Was muss man über Zen-Buddhismus wissen, wenn man die Bilder Sengais angemessen würdigen will? Nichts? Viel? Beides ist möglich. Man kann sich verzaubern lassen von der Leichtigkeit seines Pinselstrichs, von der hintergründigen Ironie seiner Texte, von der Schönheit des Materials, mit dem er gearbeitet hat. Man kann aber auch eintauchen in die Weisheit des Zen und die Geisteswelt der japanischen Klöster, die Künstler wie ihn hervorgebracht haben. Vor allem aber muss man schauen und das Geschaute auf sich wirken lassen. Mit Logik und akademischem Wissen kommt man bei Zen ohnehin nicht weit.
Sengai wurde 1750 als Sohn eines Bauern in der zentraljapanischen Provinz Mino geboren. Im Alter von elf Jahren trat er ins Kloster ein, mit 19 wurde er Schüler des berühmten Zen-Meisters Gessen Zenne, bei dem er bis zu dessen Tod blieb. Nach einer längeren Pilgerreise durch mehrere Provinzen Japans liess er sich auf der südlichen Halbinsel nieder, trat dort in den Shôfuku-Tempel ein und wurde ein Jahr später dessen 123. Abt. Zu malen begann Sengai erst im Alter von 62 Jahren, nachdem er das Amt an seinen Nachfolger weitergegeben hatte. Er malte bis zu seinem Tod im Jahre 1837.
Eine Auswahl von rund 40 Arbeiten Sengais aus der Idemitsu-Sammlung in Tokio sind derzeit in einer von der Japanologin Katharina Epprecht kuratierten Ausstellung im Zürcher Rietberg-Museum zu sehen. Die kleine Schau im Untergeschoss des „Smaragds“ entführt den Besucher in eine andere Welt: gedämpftes Licht, dunkle Wände, Stoffbahnen aus Seide und darauf Blätter, die leuchten und im Raum zu schweben scheinen. Zu sehen sind Tiere, Pflanzen, Gebrauchsgegenstände und Menschen, aber auch einfach nur Schriftzeichen oder geometrische Figuren, mit Tusche und Pinsel aufs Papier geworfen, mal kräftig und breit, mal blass und wie verschwimmend, aber immer schwungvoll und aus einer einzigen Bewegung des Körpers, des Arms, der malenden Hand heraus entstanden. Korrigieren, das sieht man bald, lässt sich da nichts. Es ist, wie es ist, und wie es ist, muss es sein. Begleitet werden die Darstellungen von kurzen Texten, die zusammen mit dem Bild der Selbstreflexion und Unterweisung auf dem langen Weg zur Erleuchtung dienen sollen.
Gemeinsam ist all diesen Bildern und Texten, dass sie in ihrer Bedeutung offen sind und in ihrer Paradoxie die Logik des Betrachters nicht selten auf eine harte Probe stellen. Manchmal aber sind sie auch einfach nur witzig und voller Schalk. Sengai muss ein weiser Mann gewesen sein, der über sich selbst lachen konnte und es liebte, sein Gegenüber zu verblüffen. Sengai – das ist unverkennbar – war aber auch ein alter Mann, als er zu malen begann. Mehr als tausend Blätter sind zwischen seinem Rücktritt als Abt und seinem Tod im Alter von 87 Jahren entstanden: Blätter, die etwas Flüchtiges an sich haben, etwas bewusst oder unbewusst Unfertiges, Unvollkommenes – ganz so, als sei es dem Meister nicht mehr darauf angekommen, seine Meisterschaft unter Beweis zu stellen. Wenn er das Alter darstellt in seinem Werk, und das tut er häufig, dann ist da nichts Beschönigendes zu erkennen, im Gegenteil. Sengai ist ein Realist, ein Pragmatiker, der den Menschen nimmt, wie er ist, und ihm – und auch sich selbst – in heiterer Gelassenheit den Spiegel vorhält.
