustand dieses Staates war seit langem klar. Krisen und Brüche in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft waren immer wieder offen zutage getreten – und umgehend unterdrückt worden. Bereits der Volksaufstand von 1953 und der Mauerbau 1961 hatten das System demaskiert.
Vorboten des Zusammenbruchs
Zu einer aus der Sicht von Staats- und Parteiführung gefährlichen Ballung unerwünschter Ereignisse kam es im Jahr 1976. Als im Januar die SED im Vorfeld ihres IX. Parteitags den Entwurf eines neuen Parteiprogramms veröffentlichte, versprach sie, darüber «ein Zwiegespräch der Partei mit dem ganzen Volk der DDR» zu führen. Kaum jemand nahm dies zum Nennwert. Die Leitung der Evangelischen Kirche jedoch tat genau dies. Sie behaftete die Machthaber bei ihren hohlen Versprechungen und setzte sich in der Folge mit glasklaren Forderungen nach Änderungen des Programmentwurfs teilweise sogar durch. Der Erfolg war möglich, indem sich die Kirche auf Verfassungsgarantien für die Religionsfreiheit sowie auf die von der DDR unterzeichnete KSZE-Schlussakte von Helsinki stützte.
Im Juni 1976 störten in Ostberlin westeuropäische Kommunisten vor der Weltöffentlichkeit den sorgsam orchestrierten internationalistischen Verbrüderungskult. Vor allem der Spanier Santiago Carillo und der Italiener Enrico Berlinguer stellten die versammelten Betonköpfe mit ihren Bekenntnissen zur pluralistischen Demokratie und ihrer scharfen Ablehnung der Breschnew-Doktrin bloss.
Keine zwei Monate danach erneut eine Erschütterung: Die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz und fast mehr noch die höhnische Reaktion auf dieses Ereignis im «Neuen Deutschland», dem Leitmedium der Partei, schockierten die Gesellschaft. Selbst SED-Kader sollen über ihr Parteiorgan entsetzt gewesen sein.
Damit nicht genug: Im November des gleichen Jahres wurde Wolf Biermann ausgebürgert, was zu einem im Land der SED noch nie dagewesenen Ausmass von Protest führte: Über hundert Kulturschaffende der DDR unterzeichneten eine Protesterklärung – eine ungeheuerliche Pleite der staatlichen Kulturpolitik, die ja alles unternahm, um ihre Künstler auf Linie zu halten.
Frieden schaffen ohne Waffen
Nicht lange nach diesem bewegten Jahr wurde das Friedensthema zum Stachel in Ost und West. 1980 war das Jahr grosser Demonstrationen in der BRD. Kalter Krieg und Aufrüstung riefen massive Proteste hervor. In der DDR kam zu diesen Themen noch die verschärfte Militarisierung der Gesellschaft – Stichwort: Wehrunterricht. Statt in offenen Demonstrationen äusserte sich der politisch-ethische Widerstand in der SED-Diktatur in kirchlichen Anlässen und Jugendgruppen sowie in programmatischen Erklärungen. Ein Beispiel unter vielen für Letztere ist der Appell von 1982 «Frieden schaffen ohne Waffen» des evangelischen Berliner Pfarrers Rainer Eppelmann. Robert Havemann, Stefan Heym und weitere Prominente schlossen sich diesem Aufruf zu einem atomwaffenfreien Mitteleuropa an.
Die geistliche Einkleidung des Friedensthemas im kirchlichen Kontext bot einen zwar löchrigen, aber doch nicht ganz wirkungslosen Schutz, da der Staat zumindest auf dem Papier die Religionsfreiheit garantierte. Hinzu kam, dass das kommunistische Regime sich mit seiner eigenen Friedensrhetorik ein Stück weit die Hände band.
Frieden war ein sozialistischer Zentralbegriff; Aggressor war ja immer der Klassenfeind im Westen. Getreu diesem Bekenntnis hatte die Sowjetunion der Uno die beim New Yorker Hauptsitz 1959 aufgestellte Plastik von Jewgeni Wiktorowitsch Wutschetitsch mit dem Titel «Schwerter zu Pflugscharen» geschenkt. Sie stellt im Stil des sozialistischen Arbeiter-Heroismus einen Schmied dar, der mit mächtigen Hammerschlägen ein Schwert zum Pflug umformt.
