Die resignierte Auffassung, zwischen Israelis und Palästinensern sei Gewalt die einzig geläufige Sprache, wird genährt durch die permanenten Negativmeldungen in den Medien. Diese Haltung ignoriert jedoch die immer noch vorhandenen konstruktiven Ansätze an Ort und Stelle. Denn allen Boykott-, Blockade-, Unterdrückungs- und Gewaltbewegungen zum Trotz gibt es unter Palästinensern und Israelis bis heute Einzelne und Gruppen, die das Vertrauen zueinander nicht verloren haben. Sie arbeiten weiter zusammen gegen die Besatzung und für eine gemeinsame Zukunft.
Raum für Diskurs – oder doch nicht?
Damit diese Hoffnungsträger in der dauerhaft konfliktbelasteten Region gehört und in ihren Friedensbestrebungen unterstützt werden, plante die Evangelische Akademie Tutzing am Starnberger See mit der Evangelischen Stadtakademie München, der Petra-Kelly-Stiftung und drei nicht institutionell gebundenen Personen – darunter die Verfasserin dieses Beitrags – für den 12. bis 14. Mai die Tagung mit dem Titel „Nahostpolitik im Spannungsdreieck. Israelisch-palästinensische Friedensgruppen als Lernorte für deutsche Politik?”
In der Tutzinger Akademie, die sich rühmt, „Raum für den unvoreingenommenen Diskurs“ zu bieten, sollten die Akteure einen geschützten Raum vorfinden, den es in ihren Gesellschaften heute kaum noch gibt: Wer mit der Gegenseite spricht, gilt der Mehrheit von Israelis und Palästinensern mittlerweile als Feind, ja als Verräter. Das 2016 verschärfte israelische Gesetz, das Nichtregierungsorganisationen mit überwiegender Förderung durch das Ausland unter starke Kontrolle stellt und vor allem auf regierungskritische Organisationen zielt, hat diesen Trend noch verstärkt. „Dialog unter Beschuss“ nannte der israelische Psychologe Dan Bar-On deshalb solche Friedensprojekte.
„Erhebliche Diskussionen“
Die Organisatoren der für Tutzing geplanten Tagung wollten nicht den üblichen Schlagabtausch, die wiedergekäuten Positionen offizieller Politiker auf die Bühne bringen, sondern jenen Menschen Gehör verschaffen, die als Grenzgänger zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen Kooperation wagen und so vorbildhaft Koexistenz leben. „Wir weigern uns Feinde zu sein“, lautete somit das Leitbild der Tagung. Das Wort „Spannungsdreieck“ im Titel war bewusst gewählt, ging es doch nicht zuletzt auch darum zu beleuchten, welche Rolle Deutsche im Nahostkonflikt gespielt haben, spielen oder spielen könnten.
Niemand ahnte im Laufe der einjährigen Vorbereitungen, dass ausgerechnet Deutsche die geplanten Dialogtage im Münchner Raum zum Scheitern bringen würden: Einen Monat vor Tagungsbeginn (gewiss nicht zufällig gerade zwei Tage vor Ostern) teilte Akademiedirektor Udo Hahn dem Planungsteam überraschend per E-Mail mit, er habe aufgrund „erheblicher Diskussionen“ entschieden, diese Tagung zu verschieben. Er begründete seine Entscheidung auch auf Nachfrage nicht weiter, einzig auf der Website der Akademie Tutzing liess er verlauten, es sei nicht gelungen „alle für das Thema massgeblichen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in angemessener Zahl zu gewinnen.“ Man werde das Thema zu gegebener Zeit wieder aufgreifen.
Vielversprechendes Programm
Indes, das hochkarätig besetzte Programm stand seit Jahresanfang fest, die Flugtickets waren gebucht, die Flyer gedruckt. Die Liste der Referierenden umfasste 24 namhafte PolitikerInnen, Wissenschaftler, Autoren, Journalisten, Friedensaktivisten und Künstler überwiegend aus Israel und Palästina, aber auch Deutschland. Darunter der Generalkonsul Israels, die Botschafterin Palästinas, der Historiker Moshe Zimmermann, der ehemalige Sprecher der Knesset Avrum Burg, die Buchautorin Lizzie Doron oder der Mitherausgeber des „Palestine-Israel Journals“, Ziad Abu Zayyad.