Trotz seines Alters und seiner Weisheit – oder gerade deshalb – war Sengai aber auch ein bescheidener, ein einfacher Mann geblieben, einer, der wusste, wie beschränkt menschliches Wissen, wie unvollkommen sein Tun, wie begrenzt sein Dasein ist. Nimm dich nicht so wichtig, scheinen manche seiner Blätter zu sagen, und lass die Regeln auch mal Regeln sein, sie helfen dir nicht weiter, wenn du sie sklavisch befolgst. Darauf will eine Darstellung wie „Der Frosch“ hinaus, die besagt, dass, wenn es bei Zen nur aufs Sitzen ankäme, das Tier schon längst ein Buddha sein müsste. Oder jene andere, die ihn selbst betrifft und wo über dem bärtigen Greisengesicht die Worte stehen: „Bodhidharmas Gedenktag ist da, und ich sitze in Meditation, aber oh, der Schmerz von diesem Furunkel an meinem Gesäss!“
Da ist die Feierlichkeit buchstäblich im Eimer, das Heilige ins Profane, Alltägliche gekippt – und dies natürlich nicht von ungefähr, sondern mit voller Absicht. „Heiligkeit ist ohne Heiligkeit, grosse Weisheit ist Nicht-Weisheit; den ganzen Tag liest er die Sutren und versteht deren Bedeutung nicht“ – die Sätze begleiten das Bild eines mit leichter Hand hingetuschten Mönchleins, das angestrengt auf seine Schriftrolle starrt und nichts versteht, weil er eben nur ein Mensch ist, der sich zwar strebend bemüht, aber nie wirklich ans Ziel gelangt.
Grosse innere Freiheit und tiefe Weisheit sind nötig, um eine solche Haltung dem Religiösen gegenüber zu entwickeln. Sengai möchte sie seinen Schülern vermitteln, nimmt sich dabei aber auch selber nicht aus. Nirgendwo gibt es einen Hinweis darauf, dass er sich auf den Stand seiner Weisheit oder den Grad seiner Meisterschaft etwas eingebildet hätte. Im Gegenteil: Sengai war der Ansicht, dass Heiligkeit ohne Heiligkeit auskommen, ein Maler nicht wie ein Maler malen und ein Buddhist nicht wie ein Buddha riechen solle. Aporien wie diese – das wird im aufschlussreichen Filmporträt des Schweizer Japanologen Urs App deutlich – sind es, die die Kunst des Künstlers und die Weisheit des Weisheitslehrers Sengai ausmachen. Seine Bilder und Sinnsprüche sind auch für den Betrachter von heute – oder gerade für ihn – eine Schule des Sich-Bescheidens, eine Einübung in die Begrenztheit des menschlichen Daseins. „Iss das und trink eine Tasse Tee“ steht neben einem Kreise geschrieben, der auf das Absolute, das Universum, die letzte Wahrheit verweisen, aber vielleicht auch nur ein rundes Küchlein darstellen kann.
Auf die Frage des Kaisers von China, worin denn der Sinn der heiligen Wahrheit bestehe, soll Bodhidharma, der Begründer des Zen, geantwortet haben: „Offene Weite, nichts Heiliges.“ Etwas von diesem Geist weht zur Zeit in den Räumen des Zürcher Rietberg-Museums. Die Besucherinnen und Besucher, die sich darauf einlassen, gehen anders heraus, als sie hereingekommen sind.
Zen-Meister Sengai, Rietberg-Museum, Zürich. Aus konservatorischen Gründen wird die Ausstellung in zwei Teilen gezeigt: Teil 1 bis 29. Juni, Teil 2 vom 1. Juli bis 10. Aug.
Kostenlose Führungen: Do, 12.15 und So 11.00 Uhr.
Einführung in den Weg des Tees: Mi, 18.00 Uhr.
Katalog zur Ausstellung, englisch und deutsch, bei Scheidegger & Spiess, Zürich, CHF 34.-