Das Motiv stammt interessanterweise aus dem Alten Testament, aus dem Propheten Micha: «Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spiesse zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.» (Micha 4,3)
Die List der Vernunft
Die kirchliche Friedensbewegung der achtziger Jahre griff dies dankbar auf. Sie verteilte eine Grafik der sowjetischen Plastik mit dem Spruch «Schwerter zu Pflugscharen» als Aufnäher (Bild ganz oben). Für den Stoffdruck hatte es keine Druckgenehmigung gebraucht, da dieser als «Textilveredelung» bewerkstelligt werden konnte. Die Partei schäumte. Trotz scharfem Vorgehen gegen die Träger der Aufnähers war das sprechende Zeichen nicht mehr auszurotten. Wie einst vom Philosophen Hegel gedacht, setzte sich «die List der Vernunft» subversiv gegen ihre Unterdrücker durch.
Am 24. September 1983 im Rahmen des Evangelischen Kirchentags in Wittenberg kam es zu einem spektakulären Happening. Der Schmied Stefan Nau schmiedete vor 4’000 Kirchentagsbesuchern ein Schwert um zu einem Pflug. Wegen der Anwesenheit von West-Medien und internationaler Prominenz griffen die wie immer präsenten Stasi-Leute nicht ein.
Ab 1986 kam in den oppositionellen Gruppen zu der Friedens- zunehmend auch die Umweltthematik hinzu. An verschiedenen Orten der DDR wurden in kirchlichen Räumen Umweltbibliotheken aufgebaut, die als Informations- und Aktionszentren dienten. Eine Vorreiterrolle spielte die Umweltbibliothek im Keller der Berliner Zionskirche. Mit dem Begriff der Schöpfung gab es auch beim Umweltthema einen direkten Bezug zur Kirche, was von dieser zur Legitimation verwendet wurde, um sich – soweit in der Diktatur möglich – schützend vor die Aktivisten zu stellen.
Nischen der Freiheit
Seit der Ausbürgerung Biermanns 1976 schuf die Evangelische Kirche in der DDR auch im kulturellen Leben gewisse Nischen der Freiheit. Die Kirchenleitung ermutigte die Gemeinden, Künstler einzuladen und mit ihnen das Gespräch zu suchen. Als Zeuge hierfür sei der Schriftsteller Günter de Bruyn zitiert:
(Ich …) «muss (…) von meinen Erfahrungen aus den siebziger und achtziger Jahren erzählen, als die Kirchen sich sowohl den Oppositionsgruppen öffneten als auch sich allem Kulturellen aufgeschlossen zeigten und besonders Schriftstellern ein freies, nicht-staatliches Forum für Lesungen und Diskussionen boten, das von mir häufig und gern benutzt wurde. In den Kirchen und Pfarrgärten, Akademie- und Gemeinderäumen herrschte meist grosser Andrang, denn diese vom Staat zwar insgeheim überwachten, aber nicht gegängelten Treffen von Christen und Nichtchristen, die oft auch Ost-West-Treffen waren und einen Anflug von Illegalität hatten, zogen ihrer Zensurfreiheit wegen viele Menschen an.» 1)
1989, das Jahr der Entscheidung
Dass sich im Jahr 1989 dann die Ereignisse in der DDR dermassen überschlugen, hatte viele Ursachen. Schon früh im Jahr erodiert die Parteiherrschaft in mehreren sozialistischen Staaten zum Teil dramatisch, namentlich in Polen, Ungarn, in der CSSR, aber auch in der UdSSR, wo die Afghanistan-Niederlage und Gorbatschows Aufstieg jahrzehntelang gültig gewesene Gewissheiten untergraben. Im März beginnen in Wien Abrüstungsverhandlungen, die zum Vorboten der Auflösung des Ost-West-Antagonismus werden.
Am 2. Mai kappen an der ungarisch-österreichischen Grenze die Aussenminister Gyula Horn und Alois Mock mit Bolzenschneidern einen Zaun. Bürgerrechtsgruppen in der DDR weisen bei den Kommunalwahlen vom 7. Mai massive Fälschungen nach. Und am 4. Juni schockiert die chinesische Staatsmacht die Welt mit ihrem Massaker auf dem Tjan’anmen, dem «Platz des himmlischen Friedens», mit dem sie eine fast zwei Monate lange Besetzung des Platzes durch eine junge Protestbewegung im Blut ertränkt.
