„Schweizer Schulpreis“ – so heisst er grossmäulig, und er geht jedes zweite Jahr an „innovative und zukunftsorientierte Schulen“. Wer sich auf der Website des Vereins nach zielgeleiteten, konkreten Kriterien kundig macht, ist enttäuscht. Er findet sie nicht. Stattdessen stösst er auf öffentlichkeitswirksame Schlagworte wie „Schülerinnen und Schüler [nehmen] ihr Lernen selbst in die Hand“ oder „Schulen [pflegen] pädagogisch fruchtbare Beziehungen zu ausserschulischen Personen und Institutionen sowie zur Öffentlichkeit“.
Luftige Pläne und ziellose Zukunftskonzepte
Wo solche Preise vergeben werden, sind Floskeln nicht weit. Belohnt werden Worthülsen oder „Claims“, wie sie die Werbesprache nennt. Da heisst es zum Beispiel von einer prämierten Gemeinde: „Vorbildlich ist die Schule, weil sie zeigt, wie eine grosse Schule mit verschiedenen Schuleinheiten einen gemeinsamen Entwicklungsprozess anstossen und vorantreiben kann. Die Schulen [nn] erhalten den Schulpreis für einen sorgfältig erarbeiteten und ausgezeichnet umgesetzten Changemanagement-Prozess, der für viele andere Schulen, die sich auf den Weg machen wollen, Vorbild und Musterbeispiel sein kann.“ Verkündet hat diese frohen Worte Vladimir Petković, Trainer der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft.
Wie das gemacht wird, wohin dieser Weg führt und welche Ziele der „Changemanagement-Prozess“ erreichen soll, von all dem sagte Petković nichts. Geschweige denn, was sich in dieser Schulgemeinde in der Zwischenzeit verändert und welche Lernfortschritte sie bei den Kindern erreicht hat.
Oberflächenmerkmale mit geringem Effektwert
Wer näher heranzoomt und die preisgekrönten Merkmale mit John Hatties vielfach bestätigten Wirkfaktoren verbindet, erkennt schnell: Da dominieren Oberflächensignaturen, da figurieren Faktoren, die praktisch keinen Effekt erzielen. Beim „Schweizer Schulpreis“, gesponsert von deutschen Stiftungen und Protagonisten einer „neuen“ Schule, geht es wohl weniger um lernwirksamen Unterricht als um schöne Äusserlichkeiten wie altersdurchmischtes und selbstorientiertes Lernen oder webbasiertes und individualisiertes Arbeiten. Nach Hattie aber kommt all diesen Faktoren eine sehr geringe Wirkkraft zu. Jahrgangsübergreifende Klassen z. B. erzielen nur gerade eine Effektstärke von 0.04. [1] Die Massnahme bleibt also – kognitiv wie sozial – wirkungslos. Und die Heterogenität heutiger Klassen künstlich steigern ist kein Ziel.
Nur die Effektwerte, und zwar hohe, machen eben sichtbar, was ein pädagogisches Konzept beinhaltet und konkret für das Lernen der Kinder bedeutet. Wohlklingende Theoriebegriffe alleine verfügen über keine Wirkungsgarantie in der Praxis, so wenig wie ein Frostschutzmittel gegen Durst hilft.
Innovativ ist nicht per se gut und erstrebenswert
Seit zweieinhalb Jahren gibt es sie, die Sekundarschule Sandgraben am Badischen Bahnhof von Basel, und schon wurde sie für ihre „zukunftsgerichteten und richtungsweisenden“ Innovationen prämiert. Sie gehört damit zu den Vorzeige- und Modellschulen des Landes. Doch wie geht das? Wie kann man innert so kurzer Zeit Effektwerte messen und hohe Lernwirksamkeit? Das ist doch der Kern, wenn wir von anspruchsvollem Unterricht und guter Schulqualität sprechen?
Dazu der renommierte deutsche Erziehungswissenschaftler und Schulforscher Andreas Helmke: „Was mich immer wieder nervt: Die naive Einstellung, etwas sei schon deshalb gut und erstrebenswert, weil es „neu“, „innovativ“, „modern“ ist. Viele Erkenntnisse und Prinzipien, z. B. der Lern- und Gedächtnispsychologie, sind „alt“ und definitiv nicht „modern“, aber zeitlos gültig.“ [2] Doch von solch alterungsresistenten Grundsätzen steht in den wortreichen Laudationes des Schweizer Schulpreises kein Wort.
