Worin besteht eine Schlacht? Wie erzählt man von ihr? Bei den vielen Gedenkveranstaltungen des vergangenen Jahres ist diese Frage kaum gestellt worden. Lasky aber stellt sie immer wieder in seinem Tagebuch. Die Geschichte ist viel brüchiger und viel weniger klar, als sie im Rückblick erscheint.
Das grosse Durcheinander
Melvin Lasky war gerade einmal 25 Jahre alt, als er Anfang 1945 den Auftrag erhielt, als teilnehmender Beobachter – „combat historian“ - Material zu sammeln und Beiträge zu verfassen, die das Vorgehen der amerikanischen Armee bei der Eroberung Deutschlands beschreiben. Welche Beobachtungen aber sind relevant zum Verständnis des Geschehens?
Diese Frage ist nicht trivial. Jeden Tag erlebt Lasky ein grosses Durcheinander. Das Vorrücken der amerikanischen Soldaten ist von ständigen Pannen begleitet, es geschehen unverzeihliche Fehler, die Führung erweist sich als unzulänglich, Einschätzungen der Lage sind falsch, und das Leben der Soldaten ist elend. Dagegen gibt es eine andere Sicht, die offizielle: der grosse strategische Wurf, die überlegene Führung und der phänomenale Durchhaltewille.
Welche Geschichte?
Lasky und seine Kollegen versuchen, aus eigenem Augenschein und dem Wust der täglich anfallenden Informationen so etwas wie zusammenhängende Geschichten zu formen, aber untereinander sind sie sich schon nicht einig, und wenn sie ihre Berichte an die übergeordneten Stellen senden, werden diese bis zur Unkenntlichkeit redigiert.
Es ist bei weitem nicht die einzige, aber eine ebenso zentrale wie erschütternde Erkenntnis dieses Tagebuchs, dass das, was wir für Geschichte halten, Erzählungen sind, die vom realen Geschehen buchstäblich abgehoben sind. Die Tagebucheintragungen Laskys kann man auch als Versuch deuten, wenigstens sich selbst Klarheit zu verschaffen.
Intimer Kenner der Kultur
Das andere: Melvin Lasky ist ein intimer Kenner der deutschen Kultur. Es gibt keinen Ort, von dem ihm nicht die Geschichte präsent ist und von dem er nicht die historischen Stätten kennt. Wenn es irgend geht, besucht er sie. Man kann kaum glauben, dass ein 25-Jähriger über ein derartig fundiertes Wissen verfügt.
Und er besucht nicht nur die historischen Orte. In Heidelberg empfangen ihn das Ehepaar Jaspers und die Witwe von Max Weber. Wieder und wieder kommt es zu intensiven Gesprächen. Und das Urteil, das einhellig über Martin Heidegger gefällt wird, ist vernichtend.
Brüder der Barbaren
Aber nicht nur das. Lasky beschäftigt sich wieder und wieder mit der Frage nach der Rechtfertigung der alliierten Kriegsführung. Waren die Flächenbombardements richtig? Gerade weil er Deutschland so gut kennt und seine Kultur so liebt, bricht ihm buchstäblich das Herz im Angesicht der Trümmer. Wie ist es möglich, dass die Kultur derartige Verwüstungen anrichtet?
Er spricht mit Überlebenden der Judenverfolgung. Einige von ihnen sehen die Zerstörungen mit anderen Augen: Das sei die gerechte Strafe für die Untaten. Und einige sagen, es sei noch zu wenig gewesen. Lasky aber fragt: Sind wir nicht selbst zu Brüdern der Barbaren geworden, indem wir solches getan haben?
Zugängliche Frauen
Überhaupt Barbarei: Auch die Amerikaner begehen Kriegsverbrechen. Gefangene werden erschossen, weil der Weg zum nächsten Lager zu weit und mühsam wäre, es wird geplündert und marodiert. Und es geht frivol zu. Deutsche Frauen werfen sich den Amerikanern in die Arme; es gibt wohl kaum etwas Billigeres als Sex. Auch Lasky ist kein Kostverächter.
Aber auch hier gehen seine Gedanken eigene Wege. Es sei, so überlegt er, natürlich nicht besonders fein, dass die deutschen Frauen ihre Verehrer gleich ins Bett liessen, anstatt sie erst einmal ins Wohnzimmer einzuladen. Was aber, wenn es gar keine Wohnzimmer mehr gibt, weil sie doch alle zerbombt worden sind?
Orientierungslosigkeit
Im Nachhinein ist viel von der „Stunde Null“ die Rede gewesen. Mit der Vernichtung der Naziherrschaft kam, so erscheint es aus späterer Perspektive, das grosse Durchatmen und der Aufbruch zu neuen Ufern. Wer das Tagebuch von Lasky liest, wird ernüchtert. Tatsächlich verbanden sich mit den Amerikanern grosse Hoffnungen, aber sie waren nicht fähig, zügig und effizient neue administrative und politische Strukturen zu schaffen, Orientierungen zu geben. Lasky beschreibt die Frustrationen, die damit bei den Deutschen verbunden waren.
Als er aber in die französische Besatzungszone gerät, fällt sein Urteil noch vernichtender aus. Die Amerikaner mögen unfähig sein; die Franzosen sind dazu noch niederträchtig. Und dabei liebt Lasky doch auch die französische Kultur. Umso grösser die Enttäuschung.
Die Besatzer
Und die Russen? Seitenlang beschreibt Melvin Lasky sarkastisch, wie amerikanische Polit-Offiziere in Schulungen die zumeist jungen Soldaten auf den Umgang mit den sowjetischen Besatzern vorbereiten. Man müsse die Russen als Verbündete betrachten und ihre Verhaltensweisen, die keineswegs amerikanischen Vorstellungen entsprechen, in einem grösseren Zusammenhang sehen und verstehen. Hier wurden Eiertänze aufgeführt.
Nach dem Krieg wurde Melvin Lasky als Gründer der Zeitschrift „Der Monat“ und des britischen „Encounter“ bekannt. Seine letzten 15 Lebensjahre, er starb 2004, verbrachte er mit seiner deutschen Frau in Berlin. Zeitweilig galt er als antikommunistischer Ideologe, aber dieses Urteil wurde revidiert. Lasky war auch Amerika gegenüber extrem kritisch. Seine Passagen über Roosevelt sind von grosser Schärfe. Und sein Resümee der Art und Weise, wie sich Amerikaner nach gewonnener Schlacht in Deutschland niederliessen, ist von schockierender Negativität:
„Die Amerikaner, die als Eroberer, nicht als Befreier kamen und offenbar beschlossen haben, als Ausbeuter im Land zu bleiben. Ganz bestimmt lässt man sich keine Gelegenheit entgehen, den Deutschen den wahren Grund für unser Hiersein deutlich zu machen – offenkundig sind wir deshalb da, weil Amerikaner nirgendwo sonst in der Welt, auch im guten alten Amerika nicht, so billig und so luxuriös, mit so vielen Privilegien und so selbstgerecht leben können.“
Melvin J. Lasky, Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945, Aus dem Englischen von Christa Krüger und Henning Thies, Rowohlt Verlag, Reinbeck 2014, 491 Seiten