In Riad ist am 2. Januar die Hinrichtung von Nimr an-Nimr bekannt
gegeben worden, zusammen mit 46 anderen Personen. Den meisten der Hingerichteten wurde vorgeworfen, sie gehörten zu al-Qaida und hätten deren Anschläge in den Jahren zwischen 2003 und 2008 begangen oder gefördert. Doch vier der 47 Hingerichteten sind Schiiten saudischer Nationalität.
Proteste in der schiitischen Ostprovinz vor 5 Jahren
Scheich Nimr al-Nimr ist der bekannteste von ihnen. Den
Schiiten wird "Ungehorsam gegenüber dem Herrscher" vorgeworfen. Sie wurden im Verlauf von Demonstrationen in der schiitischen Ostprovinz des Königreiches gefangen genommen, die sich in den Jahren 2011 und 2012 ereigneten. Der schiitische Gottesgelehrte Nimr al-Nimr war führend daran beteiligt, lautete die Anklage eines Sondergerichtes für Terrortaten, das die Todesurteile aussprach. Die Ostprovinz mit der Hauptstadt al-Qatif ist von Schiiten bewohnt. Ihre Zahl soll zwischen 10 und 15 Prozent der 29 Millionen saudischer Bürger betragen.
An-Nimr hatte in seinen feurigen Predigten zu friedlichen Demonstrationen aufgerufen. Er hatte seine Zuhörer aufgefordert, dafür zu sorgen, dass keiner der Demonstranten bewaffnet sei. Doch sind bei der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen von 2011 drei Polizisten ums Leben gekommen, zusammen mit mindestens 14 der schiitischen Demonstranten.
"Auflehung gegen den Herrscher"
Die Frage von Gewaltlosigkeit oder Gewalt stellte sich nicht für die
saudische Gerichtbarkeit, die behauptet, auf Grund des islamischen
Gottesgesetzes zu urteilen, genauer des islamischen Gottesgesetzes, so wie es die wahhabitische Islamrichtung auslegt. Für sie zählt Gehorsam oder Ungehorsam gegenüber dem Herrscher.
Als den rechtmässigen Herrscher anerkennt sie den saudischen König auf Grund eines Zweckbündnisses, das der erste saudische Herrscher gegen Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Begründer der wahhabitischen Lehrmeinung, Muhammed Ibn Abdul Wahhab (er lebte 1702/3 bis 1792) abschloss. Das Bündnis beinhaltete eine gegenseitige Anerkennung des Herrschers und des Religionsstifters, dessen Lehre damals von der grossen Mehrheit der damaligen sunnitischen Muslime als unorthodoxe Abweichung vom wahren Islam empfunden wurde.
Es gehörte zur Lehre des Ibn Abdul Wahhab, dass er die Schiiten nicht
als Muslime ansah. Dies führte zu Plünderung und zu Massenmord in
Kerbela, der grossen schiitischen Pilgerstadt im Irak, durch einen
wahhabitischen Feldzug im Jahr 1802. Im Gegenzug sorgte das Osmanische Reich, zu dem damals neben vielen anderen Ländern des Nahen Ostens auch der Irak gehörte, dafür, dass das erste saudische Reich durch eine ägyptische Armee, die im Namen der Pforte agierte, in den Jahren 1810 bis 1818 niedergekämpft und zerstört wurde. Schon sechs Jahre später, 1824 entstand ein zweites und 1901 ein drittes saudisches Herrschaftsgebiet, jedesmal wieder in Zusammenarbeit mit den Nachfahren und Anhängern Ibn Abdel Wahhabs.
Das dritte saudische Reich
Das dritte saudische Reich wurde sehr reich, als nach dem zweiten
Weltkrieg die Erdölausbeutung durch eine amerikanische
Erdölgesellschaft begann.
Schon vor der Erdölepoche hatte der Gründer des dritten Saudischen
Reiches, Emir, später König, Abdul Aziz Ibn Saud, seine Herrschaft
über die grössten Teile der Arabischen Halbinsel hin ausgedehnt. Er
stützte sich dabei auf die wahhabitische Religionsrichtung. Die
Nachfahren und Schülern Ibn Abdul Wahhabs sind vielfach verschwägert mit dem Hause Saud und befinden sich nach wie vor in führenden geistlichen Positionen.
