Dieses Leben ist eine der tiefschwarzen deutschen Geschichten des vergangenen Jahrhunderts. Im Schnelldurchlauf liest sich das so: Walter Benjamin wurde 1892 in Berlin geboren als ältester Sohn einer vermögenden Familie assimilierter Juden. Progressive Ideen der Reformpädagogik und Jugendbewegung prägten seine Bildungsjahre. 1914, in der konsequenten Ablehnung der nationalistischen Kriegseuphorie, wurde Benjamins geistige Eigenständigkeit ein erstes Mal zum Politikum. Das Berlin der zwanziger Jahre sah ihn als brillanten Denker und Schreiber, allerdings mit diversen gescheiterten Publikationsprojekten. Äusserst belesen und mit wachsendem Interesse an Marxismus sowie an jüdischer Theologie, schuf er sich das Instrumentarium seines philosophischen Denkens und scharfen Urteils.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 ging er wie so viele bedrohte Intellektuelle nach Paris ins Exil. Bei Kriegsbeginn 1939 wurde Benjamin von den Franzosen interniert, kam aber nach drei Monaten wieder frei. 1940 floh er vor den anrückenden Deutschen mit dem letzten Zug nach Südfrankreich. Er hatte nichts als einen kleinen Koffer mit zwei Hemden und einer Zahnbürste dabei. An der spanischen Grenze nahm er sich wegen drohender Auslieferung an den NS-Staat das Leben.
Beengtes Leben, weit ausgreifendes Denken
In dieser äusserlich beengten Vita vollzog sich die geistige Entwicklung eines der kühnsten und tiefgründigsten Denker der Epoche. Sie geschah im unablässigen Austausch mit prägenden Zeitgenossen wie Gershom Scholem, Hugo von Hoffmannsthal, Siegfried Kracauer, Theodor Adorno, Hannah Arendt, Bertold Brecht und vielen mehr. Walter Benjamins Werk als Philosoph und Literat ist ein Torso geblieben, etliche seiner Analysen und theoretischen Konzepte haben späterer Überprüfung nicht standgehalten. Dass Benjamin trotzdem bis heute fasziniert und grossen Einfluss ausübt, liegt weniger am Was als am Wie seines Denkens.
Mit welcher Radikalität er das Wesentliche zu erfassen suchte, zeigt beispielhaft seine frühe fragmentarische Sprachphilosophie. Inspiriert von der Schöpfungserzählung der Bibel, sieht Benjamin den ursprünglichen Akt des Sprechens im schaffenden Benennen. Er lenkt den Blick weg von jener Sprache, die – namentlich politisch – etwas bewirken will. Ihm geht es um «das reinste Erschliessen ihrer Würde und ihres Wesens». Dieses Wesenhafte liegt für Benjamin darin, dass Sprache im Akt des Benennens Dinge in die Wirklichkeit hebt. Instrumentelle, von Absichten getriebene Sprache hält Benjamin für ihrem wahren Wesen entfremdet – eine Sicht, die weite Bereiche der menschlichen Kommunikation der Sphäre der Entfremdung zuordnet.
Benjamin hat in seinen Texten darum gerungen, dieser geläufigen Abirrung vom Wesentlichen zu widerstehen und eine Sprache des Benennens zu pflegen. Das macht seine Diktion nicht eben einfach; sie ist dicht gewoben, voller knapp angedeuteter Bezüge und ohne erklärende Beifügungen. Seine philosophischen und kritischen Schriften verlangen geduldige Leser, die sich nicht allzu schnell abschrecken lassen.
Der satanische Engel
Im Mai 1921 kaufte Walter Benjamin in einer Münchener Galerie für 1’000 Reichsmark (entspricht heute etwa 500 Franken) die aquarellierte Zeichnung «Angelus Novus» von Paul Klee (Bild oben). Klee hat zwischen 1915 und 1940 eine Motivgruppe von etwa fünfzig «Engeln» geschaffen. Sie heissen «Armer Engel», «Schellen-Engel», «Vergesslicher Engel» und ähnlich. Klee selbst bezeichnete sie als «Geschöpfe, die sich erst im Vorzimmer der Engelschaft» befinden. Das Bild «Angelus Novus» entstand 1920 während Klees Aufenthalt in München, in der chaotischen Zeit nach der gewaltsamen Auflösung der Räterepublik, und es scheint die Wirren zu spiegeln: Der Engel hat einen erschrockenen, vielleicht auch zornigen Ausdruck und ist höchstens andeutungsweise engelhaft.
Das Bild hat Walter Benjamin zeitlebens begleitet. Er nannte es seinen liebsten und wichtigsten Besitz – was angesichts seiner Leidenschaft fürs Büchersammeln eine bemerkenswerte Aussage war. Als er im Pariser Exil in Not geriet, verscherbelte er nach und nach seine Schätze; den Verkauf des «Angelus Novus» erwog er zwar einmal, doch er konnte sich selbst in erbärmlichster Lage nicht dazu entschliessen. Das ist um so erstaunlicher, wenn man weiss, dass Benjamin den «Angelus Novus» die meiste Zeit seines Lebens negativ deutete. Er sah in dem Bild Bedrohliches bis hin zum Satanischen – durchaus keine abwegige Assoziation, da ja der Satan im Mythos ein gefallener Engel ist.