Im Juni erzielt die wieder zugelassene Solidarność in Polen einen überwältigenden Wahlsieg, und am 23. August bilden eine Million Personen eine Menschenkette durch die drei baltischen Staaten, um ihre Forderung nach Unabhängigkeit kundzutun. Im Sommer setzt die Ausreisewelle von Zehntausenden DDR-Bürgern über Ungarn nach Österreich und Deutschland ein. Ab 1. Oktober bringen Sonderzüge die in die deutsche Botschaft von Prag geflohenen Ostdeutschen nach Westdeutschland. Die zugeschlossenen Züge passieren dabei DDR-Gebiet, was zum Beispiel in Dresden Unruhen provoziert.
Steigende Erregung in der DDR
1989 ist auch das Jahr, in dem die oppositionellen Kräfte in der DDR sich selbstbewusster und offener artikulieren. Das in der Evangelischen Kirche tätige «Friedensnetz» sammelt die Aufrufe der vielerorts aktiven Gruppen und verbreitet sie in hektographierter Form. In der gesteigerten Erregung des Jahres ’89 wird diese seit Jahrzehnten existierende kirchliche Einrichtung zum Ferment des Aufruhrs.
Liest man heute etwa die zwei eng bedruckten Seiten des Manifests «Aufruf der Initiative Frieden und Menschenrechte Berlin» vom 11. März 1989, so findet man gewissermassen das Skript für die Ereignisse der kommenden Monate.
Der «Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine Sozialdemokratische Partei in der DDR (SPD) ins Leben zu rufen» wird am 26. August «öffentlich vorgelegt» – was unter DDR-Bedingungen eine Guerilla-Verteilaktion mit hohem persönlichem Risiko bedeutet. Unter dem sperrigen Titel finden sich programmatische Stichworte, bei denen sich den Apparatschiks die Nackenhaare gesträubt haben müssen: Rechtsstaat und strikte Gewaltenteilung, parlamentarische Demokratie und Parteienpluralität, Freiheit der Gewerkschaften und Streikrecht, freie Presse und Zugang zu den elektronischen Medien etc.
Träume von der besseren DDR
Bei allen oppositionellen Gruppen fällt auf, dass sie den Sozialismus nicht abschaffen, sondern verändern wollen. In einem Papier von «Aufbruch 89 – Neues Forum» vom 11. September 1989 heisst es:
«Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr vom ungehemmten Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewusste Menschen, die doch gemeinschaftsbewusst handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen.»
In einem Brief an «Freunde und Freundinnen des ‘Neuen Forum’» vom 1. Oktober 1989 ist ferner zu lesen: «Wir engagieren uns im ‘Neuen Forum’, weil wir uns Sorgen um die DDR machen – wir wollen hier bleiben und arbeiten. Wir bitten jene, die sich anders entscheiden, unsere Bemühungen nicht mit dem Ziel einer schnellen Ausreise zu missbrauchen. Für uns ist die ‘Wiedervereinigung’ kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben. Wir wollen Veränderungen hier in der DDR.»
Hoffnungslose Hoffnung auf Dialog
Es sollte sich zeigen, dass diese reformistische Haltung, die alle oppositionellen Gruppen teilten, in der Bevölkerung keinen Anklang fand. Doch bis zum Mauerfall gab es in diesem Staat schlicht keine andere Option. Niemand rechnete mit einem derart schnellen Ende der DDR. Man musste sich also darauf einstellen, irgendwie mit den Inhabern der Staatsmacht zu leben.
Deshalb das manchmal fast flehentliche Bemühen der Opposition, den Ruch der Konterrevolution von sich zu weisen und sich als die besseren Sozialisten anzuempfehlen. In der von den Verfolgten erhobenen Forderung nach einem Dialog der ganzen Gesellschaft mit den Partei- und Staatsorganen kulminierte die hoffnungslose Hoffnung der Opposition. Im Dialog würde man die Wegmarken zum besseren, zukunftsfähigen Sozialismus setzen.
Doch im Grunde wusste man auf beiden Seiten der Konfrontation, dass es freie Meinungsbildung in diesem Staat nicht geben konnte. Die hektographierten Programmpapiere prallten immer dort, wo sie konkret wurden, an unverrückbare Bastionen der Staatsideologie. Jede Relativierung der Parteimacht hätte deren Selbstaufgabe bedeutet. Das wussten beide Seiten.
Erster Durchbruch: Plauen
So wird denn nicht diskutiert, sondern agiert. Am 4. September 1989 findet in Leipzig nach dem montäglichen Friedensgebet in der Nicolaikirche die erste Demonstration statt. In der Folge müssen wegen grossem Andrang bald weitere Leipziger Kirchen für die Montagsgebete geöffnet werden. Am 2. Oktober versammeln sich bereits 20’000 Menschen.