Es wollten sich ausserdem palästinensisch-israelische Gruppen wie die jetzt für den Friedensnobelpreis nominierten „Combatants for Peace“ oder der „Parents Circle – Families Forum“ vorstellen. Die „Combatants“ sind ehemalige IDF-Soldaten und palästinensische Kämpfer, die sich nicht mehr bekriegen wollen und sich die Hand gereicht haben. Wie sie das geschafft haben, wäre eine der Fragen an sie gewesen. Welche Vorstellungen und Visionen haben sie, und wie gehen sie mit dem alltäglichen politischen und gesellschaftlichen Druck um?
Der „Parents Circle“ besteht aus trauernden Menschen, die Angehörige durch die gewaltsamen Auseinandersetzungen verloren haben. „Wir alle haben bittere Tränen. Wenn wir, die wir den höchsten Preis bezahlt haben, einen Dialog führen können, dann kann das auch jeder andere“, so Rami Elhanan, ein israelisches Mitglied dieser Gruppe, dessen Tochter von einem palästinensischen Selbstmordattentäter ermordet wurde. Er ist seither davon überzeugt, dass man auf Gewalt nicht mit Hass und neuer Gewalt, sondern mit Dialog reagieren muss. Wie seine Mitstreiter schuf er kein neues Feindbild, dämonisierte nicht, sondern suchte und fand den menschlichen Zugang zum Gegner.
Unverständliche Absage der Tagung
Akademiedirektor Hahn und seinen Vorgesetzten – beziehungsweise denen, die ihn zu seiner Absage gedrängt hatten – gelten solche Referenten aber offenbar nicht als „massgebliche Gesprächspartner“. Fragt sich, wer es in ihren Augen denn gewesen wäre? Und was wäre eine „angemessene Zahl“ massgeblicher Gesprächspartner gewesen? Ferner: Auf welchen Zeitpunkt sollte die Tagung verschoben werden? Hatte etwa irgendjemand unter den Organisatoren oder den geladenen Gästen Israels Existenzrecht in Frage gestellt? – Keine Antworten. Udo Hahn schaltete auf Durchzug und betonte in Presseinterviews ebenso mantrahaft wie inhaltsleer, es sei in einer Akademie normal, dass Tagungen verschoben würden, zu gegebener Zeit werde das Thema wieder aufgegriffen werden (mit den massgeblichen Gesprächspartnern in angemessener Zahl, versteht sich).
Die niederschmetternde Wirkung, die dieser Akt auf die ausgeladenen ReferentInnen aus dem Nahen Osten haben würde, wurde hier offenbar in Kauf genommen. „Wir fragen uns, von wem die Kritik gekommen ist, und vor allem, warum diese späte Kritik zur Stornierung der Tagung führen konnte. Es ist anzunehmen, dass es sich hier um einen weiteren Versuch handelt, die kritischen Stimmen aus dem Nahen Osten auch in Deutschland zum Schweigen zu bringen“, schrieb der renommierte Historiker Moshe Zimmermann am 19. April. Das Schreiben ging auch im Namen von zwölf weiteren ReferentInnen aus Israel und Palästina an Udo Hahn und dessen obersten Vorgesetzten, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm.
Weiter heisst es in dem Schreiben: „Die Begründung für die Absage der Tagung lässt vermuten, dass sich unsere deutschen Gastgeber an die Haltung der offiziellen israelischen Politik angepasst haben, die die Befürworter des Friedens für illegitim hält (...) Dass eine deutsche evangelische Akademie in einem Land, dessen Verfassung die Meinungsfreiheit fest verankert hat, daran teilnimmt, die Meinungsfreiheit von Friedensbewegten aus dem Nahen Osten zu verletzen, bestürzt uns. Die israelische Besatzungspolitik zu kritisieren und das palästinensische Recht auf nationale Selbstbestimmung zu befürworten, ist nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen und somit durch die Meinungsfreiheit geschützt.“
Bis dato – und das ist an diesem Skandal ebenfalls beunruhigend – ist nicht offen gelegt worden, welche Akteure denn nun für „erhebliche Diskussionen“ gesorgt und politischen Druck ausgeübt haben.
