Flugzeuge der amerikanischen Koalition haben einen Transport von IS-
Kämpfern mit ihren Frauen und Kindern, der sich in Syrien unterwegs
befand, angegriffen und „zum Halten gebracht“. Der Sprecher der
Koalition, Ryan Dillon, sagte, von den USA angeführte Bombenangriffe
hätten den Konvoi zum Stillstand gebracht. Sie hätten Krater in die
Strasse geschlagen und eine kleine Brücke zerstört, um die Buskolonne zum Halten zu zwingen. Allerdings fügte er hinzu, „einzelne Fahrzeuge, die klar identifiziert wurden“, würden auch bombardiert.
Ein Rückzugsversuch des IS
Es handelt sich um IS- Kämpfer, die aus dem libanesisch-syrischen
Grenzgebiet entfernt wurden, nachdem in den letzten Wochen Hizbullah-Kämpfer die letzten IS-Enklaven in dem gebirgigen Grenzgebiet am Ostende der Bekaa Ebene, das Jurud genannt wird, von der syrischen Seite aus angegriffen hatten und die libanesische Armee kurz darauf von der libanesischen her.
Entführte libanesische Sicherheitskräfte
Diese gleichen IS-Kämpfer hatten 2014 einen Überfall auf den
libanesischen Grenzflecken Arsal durchgeführt.Sie waren von dort
wieder abgezogen, nachdem die libanesische Armee Truppen gegen sie zusammengezogen hatte. Doch sie hatten 30 libanesische Soldaten und Polizisten gefangen genommen und mitgeschleppt. Das Geschick dieser Gefangenen blieb unbekannt und war Gegenstand einer beständigen inneren Diskussion und Unruhe in Libanon.
Die Familienclans drängten darauf, dass etwas für diese Geiseln getan oder mindestens Klarheit über ihr Schicksal geschaffen werde. 16 von ihnen kamen im Dezember 2015 frei durch einen Gefangenenaustausch mit dem IS. Von anderen vier meldete der IS, er habe sie „hingerichtet“, und ein fünfter sei an seinen Wunden gestorben. Doch das Geschick der neun Verbliebenen blieb unbekannt.
Zusage für freien Abzug gegen Klärung der Geiselfrage
Die IS-Führung in der Enklave bediente sich dieser Lage, um Ende der
vergangenen Woche einen Vertrag für freien Abzug auszuhandeln, der mit der libanesischen Armee, mit Hizbullah und mit der syrischen Armee abgeschlossen wurde. Auf Grund des Vertrages erhielten die
verbliebenen 308 IS-Kämpfer mit ihren Familien (331 Zivilpersonen,
meist Frauen und Kinder) die Zusage eines Transportes durch ganz
Syrien hindurch nach Abu Kemal, einem Ort, der am unteren Euphrat nur wenige Kilometer von der irakisch-syrischen Grenze entfernt liegt.
Nach dem Abzug der IS-Kämpfer fand die libanesische Armee die
Überreste von sechs Toten, von denen vermutet wird, dass es sich um
Leichen aus der Zahl der 2014 entführten libanesischen Soldaten
handelt.
„Gestoppt“ durch amerikanische Bomben
Es ist dieser Geleitzug von Autobussen, der nun von den Amerikanern
und ihrer Koalition gestoppt worden ist, bevor er das vom IS beherrschte Gebiet der Provinz Deir az-Zor erreichte. Der amerikanische Beauftragte des Präsidenten bei der Koalition, Brett McGurk, schrieb auf Twitter: „Unversöhnliche Terroristen sollten auf dem Schlachtfeld getötet und nicht in Bussen durch ganz Syrien hindurch an die irakische Grenze gebracht werden, ohne dass der Irak seine Zustimmung gibt. – Unsere Koalition wird mithelfen zu bewirken, dass die Terroristen nie in den Irak eindringen oder aus den Überresten ihres dahinschwindenden ‚Kalifates‘ entkommen können.“
Ryan Dilon, der Sprecher der Koalition, bestätigte die Bombardierung
und merkte an, es sei keine Lösung, die Terroristen von der libanesischen Grenze Syriens an die irakische zu transportieren. Er
unterstrich, dass die Amerikaner und ihre Koalition am Vertrag mit den Kämpfern nicht beteiligt seien. Beide amerikanischen Sprecher erwähnten den Umstand nicht, dass sich im Konvoi, zusammen mit den Kämpfern, auch ihre Familien befanden.
Die syrische Armee schweigt
Die syrische Armee, die ohne Zweifel die Autobuskolonne überwachte,
verweigerte alle Auskunft, als sie von der Agentur AFP über das
Geschehen befragt wurde. Das syrische Fernsehen zeigte Bilder des sich entfernenden Konvois. Die Menschenrechts-Beobachtungsgruppe in London, die stets gut über die Lage in Syrien Bescheid weiss, bestätigte, die Kolonne sei zum Halten gekommen, doch sie gab keine weiteren Informationen über die Gründe. Der irakische Ministerpräsident protestierte seinerseits gegen das Vorgehen, das IS-Kämpfer aus Syrien an die irakische Grenze verpflanze.
