Das inflationär gebrauchte Adelsprädikat «Design-Ikone» wirkt schon ziemlich abgenutzt. Meist ist damit eine stilbildende Form gemeint – und in einem erweiterten Sinn dann auch alles, was einem als vorbildlich geltenden Stil zuzurechnen ist. Bei Gebrauchsgegenständen, Möbeln, Autos, Gebäuden, aber auch bei Kunstwerken, Fotos, Songs, Filmen – und manchmal auch deren Stars – spricht man von «Ikonen», wenn sie sich für eine gewisse Dauer über die Masse herausheben und zu Orientierungsgrössen werden.
Ikonen ohne Glauben
Die ursprüngliche Ikone, das ostkirchliche Andachtsbild, hat in der orthodoxen Spiritualität eine andere und tiefer gehende Bedeutung als die Bildwerke im Katholizismus. Für Ikonen gilt zum einen ein fester motivischer Kanon. Zur Darstellung kommen Christus, Maria, Heilige und biblische Szenen in überlieferten Posen mit entsprechenden Gesten und Attributen. Geregelt sind zum anderen auch die bildnerischen Formen, so die flächige Darstellung, der Goldgrund und die umgekehrte Perspektive, die gewissermassen auf den Raum vor dem Bild zugreift. Alles dient dem Ziel, den Betrachter hereinzunehmen in eine Gott zugewandte Haltung. (Die strenge Observanz motivischer und gestalterischer Vorgaben galt in der Ikonenmalerei etwa bis ins 14. Jahrhundert; später kamen gewisse Variationen hinzu.) Indem heute die Alltagssprache beim Wort Ikone den ganzen religiösen Zusammenhang abgestreift hat, ist eigentlich alles Spezifische dieses Begriffs weggefallen. Der gängige Wortgebrauch meint mit «Ikone» irgendeine Manifestation, der besondere Beachtung zukommt.
Dieses Besondere ist nun nicht mehr religiös, sondern ästhetisch bestimmt. Die Sinnverschiebung beim Gebrauch des Wortes «Ikone» entspricht genau dem kulturellen Säkularisierungsprozess. Dieser bestand zunächst darin, dass der metaphysische Gott des Mittelalters seine Funktion als Ziel- und Ankerpunkt des Schönen einbüsste. An seine Stelle traten in der Epoche von Klassik und Idealismus die abstrakten Ideen des Schönen, Erhabenen und Vollkommenen. Doch blieb die Säkularisierung hier nicht stehen, sondern sie zersetzte in der Folge auch den klassischen Idealismus und seine Terminologie, ohne dass akzeptabler begrifflicher Ersatz bereit stand. In jüngerer Zeit konnte hier unter anderem das Ikonische in die Lücke springen, und zwar um so leichter, als die volle Bedeutung des Worts «Ikone» ausserhalb des orthodoxen Kulturraums kaum bekannt war.
Notwendige Ästhetik
Kunst kommt niemals aus ohne ästhetische Diskurse. Diese dienen der Reflexion überlieferter Kunst- und Kulturschätze, dem Verstehen aktueller Strömungen wie der Deutung einzelner Werke. Doch die Gesellschaft will nicht nur die Kunst schön haben, sondern auch den Alltag. Massstäbe des Schönen sind deshalb auch in Letzterem gefragt, beinahe mehr noch und mit grösserer Selbstverständlichkeit als im sozialen Séparée der Kunst. Der zur Definition und Wertung des Schönen dienende ästhetische Diskurs ist derselbe, ob er von Kunst, Unterhaltung, Gebrauchsgegenständen oder Alltagserfahrungen handelt. Die herkömmlich als Disziplin der Philosophie behandelte Ästhetik ist buchstäblich alltäglich geworden. Mit dem Wandel von Gesellschaft, Konsum und Moden erfindet sie sich laufend neu. Ästhetik vollzieht den stetigen Wechsel der Sprachcodes und Jargons mit und bedient sich immer wieder veränderter Begrifflichkeiten.
So modisch und zeitgeistig die Diskurse sich geben, greifen sie doch immer irgendwie zurück auf zweieinhalb Jahrtausende abendländische Geistesgeschichte. Aristoteles machte in seiner Poetik – der Theorie von Literatur und Drama – die Mimesis (Nachahmung) zum Schlüsselbegriff des Ästhetischen. Gemeint war die Imitation der Natur (heute würden wir eher sagen: der Wirklichkeit) durch die Kunst. Über zweitausend Jahre danach behandelte Kant die Ästhetik in seiner «Kritik der Urteilskraft» in umwälzender Weise neu, wobei er die Ideen des Schönen und Erhabenen an die Stelle der aristotelischen Mimesis setzte. Spätere Ästhetiken bis in die Gegenwart können als Näherungen oder Distanzierungen zu diesen beiden entscheidenden abendländischen Positionen gelesen werden.