Am 7. Oktober feiert die DDR den 40. Jahrestag der Staatsgründung. In Berlin kommt es bei spontanen Demonstrationen zu brutalen Einsätzen von Volkspolizei und Stasi. Die Staatsorgane sind vorbereitet und zeigen ihre Muskeln. Anders gleichentags in Plauen, einer Kreisstadt im Südwesten Sachsens. Auch hier sind die Züge mit Ausreisenden aus Prag durchgefahren. Dies und das Verbot, in Plauen einen lokalen Ableger des Neuen Forums zu gründen, hat im Vorfeld des Feiertags für Unruhe gesorgt.
Mit Handzetteln und Mundpropaganda wird zu einer Demonstration am 7. Oktober aufgerufen. Der Erfolg übertrifft die Hoffnungen der Initianten und die Befürchtungen der Stasi. Rund 15’000 Menschen demonstrieren in der Innenstadt. Polizei und Feuerwehr versuchen die Versammlung aufzulösen, was trotz massivem Einsatz nicht gelingt. Was in Plauen geschieht und in die Geschichte eingeht, ist die erste spontane Grosskundgebung von DDR-Bürgern in diesem Schicksalsjahr.
Die einzig vorhandenen Filmsequenzen der historischen Plauener Massendemonstration vom 7. Oktober 1989 wurden von dem Hobbyfilmer Detlev Braun heimlich mit einer Schmalfilmkamera gedreht (Quelle: www.wendedenkmal.de).
Das Erschrecken ist auf beiden Seiten gross: Die Staatsmacht hat die Situation total falsch eingeschätzt und sich nicht auf eine spontane Massendemonstration vorbereitet. Doch auch die kleine Gruppe der Initianten hat es mit dem Schrecken zu tun bekommen. Sie haben nicht im Traum damit gerechnet, solche Massen in Bewegung setzen zu können. Die gleichermassen hilflose wie brutale Antwort des Staats zeigt nachträglich die Gefahr, in die sie sich begeben haben.
Leipziger Montagsdemonstrationen
Am Montag, 9. Oktober, finden in Leipzig wieder in mehreren Kirchen die Friedensgebete statt; anschliessend wollen die Teilnehmer mit weiteren Leipzigern auf den Strassen demonstrieren. Nach Plauen steigt die Nervosität. Volkspolizei, MfS (Ministerium für Staatssicherheit – Stasi) und NVA (Nationale Volksarmee) haben 6’000 Mann zusammengezogen. Viele fürchten, es werde jetzt in Leipzig «die chinesische Lösung» exekutiert nach dem Vorbild der blutigen Niederschlagung der Tian’anmen-Demonstrationen. Egon Krenz, baldiger Nachfolger Honeckers als Staats- und Parteichef, ist eben aus China zurückgekehrt und hat sich über das Vorgehen der dortigen Genossen «begeistert» geäussert.
Am 9. Oktober ist Leipzig für westliche Journalisten hermetisch gesperrt. Ein böses Omen? Bei den Montagsgebeten sind die Kirchen überfüllt. Überall wird zu strikter Gewaltlosigkeit aufgerufen. Die Demonstranten wollen der geballten Staatsmacht keinen Anlass zum Durchgreifen liefern. Viele tragen Kerzen, nicht aus Stimmungsgründen, sondern um zu zeigen: Wer eine Kerze trägt, schlägt nicht drein und wirft keine Steine. 70’000 Menschen sind nach den Friedensgebeten auf der Strasse, umstellt von Truppen und Polizei, scharf beobachtet und eifrig fotografiert von Stasi-Leuten. Die Menge skandiert: «Wir sind das Volk!» und: «Keine Gewalt!»
Wird es friedlich bleiben? Was werden die martialisch ausgerüsteten Einsatzkräfte tun? Wird dies zum Moment, da die Staatsführung der Oppositionsbewegung das Genick zu brechen versucht, weil sie ihre Macht in Gefahr sieht? Der Volkskammerpräsident Horst Sindermann sagt im Blick auf diese Situation im Nachhinein, die Regierenden hätten alles geplant gehabt, seien auf alles vorbereitet gewesen, nur nicht auf Kerzen und Gebete.