Keine Kampfpause für Raqqa
Die Lage des durch Bomben festgehaltenen Konvois, von dem man noch nicht weiss, was weiter mit ihm geschehen wird, ist nur ein Beispiel dafür, dass sich das Geschehen in Syrien zuspitzt. Ein anderes Zeichen der gleichen Grundstimmung war, dass die Uno in Raqqa eine Kampfpause forderte, um möglichst viele der zwischen 10’000 und 20’000 noch in der Stadt befindlichen Zivilisten zu retten.
Doch die belagernden Truppen der SDF, die aus Kurden und Arabern zusammengesetzt sind und Hilfe zur Luft und durch amerikanische Artillerie und Berater erhalten, lehnten dieses Ansinnen ab. Sie erklärten, wenn eine Pause eintrete, würde das Leiden der Zivilisten nur weiter zunehmen. Die IS-Terroristen würden nicht zulassen, dass sie Raqqa verliessen, weil sie ihnen als Schutzschilder dienten. Eine Kampfpause würde den Terroristen auch dazu dienen, sich neu zu formieren und stärker zurückzuschlagen. Die einzige Lösung für die leidende Zivilbevölkerung sei, die Stadt vom IS zu befreien. Die Kämpfe müssten daher andauern.
Die SDF-Truppen geben zu, dass die verbliebenen Zivilisten schwer litten und äusserst gefährdet seien. Sie stünden unter Druck durch den IS und durch die Bombardierungen, und sie hätten weder Nahrungsmittel noch Wasser. Die Führung der SDF versichert, sie tue, was sie vermöge, um Zivilisten zu retten. Sie habe nun bereits gegen 60 Prozent der Stadt unter ihre Herrschaft gebracht, und die Kämpfe müssten fortdauern.
Beschuss von US-Truppen durch pro-türkische Miliz-Soldaten
Ins gleiche Kapitel der wachsenden Spannungen gehört, dass am
vergangenen Samstag amerikanische Truppen unter Feuer der SFA kamen und das Feuer erwiderten. Die amerikanischen Truppen patrouillieren bei der Stadt Membij, um die SDF – Freunde der Amerikaner – und die SFA-Kräfte, die im Dienst der Türkei stehen, voneinander getrennt zu halten. Von Verlusten war dabei nicht die Rede. Der amerikanische Sprecher erklärte, die Patrouille habe sich nach Erwiderung des Feuers auf sicheres Gebiet zurückgezogen. Die Patrouillen finden seit Mai dieses Jahres statt. Dies ist offenbar der erste sie betreffende Zwischenfall.
Es gibt zweierlei Gründe für die wachsenden Spannungen: Präsident
Trump gab den lokalen amerikanischen Offizieren und ihren Oberbefehlshabern weitergefasste Kompetenzen für Entscheide
taktischer Natur auf den Kampfplätzen. Entscheide strategischer Natur gibt es nur in beschränktem Masse.
Welch strategischen Ziele hat Washington?
Es ist klar, dass die Amerikaner bereit sind, gegen den IS vorzugehen,
um diesen militärisch zu eliminieren. Doch ob und wie sie darüber
hinaus in Syrien mitwirken und mitkämpfen wollen, steht keineswegs
fest. Man weiss nur, dass die Liquidierung der territorialen Macht des
IS-„Kalifates“ nicht das Ende des IS-Terrorismus bedeuten wird. Der
Krieg wird mit terroristischen Mitteln als Untergrundkrieg fortgeführt
werden, sowohl in Syrien wie im Irak, wie auch weltweit.
Das Ziel, Abu Kemal an der syrisch-irakischen Grenze, das den aus dem libanesischen Grenzgebiet evakuierten IS-Kämpfern vorschwebte, ist bezeichnend für die Lage, wie sie nach der Niederkämpfung von Raqqa in Syrien und Tel Afar im Nordirak zu erwarten ist. Der IS wird
versuchen, sich in die Wüste zurückzuziehen, die zwischen Syrien und
dem Irak liegt.
Ein grosser Teil derselben bildet die irakische Anbar Provinz. Die Grenze zwischen den beiden Staaten, die diese Wüste durchteilt, erlaubt ein Hin und Her im Grenzraum, das die Terroristen begünstigen wird.