Roland Barthes entdeckt den Mythos neu
Versucht man den aktuellen Begriff der Ikone in diese Denktradition zu stellen, so wird rasch dessen Schwäche klar. Er taugt gut als Topmarke bei ästhetischen Rankings, aber kaum für qualitative Distinktionen. Will man beschreiben, worin Qualitäten bestehen, an denen man ästhetische Massstäbe eicht, so benötigt man eine aussagekräftigere Begrifflichkeit. Einen Versuch hierzu hat der französische Philosoph Roland Barthes (1915-1980) mit dem Begriff des Mythos vorgelegt. Auch dieses Wort hat sich von seinen vielschichtigen Ursprüngen gelöst und ist – wiederum in vieldeutiger Weise – in die Alltagssprache eingewandert. Eine seiner aktuellen Bedeutungen ist derjenigen des gängigen Ikone-Begriffs eng verwandt: Was «zum Mythos geworden» ist, kann auch als «Ikone» bezeichnet werden.
Barthes setzt bei diesem etwas saloppen Sprachgebrauch an. In «Mythologies» (deutsch: Mythen des Alltags), einer dichten Abhandlung, basierend auf ursprünglich monatlich geschriebenen kurzen Essays über zeitgenössische Alltagsphänomene, hat er den Mythos-Begriff als ästhetischen Schlüssel entwickelt und erprobt.
Allerdings spricht Barthes nicht explizit von Ästhetik. Sein strukturalistisches Denken unterläuft die herkömmlichen Disziplinengrenzen nicht nur innerhalb der Philosophie, sondern in der gesamten philosophischen Fakultät, also den Geistes- und Sozialwissenschaften. Barthes verbindet zeichentheoretische, psychoanalytische, soziologische, kulturhistorische und philosophische Denksysteme mittels einer strukturalistischen Theorie der Bedeutungen, oder besser: diese Theorie wird zum Vehikel, welches ein Denken quer zu all jenen Wissenschaften anbahnt.
Sprache, um über Sprache zu reden
Im Begriff des Mythos entdeckte Barthes eine Gattung von Zeichen, die «Aussagen höherer Ordnung» machen und deshalb für das Verständnis kultureller und gesellschaftlicher – und damit auch ästhetischer – Werte als Schlüssel dienen können. In dem nicht ganz leicht zu lesenden Theorieteil von «Mythen des Alltags» entwickelt er eine Lehre des Mythos als eines sekundären semiologischen Systems, welches gewissermassen auf der Ebene der einfachen Zeichen aufsetzt.
Barthes ging aus von der linguistischen Zeichentheorie (Semiologie) Ferdinand de Saussures, nach der das sprachliche Zeichen (le signe) sich zusammensetzt aus dem Bedeutenden (le signifiant) und dem Bedeuteten (le signifié). Barthes erweiterte zunächst in gut strukturalistischer Manier den Zeichenbegriff über das Sprachliche im engeren Sinn hinaus, indem er jeden denkbaren Bedeutungsträger einbezog: Fotografie, Film, Werbung, politische Symbole, Medienprodukte, Esskultur, Gebrauchsgegenstände, Tourismus etc. In diesem Kosmos der Bedeutungen suchte er sodann nach Zeichen, die nicht nur für sich stehen, sondern zugleich auch weiter reichende «Aussagen» sind. Diese Zeichen nannte er Mythen. Im Mythos wird – semiologisch gesehen – das Zeichen auf einer nächsten Stufe wiederum zum signifiant, das auf ein signifié verweist und so eine Bedeutung höherer Ordnung erzeugt. Der Mythos spricht eine Metasprache, in der man über die primäre Sprache reflektiert.
Die Kurzessays, welche den 1957 erschienenen Band «Mythen des Alltags» einleiten, sind Exerzitien dieser Metasprache, die es erlaubt, über die Alltagssprache zu reden. Das Material dazu fand Barthes beispielsweise in Billy Grahams Massenpredigten, in der Ikonographie des Abbé Pierre, in Schockfotos der Presse, im Strip-tease oder im 1955 vorgestellten neuen Citroën: der legendären «Déesse».