Die östlichen, am Golf liegenden, Landesteile der Provinz al-Hasa
wurden 1913 an den saudischen Machtbereich eingeschlossen. Die dort lebende schiitische Bevölkerung besteht seit sehr alten Zeiten. Vor
der Eingliederung in das wahhabitische Königreich gehörte die
Gross-Oase al-Hasa am Persischen Golf zum Osmanischen Reich. Ihre
stärkste Verbindung zur Aussenwelt war jene zur See auf dem Golf nach Basra, der schiitischen See- und Handelsstadt, und über den Golf
hinweg nach Iran, dem Land, das ab 1500 ein schiitischer Staat
geworden war. Im Irak dem Urspungsland des Schiismus, gibt es Schiiten seit dem Tod al-Hussains in Kerbela vom Jahre 680.
Zwischen Repression und taktischer Duldung
Der Beginn der wahhabitischen Herrschaft in der Ostprovinz Hasa (auch Lahsa genannt ) war hart. Die Schiiten wurden als solche unterdrückt und durften zunächst ihre Religionsgebräuche nicht mehr ausüben. Ihre Moscheen wurden von wahhabitischen Geistlichen übernommen. Doch schon ein Jahr nach der Eroberung lockerte der Reichsgründer, Abdul Aziz, damals Emir noch nicht König, das wahhabitische Regime und sicherte den Schiiten freie Religionsausübung in ihren eigenen abgegrenzten Innenbereichen zu. Seither hat die saudische Herrschaft immer zwischen Repression und pragmatischer Duldung geschwankt. Doch eine volle Gleichberechtigung der Schiiten mit den wahhbitischen Trägern des
Reiches gab es nie.
Die iranische Revolution wirkt sich aus
Die stets bestehenden Spannungen spitzten sich zu, als 1979 Khomeiny in Iran an die Macht kam und alle Schiiten sich durch die schiitische Revolution in Iran gestärkt und ermutigt fanden. Die Lehre Khomeinys vom Herrschenden Gottesgelehrten fand Anhänger in den Städten und Dörfern der Gross-Oase am Golf, und die Gegensätze verschäften sich weiter, als Khomeiny 1987 heftig mit Saudi-Arabien zusammenstiess. Den Berichten nach kamen damals 275 iranische Pilger in Zusammenstössen mit der saudischen Polizei um, nachdem sie versucht hatten in Mekka, für die iranische Lehre, wie sie Khomeiny vertrat, zu demonstrieren. Der nun hingerichtete Nimr an-Nimr war ebenfalls ein Anhänger dieser Lehre.
Schiiten über den Ölfeldern
Der Umstand, dass die saudischen Schiiten ganz nah an oder über den
grössten arabischen Erdölfeldern leben, trägt dazu bei, die
Empfindlichkeiten vonseiten der saudischen Machthaber zu erhöhen.
Seitdem Khomeiny in Iran die Macht ergriff, sehen sie hinter allen
Unruhen der saudischen Schiiten die Hand Irans. Sie verkennen dabei,
dass ein ebenso wichtiger wenn nicht noch wichtigerer Auflehnungsgrund für "ihre" Schiiten darin liegt, dass diese stets diskriminierend behandelt werden.
Die saudischen Gerichte, an denen wahhabitische Geistliche Recht sprechen, lassen Schiiten nicht als Zeugen zu, weil sie von den Wahhabiten als nicht-Muslime eingestuft werden. Doch schiitische Gerichte dürfen die saudischen Schiiten auch nicht einführen. Gesuche in diesem Sinn wurden stets abgelehnt, weil Saudi-Arabien sich als ein wahhabitisches Königreich ansieht, in dem es nur wahhabitische Kadis geben kann. Schiiten erhalten keine Offizierspositionen in der Armee und werden nicht in die oberen Ränge der Verwaltung zugelassen. Sogar Schuldirektoren können Schiiten nur in seltenen Fällen werden, und die staatlichen Lehrbücher zeichnen die Schiiten als Feinde des wahren Islams.