Auf der irakischen Seite sind die Amerikaner – aber auch ihre
politischen Gegner, die Iraner – engagiert, Bagdad gegen die
Terroristen zu unterstützen. Auf der syrischen Seite stehen die
Amerikaner der syrischen Regierung und den Russen sowie den ebenfalls aktiven Iranern und deren Hilfsvölkern, wie Hizbullah, entgegen. Dies jedoch nicht als erklärte militärische Feinde, sondern in
„Dekonfliktierungs-Arrangements“ im Falle der Russen und in einer
undefinierten politischen Spannung unter Vermeidung von militärischen
Zusammenstössen gegenüber der syrischen Armee und den iranischen
Milizen. Was genau die Amerikaner mit der ihnen ebenfalls als
„terroristisch“ geltenden HTS (früher Nusra Front) vorhaben, die in
Idlib dominiert, ist unklar.
Die politischen Unschärfen bewirken, dass de facto beherrschte Räume der verschiedenen sich entgegenstehenden – jedoch einander nicht notwendigerweise bestreitenden – Mächte existieren. Sie wechseln kontinuierlich, weil sie einzig durch die – sich verschiebenden – Frontverläufe definiert werden. Diese grenzen die sich in Bewegung befindlichen militärischen Kräfte und Hilfskräfte aller Seiten gegeneinander ab. Und dies multipliziert alle Reibungsflächen.
Ringen um das Erbe des IS
Der zweite Grund der erhöhten Spannungen ist durch den Wettlauf
bedingt, in dem die Armee Asads steht mit den syrischen Kurden und den Überresten der mannigfaltigen Rebellenmilizen, die gegen Asad und gegen den IS kämpfen. Beide Seiten in diesem Wettrennen gehen darauf aus, die Gebiete zu dominieren, die durch die Zurückdrängung des IS frei werden. Die Aussen- und Supermächte, Amerika, Russland, die Türkei und Iran sehen dem Ringen zu und wirken auch mit, jedoch ist unklar bis zweifelhaft, ob und inwieweit sie die gleichen Ziele verfolgen wie die von ihnen unterstützten Protagonisten im Feld.
Asad sucht ganz Syrien wieder unter seine Herrschaft zu bringen. Die
Russen unterstützen ihn dabei, doch ihr Hauptziel dürfte sein, einen
Zustand der Stabilität in einem Syrien zu erreichen, das fortfährt, ihren Einfluss im Land abzusichern. Dies muss auf die Dauer nicht das
Asad-Regime sein oder nicht dieses Regime in der gleichen Konfiguration wie bisher.
Iranische und türkische Ziele
Iran sucht genügend Einfluss in einem künftigen Syrien Asads oder
seiner Nachfolger, um seine Verbindungen zu Hizbullah Richtung
Südlibanon und israelische Grenze aufrechtzuerhalten oder zu festigen. Diese Zielsetzung Irans ruft auch Israel auf den Plan. Soeben gab Netanyahu bekannt, nach israelischer Ansicht baue Iran eine Raketenfabrik in Syrien.
Die Türkei hat anti-kurdische Prioritäten, und die Kurden hoffen, sie
könnten die gegenwärtige Unterstützung Amerikas, die sie im Kampf
gegen den IS geniessen, auch zur Erringung einer autonomen Zone in
Nordsyrien einsetzen. Die amerikanisch unterstützten und kurdisch
gelenkten Kräfte der DSF, die in Raqqa kämpfen, sprechen davon, dass sie demnächst eine Offensive den Euphrat abwärts Richtung Deir az-Zor auszulösen gedächten. Die syrische Armee rückt bereits vor mit dem gleichen Ziel. Deir az-Zor ist noch weitgehend in der Hand des IS.
Unklare Absichten der Saudis
Ob und wieweit Saudiarabien noch darauf hofft, mit Hilfe der islamistischen Kräfte, die nicht zum IS und nicht zu der HTS gehören,
das Asad-Regime zu Fall zu bringen und die Iraner aus Syrien
zurückzudrängen, ist ungewiss. Sicher ist nur, dass Saudiarabien zu
viele Grossaktionen auf einmal begonnen hat, um sie alle zu einem
erfolgreichen Ende zu bringen: Syrien, Jemen und den inneren Umbau aus einer Rentnergesellschaft in eine, die aus eigener Arbeit produktiv
werden soll. Dies alles bei fallender Erdölrendite.
Die Amerikaner sind von allen beteiligten Kräften jene, deren längerfristigen Ziele in Syrien ungewiss und wahrscheinlich undefiniert sind. Einerseits wegen der schlechten Erfahrungen, die sie im Nahen Osten in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, aber andrerseits und entscheidend, weil es der Präsident sein müsste, der die strategischen Ziele im Nahen Osten setzt. Und weil Trump, soweit es erkenntlich ist, über keinerlei Strategie verfügt, die über das nun der Verwirklichung
nahestehende Ziel einer militärischen Niederschlagung der territorialen Macht des IS hinausreicht.