Probe aufs Exempel mit der «Déesse»
Die drei Seiten mit dem Titel «Der neue Citroën» beginnen mit dem Satz: «Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der grossen gotischen Kathedralen ist.» Das Auto sei wie die Kathedrale von unbekannten Künstlern erdacht und werde vom Volk als ein magisches Objekt angeeignet. Die Übernatur der «Déesse» manifestiere sich in ihrer vollkommenen Erscheinung, im Fehlen eines naturhaften Ursprungs, in ihrem glatten, glänzenden, abgeschlossenen Körper. Das Glatte und Ganze sei immer ein Attribut der Perfektion. Christi Gewand sei deswegen ohne Naht gewesen. (Barthes bezieht sich auf das Johannesevangelium, welches erzählt, bei der Kreuzigung sei Christi Untergewand nicht zerteilt, sondern, weil es ohne Naht durchgewebt war, einem Soldaten zugelost worden.) Auch Raumschiffe seien in der Science Fiction aus fugenlosem Metall.
Nun sei der neue Citroën zwar nicht fugenlos, aber doch der Artefakt «einer neuen Phänomenologie der Zusammenpassung, als ob man von einer Welt der verschweissten Elemente zu einer solchen von nebeneinandergesetzten Elementen überginge, die allein durch die Kraft ihrer wunderbaren Form zusammenhalten, was die Vorstellung einer weniger schwierig zu beherrschenden Natur erwecken soll.»
Insgesamt erscheine der neue Citroën weniger sportlich-aggressiv und heroisch als andere Autos, dafür aber gelassen, elegant und klassisch. Obwohl ganz Materie, drücke er Vergeistigung aus, was sich in der Verglasung zeige. «Die ‚Déesse’ ist deutlich sichtbar eine Preisung der Scheiben, das Blech liefert dafür nur die Partitur.»
Kleinbürgerliche Beförderung
Bei allem Schwärmen für den Eindruck von «Übernatur» und «Magie» macht Barthes jedoch klar, dass die breite Begeisterung für den neuen Wagen letztlich der Zweckmässigkeit des Entwurfs gilt. Der Citroën DS erreiche «jene Sublimination der Gerätschaften, die wir bei unseren zeitgenössischen Haushaltgeräten finden». Armaturen und Instrumente erinnerten an die Schalterblende eines modernen Kochherds und fassten das Autofahren mehr als Komfort denn als Leistung auf. Keine Gnade findet vor diesem Massstab das spektakulär «leere» Einspeichen-Lenkrad: Barthes rechnet es zu den «neuerungssüchtigen Selbstgefälligkeiten», von denen der Entwurf nicht ganz frei sei.
Barthes kritischer Blick haftet aber keineswegs nur an Einzelheiten. Der Philosoph macht klar, dass die von ihm konstatierte «Magie» von letztlich banalem Charakter und das bewundernde Publikum sich dessen bewusst ist. Den Eifer, mit dem die Leute den ausgestellten Citroën besichtigen und betasten, beschreibt der Philosoph am Schluss des kurzen Essays als eine Entmystifizierung: «Das Objekt wird vollkommen prostituiert und in Besitz genommen; hervorgegangen aus dem Himmel von Metropolis, wird die ‚Déesse’ binnen einer Viertelstunde mediatisiert (gemeint: zum Mittel gemacht; U.M.) und vollzieht in dieser Bannung die Bewegung der (besser übersetzt: die Transformation zur; U.M.) kleinbürgerlichen Beförderung.»
Barthes ist es gelungen, sein im Nachgang theoretisch untermauertes Mythos-Konzept in den Kurzessays exemplarisch anzuwenden. Sein philosophisch inspirierter Umgang mit «Mythen des Alltags» schafft neuartige Durchblicke, die linguistische, ästhetische und soziale Dimensionen alltäglicher Phänomene zeigen. Barthes hat so die oftmals kontra-intuitive Intellektualität des Strukturalismus und der Dekonstruktion mitbegründet. Sein Buch bleibt auch dann anregend, wenn man seiner semiotischen Theorie nicht im Einzelnen folgen will. Beim Exempel «Der neue Citroën» hat sich sein unbestechlicher Blick sowohl bei der Erfassung des «magischen Objekts» selbst wie auch beim angedeuteten Ausblick auf die Folgen einer massenhaften «kleinbürgerlichen Beförderung» bewiesen. Jacques Tati hat das zehn Jahre nach Roland Barthes’ Buch in seinem Film «Playtime» grandios und absurd ins Bild gesetzt.
Zitate aus: Roland Barthes, Mythen des Alltags, Suhrkamp 1964