Neue Machtverhältnisse im Irak
Für die Herrschaft in Riad war der Machtumschwung im benachbarten
Irak, der im Gefolge der amerikanischen Invasion des Landes von 2003
nicht mehr von Sunniten sondern von Schiiten regiert wurde, ein
weiterer Grund, den Schiiten zu misstrauen und sich vor ihnen zu
fürchten. Die irakische Armee unter Saddam, die einen achtjährigen
Krieg gegen Iran geführt hatte (1980-88), war für das Königreich ein
Schutz gegen die dem eigenen Militär weit überlegene iranische
Streitmacht gewesen.
Ein "sunnitisches" Heer von einer halben Million Soldaten im Irak wirkte als Gegengewicht gegen die "schiitische" Armee Irans von ebenfalls mehr als einer halben Million. Doch der neue Irak, nach der amerikanischen Invasion, entpuppte sich plötzlich als ein schiitisches Land, das unter Ministerpräsident Nuri al-Maleki auch eine "schiitische" Armee erhielt, dominiert durch schiitische Offiziere und deren schiitische Truppen.
Expansivpolitik Teherans
Darüber hinaus zeigten die schiitischen Machthaber auch eine Tendenz, die arabischen Nachbarstaaten des Königreiches zu beeinflussen, indem sie die dortigen schiitischen Minderheiten ermunterten und aufrüsteten, am deutlichsten im Falle Libanons mit Hizbullah, jedoch auch in Syrien durch das Bündnis mit der herrschenden alawitischen Asad Familie. Im benachbarten Bahrain, wo die Bevölkungsmehrheit aus Schiiten besteht, jedoch eine sunnitische Minderheit mit dem sunnitischen Herrscherhaus regiert, herrscht eine ähnliche Lage wie in den nahe liegenden saudischen Golfgebieten.
Die Schiiten protestierten und forderten mehr Mitsprachrechte. Die Herrscher sehen hinter den Demonstrationen in erster Linie die Hand Irans. Als die Lage 2011 in Bahrain kritisch wurde, sandte das saudische Königreich Truppen auf die benachbarten Inseln, um mitzuhelfen, die dortigen Schiiten niederzuhalten. Die Niederhaltung dauert bis heute an.
Krieg "den Schiiten" in Syrien und Jemen
Dazu kam Jemen, die dortigen Zaiditen sind zwar bloss entfernte
Vettern des iranischen Zwölfer Schiismus, ähnlich wie es die syrischen
Alawiten sind. Doch die Saudis in ihrer Sorge über schiitische
Subversion stuften sie beide als Vasallen der Iraner ein. Was dazu
führte, dass sie in Syrien die Opposition gegen Asad unterstützten -
auch jene, die mit Gruppen zusammenarbeitet, die - wie die Nusra-Front - aus Syrien einen "islamischen Staat" machen wollen, der - falls er zustande käme - mit Saudiarabien zusammenstossen würde. Den Kämpfern für einen Islamischen Staat in Syrien und im Irak erscheint das wahhabitische Bündnis mit der weltlichen Herrscherfamilie Saud als eine Einschränkung des islamischen Staates, die sie nicht hinnehmen wollen.
Der andere "Islamische Staat", IS, in Teilen Syriens und des Iraks, hat
sich bereits als Feind des Königreiches positioniert und fordert seine Anhänger auf, gegen die saudische Monarchie zu kämpfen.
Bomben gegen "Schiiten" im Nachbarland
In Jemen haben sich vergleichbare Verhältnisse ergeben wie in Syrien.
Dort kämpfen die Saudis und ihre Verbündeten aktiv gegen die vermeintlichen Schiiten, als welche sie die Huthis einstufen, und gegen deren Verbündete, die meist sunnitischen Soldaten des früheren Präsidenten Ali Saleh Abdullah. Dies weil sie - ohne wirklich handfeste Gründe - der Ansicht sind, die Huthis seien ein Instrument Irans, wie sie dies auch von den Alawiten glauben und von ihren eigenen Zwölfer Schiiten, sobald diese gegen die ihnen bereitete Lage protestieren.
Immer mehr "Landesfeinde"
Die saudischen Behörden sind so im Begriff, sich immer mehr Feinde
aufzuladen. Indem sie alle jene als Feinde behandeln, die von ferne
oder von nah mit dem Schiismus in Einvernehmen stehen, machen sie sich selbst viele Feinde: im eigenen Land, in Jemen, in Bahrain, im Irak, in Syrien, in Libanon. Gleichzeitig müssen sie auch noch die radikalen Sunniten fürchten, die ihre "weltliche Königsherrschaft" ablehnen, in erster Linie und schon heute sind dies die Leute des IS - jedoch künftig auch jene der Gruppen, die sie zur Zeit in Syrien bewaffnen und aufbauen, im Falle dass sie ihren Kampf gegen Asad dank saudischer Hilfe gewinnen sollten.
