Sie ist heute 22 Jahre alt und „belle comme le jour“, wie „Le Monde“ schreibt. Sie sitzt mit der Journalistin Annick Cojean in einem Hotelzimmer in Tripolis und erzählt. Immer wieder weint sie. „Ghadhafi hat mein Leben zerstört“. Das Gespräch dauert mehrere Stunden.
„Als ich Ghadhafis Leiche sah, da freute ich mich kurz, doch dann empfand ich einen schalen Geschmack im Mund“. Während der letzten Monate „habe ich mich darauf vorbereitet, ihm in die Augen zu sehen und ihn zu fragen: Warum hast du mich vergewaltigt, geschlagen, warum musste ich Drogen nehmen, warum hast du mir mein Leben gestohlen?“.
“Diese da will ich!“
„Le Monde“ nennt sie Safia. Sie lebt mit ihrer Familie in Syrte, dem Geburtsort Ghadhafis. Als sie 15 ist, kommt der „Guide“ auf Besuch. Sie wird unter den Lycée-Schülerinnen auserkoren und darf Ghadhafi ein Blumenbouquet überreichen. „Welche Ehre! Ich hatte Hühnerhaut.“ Ghadhafi streichelt langsam ihre Haare. Seinen Bodyguards gibt er zu verstehen: „Diese da will ich!“ Das erfährt sie erst später.
Am Tag danach präsentieren sich drei Frauen in Uniform im Coiffeur-Salon ihrer Mutter. Sie sagen, Safia solle mitkommen, Ghadhafi möchte ihr ein Geschenk überreichen. Man führt sie in die Wüste, wo der Diktator gerade ein Lager errichtet hat, um auf die Jagd zu gehen. Mit kalter Stimme sagt er, sie solle mit ihm leben. „Du hast alles, Häuser, Autos…“. Safia gerät in Panik, sie will nach Hause.
Sie wird den Frauen in Uniform übergeben. Diese geben ihr anzügliche Kleider. Sie muss vor Ghadhafi tanzen. Während der ersten drei Abende geschieht nichts. Dann sagt Ghadhafi: „Du wirst meine Dirne sein“. Der Tross des Diktators kehrt aus der Wüste nach Syrte zurück- Safia im Gepäck.
“Während fünf Jahren hat er mich vergewaltigt“
Dann beginnt er, sie zu vergewaltigen. Sie wehrt sich, schreit, reisst ihn an den Haaren, will fliehen. Die Frauen in Uniform schlagen sie. „Ich bin seine Sex-Sklavin geworden, während fünf Jahren hat er mich vergewaltigt“.
In der Hauptstadt lebt sie in seinem Palast-Komplex, der durch drei Mauern von der Aussenwelt abgeschirmt ist. Zuerst wohnt sie in einem Zimmer mit einem andern Mädchen zusammen. Auch dieses wurde gekidnappt, doch ihm gelang dann die Flucht. Später erfährt Safia, dass etwa 20 junge Frauen festgehalten werden, alle zwischen 18 und 19 Jahre alt. Safia verbringt ihre Tage mit dem Fernseher. Am Anfang ruft Ghadhafi sie ständig zu sich. „Er ist immer gewalttätig, sadistisch.“ Überall hat sie blaue Flecken.
Auch mehrere männliche Sex-Partner
Natürlich muss man sich fragen: Stimmt das alles, was Safia erzählt? Wir können es nicht nachprüfen. Aber: „Le Monde“ ist nicht irgendein Boulevard-Blatt, sondern die renommierteste Tageszeitung Frankreichs. Die 52-jährige Journalistin Annick Cojean, die das Interview geführt hat, ist eine der erfahrensten „grands reporters“ von „Le Monde“. Die Erzählungen von Safia sind derart detailliert, dass sie glaubhaft wirken.
Immer wieder werden Feste mit italienischen, belgischen oder afrikanischen Models organisiert, erzählt Safia. Auch ägyptische Filmstars sind dabei. Ghadhafi habe sich ihnen gegenüber grosszügig gezeigt. Sie habe Koffer voller Euro- und Dollar-Noten gesehen. Auch afrikanische Staatschefs hätten von den Mädchen profitiert. Ghadhafi habe auch, so Safia, „mehrere männliche Sex-Partner“ gehabt.
“Er ist ständig unter Drogeneinfluss und schläft nie“
Der Diktator fordert Safia auf, zu rauchen, Whiskey zu trinken und Kokain zu konsumieren. Einmal habe sie eine Überdosis bekommen und sei ins Spital gebracht worden. Muammar Ghadhafi konsumierte immer Kokain, sagt Safia. „Er ist ständig unter Drogeneinfluss und schläft nie“.
Im Juni 2007 wird sie auf eine Afrika-Reise mitgenommen. Der Oberst stellt sie als Leibwächterin vor. Eines Abends in der Côte d’Ivoire bekleckert sie sich mit einem Lippenstift und will vorspiegeln, sie hätte ihre Tage. So hofft sie, er würde sie in Ruhe lassen. Ghadhafi explodiert vor Wut und schlägt sie zu Boden.
Die Eltern von Safia werden über das Schicksal ihrer Tochter informiert. Die Mutter darf sie einmal im Palast besuchen. Der Vater organisiert schliesslich ihre Flucht. Verkleidet als alte Frau gelingt es ihr im Jahr 2009 zu fliehen und nach Frankreich zu entkommen. Ein Jahr später kehrt sie nach Libyen zurück, versteckt sich und heiratet. Ihr junger Ehemann wird ihm Krieg schwer verletzt. Sie hätte gern vor einem Gericht über Ghadhafi ausgesagt. Doch sie weiss: „Die Frau ist immer schuld, Ghadhafi hat noch seine Anhänger“. „Le Monde“ beschliesst den Artikel mit den Worten: Ihr Leben ist in Gefahr, „Sa vie est en danger“.