Der Maestro greift ein
Vermutlich wäre der grosse Knall in Leipzig unvermeidlich gewesen, hätte nicht Kurt Masur, Dirigent des Leipziger Gewandhausorchesters, beherzt gehandelt. Von Vertretern des Neuen Forums vernimmt er in einer Probenpause, an diesem Abend solle die Montagsdemo von der NVA niedergeschlagen werden. Der Maestro ist entschlossen, seine Bekanntheit und Beliebtheit in die Waagschale zu werfen, um die Katastrophe zu verhindern.
Am Nachmittag trifft sich Masur in seiner Wohnung mit dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, dem Theologen Peter Zimmermann und drei lokalen SED-Politikern. Sie bereiten eine Erklärung mit dem eindringlichen Aufruf zu allseitigem Gewaltverzicht vor. Darin heisst es auch, ganz im Sinn der an den Demonstrationen erhobenen Forderung: «Wir brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Lande.»
Dieser Aufruf wird am Abend in den Kirchen verlesen. Viel wichtiger aber: Er wird mit dem Leipziger Stadtfunk auch nach draussen übermittelt. Kurt Masur hat den Text auf Band gesprochen, und die beteiligten Herren von der SED schaffen es, die Aufzeichnung während der Demonstration in die nach dem Krieg von den Sowjets installierten öffentlichen Beschallungsanlage einzuspielen.
Tondokument mit der Ansprache Kurt Masurs vom 9. Oktober 1989 im Leipziger Stadtfunk (Quelle: https://www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/unsere-stadt/herbst-89/der-9-oktober-89/)
Später erfährt man, der Einsatzleiter von Volkspolizei, MfS und NVA sei von den demonstrierenden Menschenmassen und von dem unerwarteten Stadtfunk-Auftritt Masurs so irritiert gewesen, dass er den befohlenen Einsatz zur Auflösung der Demonstration abgebrochen habe. Er habe in Berlin Instruktionen holen wollen, doch Honecker sei nicht zu erreichen gewesen. Der statt seiner gefragte Krenz habe Bedenkzeit erbeten. Als Krenz einige Zeit später zurückruft und die Tolerierung der Demo genehmigt, ist diese schon friedlich zu Ende gegangen.
Mauerfall, Runder Tisch, Anschluss
Das Weitere ist bekannt. Mit dem Verzicht der Staatsmacht auf eine gewaltsame Zerschlagung der Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober hatte sich die herrschende Staats- und Parteiclique faktisch aus dem Spiel genommen. Die Montagsdemo vom 23. Oktober in Leipzig brachte 300’000 Menschen auf die Strasse, und am 4. November fanden sich auf dem Berliner Alexanderplatz eine Million Menschen ein zu einer von Kulturgranden der DDR veranstalteten Kundgebung, die einen «anderen Sozialismus» propagierte.
Als fünf Tage danach die Mauer fällt, hat diese Parole schlagartig keine Basis mehr. Zwar wird noch in beeindruckender Art an einer «neuen DDR» gearbeitet. Unter kirchlicher Regie bilden sich – nach polnischem Vorbild – vielerorts die Runden Tische, verbunden mit dem Zentralen Runden Tisch im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin. Diese eindrückliche Anstrengung zum Aufbau einer «Demokratie von unten» bringt immerhin einen Verfassungsentwurf und die ersten freien und fairen Volkskammerwahlen der DDR (18. März 1990) zustande.
Doch das Wahlergebnis redet eine deutliche Sprache: Die Utopien eines erneuerten Sozialismus sind in der Bevölkerung nicht gefragt. Das aus der Bürgerbewegung hervorgegangene «Bündnis 90» erlebt mit gerade mal 3 Prozent der Wählerstimmen ein Fiasko, während die von Helmut Kohl geschmiedete und im weiteren bestimmende «Allianz für Deutschland» (Ost-CDU, Deutsche Soziale Union DSU und Demokratischer Aufbruch DA) bei 50 Prozent landet.
Schon ein halbes Jahr danach, am 3. Oktober, wird die «Wiedervereinigung» vollzogen: Sie erfolgt in Form eines Anschlusses an die BRD und fegt damit die Runden Tische mit ihrer geduldigen Konsenssuche und idealistischen Demokratievorstellung in die Rumpelkammer der Geschichte. Die meisten Menschen im Osten wollen vor allem den Lebensstandard und die Freiheit des Westens, von denen viele von ihnen verzerrte, illusionäre Vorstellungen haben.
1) Günter de Bruyn: Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur, Frankfurt am Main: S. Fischer, 1999.