Vor seiner Flucht aus Paris im Juni 1940 übergab Walter Benjamin seine letzte Habe dem befreundeten Surrealisten und Philosophen Georges Bataille (1897–1962). Der Nachlass bestand aus dem umfangreichen Manuskript des unvollendeten, zur Legende gewordenen Passagen-Werks, an dem Benjamin seit 1927 und dann jahrelang in der Bibliothèque nationale de France gearbeitet hatte, sowie weiteren Manuskripten – und dem aus dem Rahmen herausgetrennten «Angelus Novus». Bataille gelang es, Benjamins Nachlass vor den Deutschen, die mit verbissener Gründlichkeit die geistigen Hinterlassenschaften der Exilierten zu vernichten suchten, in der Bibliothèque nationale zu verstecken.
Abkehr vom Marxismus
Beim geretteten Nachlass befand sich auch Benjamins letzte Arbeit, die er drei Monate vor seiner Flucht begonnen hatte. Wegen Mangels an Schreibpapier hatte er sie in winziger Schrift auf Zeitungsbanderolen geschrieben: die berühmten 18 Thesen «Über den Begriff der Geschichte». Sie sind das Ergebnis einer langen intellektuellen Auseinandersetzung vor allem mit seinem Freund Gershom Scholem (1897–1982), dem jüdischen Philosophen und Religionshistoriker. Benjamin und Scholem hatten die Schul- und Studienzeit miteinander verbracht, als deutsche Kriegsdeserteure zusammen in Bern studiert und in Muri bei Bern gewohnt. Mit ihrer fiktiven «Universität von Muri» hatten sich die beiden Nonkonformisten über den akademischen Betrieb und manches mehr lustig gemacht. Die Spuren dieses Ulks sind neulich aufgearbeitet worden.
Als sich das Scheitern der Demokratie in Deutschland abzuzeichnen begann, drängte Scholem Benjamin vergeblich, mit ihm nach Palästina auszuwandern. Doch die Freunde blieben bis zu Benjamins Tod in intensivem Briefkontakt. Scholems Briefe an Benjamin galten lange als verschollen, wurden aber durch Zufälle wieder greifbar, sodass ihr Briefwechsel – das packende Zeugnis einer Freundschaft und eines lebenslangen geistigen Ringens – 1980 endlich publiziert werden konnte.
Gegenstand der jahrzehntelangen Dispute war das Verhältnis zum Marxismus, genauer: zum historischen Materialismus, der eine zwingende geschichtliche Entwicklung hin zum kommunistischen Ziel der klassenlosen Gesellschaft behauptet. Viele Bezugspersonen der beiden waren überzeugte Marxisten, und überhaupt war die politisch-intellektuelle Opposition weitgehend kommunistisch ausgerichtet. Scholem erkannte früh das Totalitäre am marxistischen Denken und ging auf Distanz. Sein Freund verhielt sich weniger klar. Der Benjamin-Biograf Werner Fuld formuliert dessen Haltung so: «Benjamin arbeitete nicht für das Ziel des Kommunismus, aber mit dessen Erkenntnissen gegen die von ihm als verrottet erkannte bürgerliche Gesellschaft.»
Als Benjamin 1939 nach anfänglich überwiegend freundlicher Aufnahme in Frankreich unversehens als «feindlicher Ausländer» galt und deswegen interniert wurde, war dies ein doppelter Schock. Wegen des Kriegsausbruchs war er zum einen plötzlich gefangen und völlig hilflos. Zum anderen war seine politische Landkarte schlagartig entwertet, weil die bislang als antifaschistische Macht gesehene Sowjetunion durch das Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Pakts total desavouiert war. Letzteres versetzte der schon länger schwankenden Sympathie Benjamins für den Kommunismus den Todesstoss.
Der Engel der Geschichte
In den 18 Thesen verabschiedete er sich vom historischen Materialismus, tat dies aber in einer Weise, die dessen Zielhorizont transformiert in ein messianisches Geschichtsdenken. Für Benjamin hat dieses allerdings nichts mit religiöser Hoffnung oder säkularem Fortschrittsglauben zu tun, sondern allein mit dem Umstand, dass die Möglichkeit der Erlösung eine Denknotwendigkeit ist, und sei es nur als Negativfolie der historischen Erfahrung.
Die neunte der 18 Thesen «Über den Begriff der Geschichte» ist eine Interpretation von Klees «Angelus Novus». Benjamin nennt ihn jetzt den «Engel der Geschichte» und macht ihn so zu seinem eigenen Bild. In dessen Beschreibung begegnet uns in extrem verdichteter Form der im Angesicht der Katastrophe erreichte Stand seines Denkens über die Geschichte und seinen eigenen Ort in ihr. In diesem kurzen Text heisst es über den Engel:
«Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füsse schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten erwecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft (…)»
Wie der Engel konnte auch Benjamin die Trümmer der Geschichte nicht zusammenfügen. Diesem Ziel galt sein Passagen-Werk, mit dem er seinem Geschichtsdenken exemplarisch durch die Auseinandersetzung mit dem 19. Jahrhundert endlich die lange gesuchte Form zu geben suchte. Was er hinterlassen hat, ist eine riesige Collage von Materialien, Beobachtungen, Ideen – ein Konvolut, das in seiner inspirierenden Rätselhaftigkeit das unabgeschlossene Denken Benjamins vielleicht am besten repräsentiert.