Knatsch auch auf dipolmatischem Parkett
Wie eine Parallele zu den Ereignissen rund um die abgesagte Tutzinger Tagung muten die Querelen in der israelisch-deutschen Diplomatie an. Israels Premier Benjamin Netanyahu verlangte gestern von Aussenminister Sigmar Gabriel per Ultimatum, seine anlässlich des Israelbesuchs vorgesehenen Treffen mit zwei namhaften israelischen NGOs abzusagen. Ansonsten stünde er für das geplante Gespräch mit ihm nicht bereit (Ha’aretz, 24. April 2017). Heute ist es nun zum Eklat gekommen: Trotz Gabriels Geste, die NGOs erst nach, statt wie geplant vor dem Treffen mit Netanyahu zu sehen, liess dieser das heutige Gespräch mit dem Besucher platzen. Ein diplomatischer Affront erster Güte! Erst kürzlich hatte Netanyahu von den britischen und belgischen Regierungen verlangt, ihre Förderung linker israelischer Gruppen einzustellen.
So klar die Fakten und Akteure dieser zwischenstaatlichen Trübung sind, so undeutlich die Konfliktlinien im Fall Tutzing. Nachlesbar ist immerhin der Austausch innerhalb einer deutschen Facebook-Gruppe „Israel+Shalom“, die sich schon Anfang April dazu verabredete, die Tagung in Tutzing zu verhindern. Einige ihrer Akteure verunglimpften sehr unsachlich und in grenzwertiger Sprache die Programmverantwortlichen mit der Behauptung, sie stünden der Kampagne „Boykott, Divestment and Sanctions“ (BDS) nahe, beziehungsweise sie unterstützten diese. Diese Unterstellung macht jedoch keinen Sinn, denn wer den Boykott Israels für den richtigen politischen Weg zur Beendigung der Besatzung hält, lädt nicht ausgerechnet jene als ReferentInnen aus Israel ein, die das genaue Gegenteil von Boykott tun – miteinander sprechen, diskutieren, streiten und immer wieder aufeinander zugehen. Doch Rationalität und gesellschaftspolitische Verantwortung scheinen nicht Sache dieser Gegner des Dialogs zu sein. Vielmehr boykottieren sie ihrerseits und verhalten sie sich somit spiegelbildlich zum Objekt ihrer Angriffe, der BDS-Bewegung.
Feindbilder statt Dialoge
Im Zeitalter des Postfaktischen und der ungehemmten Diffamierung scheint es mittlerweile gleichgültig, mit welchem Geschütz gegen wen aufgefahren wird. Viele Befürworter der Regierung Bibi Netanjahus bezeichnen die israelisch-palästinensische Friedensbewegung pauschal als antisemitisch und Israel-feindlich. Doch wer so wahllos alles und jeden als antisemitisch abstempelt, läuft Gefahr, vor lauter Gepoltere den wahren Antisemitismus zu übersehen oder gar zu verharmlosen. Wer in jedem Kritiker der Besatzung einen Israel-Feind vermutet, trägt durch Ressentiments und Vorurteile selbst zum Anheizen des Konflikts bei.
Seit das Feindbild Muslim in der Bundesrepublik Einzug gehalten und blanken Rassismus entfesselt hat, zeigen sich auch die Antisemiten wieder ungeniert; sie waren ja nie weg, sie wagten nur nicht, sich wieder offen zu zeigen. In zahlreichen politischen Gruppierungen zeigt sich neuerdings die hässliche Fratze völkischer Bewegungen – und ihren Vertretern ist es am Ende gleichgültig, ob sie gegen Juden, Muslime oder Migranten vorgehen.