Wie Kaninchen – moderne Käfighaltung von Kindern
Als neu und revolutionär gilt auch digitales Lernen. Lernsoftware bereits im Kindergarten fordert darum das amerikanische Unternehmen Microsoft. E-Learning mutiert zum modernen Zauberwort. Die Schulen rüsten auf. Möglich macht’s das Attribut „innovativ“.
Das Bild der prämierten Sekundarschule Sandgraben Basel spricht Bände. Jede Schülerin für sich, jeder Schüler allein, alle isoliert, obwohl der menschliche Dialog seit Platon immer wieder als lernfördernd erkannt wird.
Jeder sein eigener Lerner: So sieht der Unterricht der Zukunft die meiste Zeit aus, wenn es nach den Plänen der deutschen Bertelsmann-Stiftung und ihrer Exponenten Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt geht. [3] Während unzähliger Stunden gibt es kein Miteinander, keinen sozialen Austausch, nur individuelles Arbeiten am PC. Grossraumbüros bereits für kleine Kinder. Die Digitalindustrie pusht diese Innovation, Stiftungen prämieren sie, Pädagogische Hochschulen und der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH wirken mit.
Online-Learning zum Konsolidieren
Dabei ist Lernen ein dialogisches Geschehen, ein zwischenmenschlicher Austausch. Das zeigt die Lernpsychologie, das belegt die Neurowissenschaft. Der Hirnforscher Gerhard Roth sieht den Wert des Online-Learnings primär im Konsolidieren eines vorher erworbenen Wissens, nicht aber im Generieren neuer Erkenntnisse und Einsichten. Dazu braucht’s, so Roth, die kompetente und vertrauenswürdige Lehrperson. [4] Auch bei John Hattie erreicht webbasiertes Lernen lediglich den vernachlässigbaren Effektwert von 0.18.
Eine zentrale Rolle im Unterricht spielt die Beziehungsebene oder der „pädagogische Bezug“, wie man früher sagte. Darum gilt es als unbestritten: Eine Atmosphäre des Vertrauens und Zutrauens, der Fürsorge und des Wohlwollens ist unverzichtbar für Bildung und schulische Leistung. Eine einfache pädagogische Wahrheit. In John Hatties empirischen Studien erreicht sie den hohen Wirkfaktor von 0.72.
Unterricht als „Meeting of Minds“
Unterricht hat per se eine dialogische Struktur. Nicht umsonst entdecken Didaktiker jeder Generation das „sokratische Gespräch“ neu. Lernende und Lehrende begegnen sich im Schulstoff und in der Gemeinschaft der Klasse. Der Unterricht wird so zum sozialen Austausch zwischen Personen, zum „Meeting of Minds“, wie es der grosse amerikanische Philosoph John Dewey nannte. Das schliesst digitale Lernsequenzen nicht aus. Im Gegenteil. Immer aber kommt es auf den einzelnen Lehrer an, auf den analogen Umgang zwischen ihm und seiner Klasse – und den Schülern untereinander. Gutes, unterstützendes Klassenklima bewirkt viel – genauso wie die humane Energie des Lehrers für seinen Beruf.
Keine iPads oder iPhones für Steve Jobs’ Kinder
Das ist in der Käfigatmosphäre des digitalisierten Grossraum-Schulzimmers, in diesem ökonomisierten und technisierten Gebilde mit den engen Boxen, nicht mehr möglich und auch nicht gewollt. Wird der Bildschirm zum dominanten Bezugspunkt, verdrängt er die soziale Dimension von Bildung. Nicht umsonst wählten Bill Gates und Steve Jobs für ihre eigenen Kinder einen analogen Unterricht; sie schickten sie in Waldorf-Schulen – ohne iPads und ohne Tablets. Ob wir uns solch digitalisierte Klassen wünschen? Big Brother is Teaching You! Arme Kinder! Reich wird wohl nur die Digitalindustrie. Ihr Sponsoring von Schulpreisen scheint nicht ganz uneigennützig.
[1] Hattie John, Visible Learning. London, New York: Routledge 2009. / Hattie John/Beywl Wolfgang & Zierer Klaus, Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013. Hatties umfangreiche Meta-Meta-Studie gilt international als Referenz. Gemäss Hattie hat z. B. Lehrerfeedback einen Effektwert von d = 0.75, individualisierender Unterricht lediglich eine Wirkung von d = 0.22.
[2] In einem persönlichen Mail vom 15.09.2016 an den Verfasser.
[3] Jörg Dräger, Ralph Müller-Eiselt: Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2015. Der eine ist Vorstand, der andere Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung.
[4] Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett-Cotta 2011.