Die Protestwelle rollt an
Die Poteste gegen die Hinrichtung von Scheich Nimr haben seltsamerweise im fernen Kaschmir begonnen. Wahrscheinlich einfach darum, weil dort, unter indischer Herrschaft, die Schiiten wenig zu fürchten haben. Die Proteste erstreckten sich auch auf Pakistan und brachen dann in Iran aus. Die dortigen Machthaber begnügten sich damit, die Hinrichtung des Gottesgelehrten als "Anfang vom Ende" in Saudi-Arabien zu beschreiben und "göttliche Rache" zu verheissen. Khamenei, der Herrschende Gottesgelehrte unterstrich, der "Märtyrer" habe "einzig saudische Politiker kritisiert und weder gewaltsame Bewegungen noch Umstürze gebilligt."
Doch aufgebrachte Volksmassen stürmten die saudische Botschaft in Teheran und das saudische Konsulat in Meschhed mit Molotow-Cocktails. Die Polizei nahm 40 von ihnen fest, und Präsident Rouhani erklärte ihre Handlungen als illegal und ungerechtfertigt. Riad wies alle Kritik zurück als "offensichtliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Königreiches."
Kritik aus dem Irak
Im Irak protestierten am lautesten die pro-iranischen Politiker, zu
welchen auch der frühere Ministerpräsident Nuri al-Maliki gehört. Maliki hat erklärt, die Hinrichtung des Scheichs werde den Anfang vom Ende der saudischen Dynastie bedeuten. Die gegenwärtig Regierenden der schiitischen Faktionen um Ministerpräsident al-Abadi herum, sind vorsichtiger. Doch Ayatollah Sistani, kein Anhänger der iranischen Revolution, beschrieb die Hinrichtung als eine "unrechtmässige Aggression". Eben erst, am 15. Dezember, war nach über zehnjähriger Abwesenheit die saudische Botschaft in Bagdad wieder geöffnet worden.
Hizbullah in Libanon trat mit scharfen Verurteilungen der Hinrichtung
hervor. Doch die Hizbullah-Kämpfer sind so sehr in Syrien engagiert,
dass sie schwerlich viel mehr unternehmen werden als verbale Kritik.
Al-Qatif unter Druck
In der saudischen Ostprovinz, wo mehr als zwei Millionen saudischer
Schiiten leben, waren die ersten Reaktionen vorsichtig. Der Bruder des
Hingerichteten, Mohammed an-Nimr, erklärte: "Wir sind enttäuscht darüber, dass unsere Gnadengesuche nichts fruchteten." Doch er forderte auch, dass keine gewaltsamen Kundgebungen stattfinden sollten. "Genug Blut ist geflossen", sagte er.
Seine Haltung ist wohl mitbedingt durch den Umstand, dass sein Sohn, Ali, ein Neffe des hingerichteten Scheichs, ebenfalls seit 2012 gefangen sitzt und auch zum Tode verurteilt wurde, sein Namen jedoch nicht auf der Liste der Hingerichteten stand.
Todesurteil auch gegen den Neffen al-Nimrs
Ali Mohammed an-Nimr wurde als 17-Jähriger festgenommen. Viele seiner Mitbürger glauben, er sei gefoltert worden, um Geständnisse zu
erpressen. Ihm wurde vorgeworfen, er habe bewaffnet demonstriert. Sein Urteil lautet auf "Kreuzigung" (diese wird in Saudi-Arabien mit der
geköpften Leiche des Hingerichteten durchgeführt, nachdem der Kopf
wieder angenäht wurde). Ob es vollstreckt wird, hängt von der
Unterschrift des Herrschers ab.
In der Millionenstadt al-Qatif ist ein symbolisches Begräbnis der vier
hingerichteten Schiiten geplant. Ob es durchgeführt wird, und inwieweit Berichte darüber an die Aussenwelt dringen, bleibt noch abzuwarten.