Interesse am Gesprächsabbruch
Wer kann ein Interesse haben, jeglichen Diskurs über eine unrechtmässige, jahrzehntelange unmenschliche Besatzung mit dem Pauschalvorwurf Antisemitismus zu unterbinden? Sollten tatsächlich gerade Deutsche denen den Mund verbieten, die sich trotz des Konflikts dem Dialog mit den „Anderen“ stellen, um eine gemeinsame menschliche Basis wiederzufinden?
Perfide ist die „Verschiebung“ einer so anspruchsvoll besetzten Tagung ohne Angabe von Gründen auch deshalb, weil sie die Verschwörungstheoretiker und Hardliner auf den Plan ruft. Kein Wunder, dass die im Hintergrund aktive Facebook-Gruppe die Absage der Tagung als „wichtigen Etappensieg“ bejubelt.
Wem kommt das Einknicken der Akademieleitung zupass? Den Rechten allemal – sie polemisieren gegen Juden und Muslime gleichermassen. Erfreut sind alte und junge Nazis, die ihren Antisemitismus ungehemmt ausleben. Zufrieden sind wohl auch so manche Linke, die sich entweder ausschliesslich mit den Palästinensern oder den Israelis identifizieren oder vielmehr überidentifizieren. Sie halten dialogische Ansätze für unpolitisch oder einfach für vertane Zeit. Mit bei den Dialogverweigerern sind auch diejenigen Philosemiten, die alles Israelische idealisieren und zugleich alles Islamische dämonisieren. Zum Club gehören ferner rechte Zionisten, christliche Fundamentalisten, Islamisten. Und natürlich sind auch Misanthropen und Zyniker dabei, die sich daran ergötzen, Konflikte am Glühen zu halten und zu schüren, damit sie ihre eigenen inneren Spannungen und Spaltungen ertragen können.
Nicht zu vergessen all jene, die Angst haben; reale begründete Ängste oder Ängste vor dem imaginierten Bedrohlichen, wobei letztere sehr viel mächtiger und politisch leicht instrumentalisierbar sind. Der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis dient seit Jahrzehnten hervorragend als Projektionsfläche für unbearbeitete Traumata aus der NS-Zeit, für verschleierte Schuld, unterdrückte Rache- und Hassgefühle.
Rami Elhanan vom „Parents Circle“ sagt über seine Zusammenarbeit mit Palästinensern: „Es geht nicht darum zu vergessen oder vergessen zu machen, sondern darum, mit dem Trauma und dem Schmerz leben zu können. Damit das Leid nicht von Generation zu Generation weitergereicht wird und immer neues Unheil stiftet.“
Verpatzte Chance
Wer die verschiedenen Asymmetrien im Nahostkonflikt nicht begreift, hätte auf der Tutzinger Tagung vieles lernen können. Die dortige Akademie ist nicht der erste Ort, an dem eine Nahost-Veranstaltung in letzter Zeit abgesagt wurde, oft durch offen artikulierten Druck jüdischer Gemeinden, die in solchen Diskursen einen Angriff auf Israel sehen. Die Tutzinger Akademie als starker Player in der deutschen Tagungslandschaft setzt mit ihrer Absage einen Präzedenzfall. Und wer sich einmal erpressbar gezeigt hat, der ist es im Zweifelsfall immer wieder – dazu braucht es noch nicht einmal das hochkomplexe Nahostthema. Irgendwann sind es dann auch andere Themen, die bei Gegenwind gekippt werden.
Noch vor wenigen Jahren waren Tagungen und Konferenzen mit israelischen und palästinensischen Friedensaktivisten ganz normal. Es gilt daher auch, die veränderte, polarisierte gesellschaftliche Atmosphäre wahrzunehmen, in der diese Entscheidung nun gefallen ist. Es ist eine ungute Tendenz, Themen zu verbieten und Akteure zu marginalisieren, die nicht ins eigene Weltbild passen, sei es in vorauseilendem Gehorsam, aus Mangel an Mut oder in gezielter Absicht.
Dass ausgerechnet eine renommierte grosse deutsche Akademie sich dieser destruktiven Dynamik gebeugt hat, lässt für das politische Klima nichts Gutes ahnen. Ganz zu schweigen davon, dass Netanyahu sich bestärkt fühlen darf.