Der abschliessende Band «Die wiedergefundene Zeit» ist ein Buch der Auflösungen im doppelten Wortsinn. Marcel, nun im vorgerückten Alter, findet zu seiner literarischen Mission und sorgt sich, sein Werk – andeutungsweise ist es die Recherche – im Ringen mit seiner befürchteten schriftstellerischen Unfähigkeit und im Wettlauf mit dem nahenden Tod vollenden zu können. Seine innere Blockade ist endlich gelöst. Marcel ist durch das Ziel, dieses Werk zu schaffen, definitiv zu sich selbst gekommen. Mit diesem Motiv knüpft die Recherche ans deutsche Genre des Bildungsromans an, das Proust eingehend studiert und ausdrücklich als Vorbild bezeichnet hat.
Zieht herauf wie schlechtes Wetter: der Krieg
Und wieder kommt das Ungeheure gewissermassen durch die Hintertür: Marcel befindet sich auf einem abendlichen Spaziergang durch Paris, den Proust wie ein Echo auf die Wanderungen im idyllischen Umland Combrays erzählt – bis plötzlich deutlich wird, dass Krieg ist. Der Erste Weltkrieg zieht herauf wie schlechtes Wetter, wie eine Mode, ein Fieber. Er greift ein ins Leben aller, auch in der gehobenen Gesellschaft. Man verdunkelt Paris, viele Männer sind weg.
Es gibt nur noch ein Thema. Aber behandelt wird es wie alle Themen sei jeher: Man legt sich, zumindest für eine gewisse Zeit, auf eine Meinung fest; nur dass es diesmal im Unterschied zur Dreyfus-Affäre bei allen die gleiche ist. Die Spiele des Rechthabens sind unverändert. Aber eigentlich ist der Krieg den Leuten gleichgültig, so lange keine Bombe in ihr Haus einschlägt und ihr Landgut nicht von Flüchtlingen geplündert oder von Truppen dieser oder jener Seite requiriert ist. Man überbietet sich im Patriotismus, so lange er nichts kostet.
Die Presse macht sich zum willfährigen Vehikel der Kriegspropaganda. Neue Geschäfte gelangen zu üppiger Blüte. Aus dem Schneider Jupien ist der Betreiber eines Soldatenbordells mit angeschlossener Perversitätenabteilung geworden. Der Erzähler entdeckt dort Charlus bei masochistischen Ausschweifungen. Die brave Françoise ist Prototyp jener Verschonten, die zwischen Kriegsbegeisterung und Opportunismus lavieren. Selbst die zur besonnenen Frau gereifte Gilberte deutet ihre Flucht aus Paris um ins Heroische: Sie habe ihren Landsitz aus den Kriegswirren heraushalten müssen. Beiläufig erfährt man, die Gegend von Combray sei Schauplatz grosser Schlachten mit Hunderttausenden von Toten.
Proust entlarvt die durchgehende Anpassung an den Krieg mit dem gleichen Sarkasmus, mit dem er schon die Positionskämpfe auf dem Parkett der guten Gesellschaft demaskiert hat. Der Krieg ist der Ausnahmezustand, der die Normalität der Fin-de-siècle-Gesellschaft an den Tag bringt.
Augenblicke ausserhalb der Zeit
Ein kleiner Vorfall führt dem Erzähler die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses vor Augen. Françoise meint sich sicher zu sein, einen verlorenen Orden des jetzt zum Kriegshelden gewordenen Saint-Loup gesehen zu haben, was, wie Marcel weiss, eindeutig nicht stimmt. Der Einblick in dieses falsche Erinnern bringt den Erzähler darauf, die Verlässlichkeit der mémoire involontaire umso deutlicher zu erkennen. Sie entspringt aus der körperlichen Empfindung des Stehens auf unebenen Pflastersteinen wie damals in Venedig, aus dem Geschmack einer in Tee getauchten Madeleine, aus dem Hören des kleinen Sonatenthemas von Vinteuil, aus Landschaftseindrücke beim Bahnfahren wie einst bei der Reise nach Balbec.
Da geht ihm auf, es sei seine schriftstellerische Aufgabe, nach dem Grund des Glücks zu suchen, das in solchen Erinnerungen bewahrt ist. Und er versteht plötzlich, dass das gesuchte Glückserlebnis in der Verbindung des vergangenen, erinnerten Moments mit dem Zeitpunkt des Erinnerns liegt, also in einem Zusammentreffen der Augenblicke, welches «ausserhalb der Zeit» liegt. Dieses «Ausserhalb» sei der Ort, da die verlorene Zeit wiederzufinden ist. Und in diesem Wiederfinden sei selbst das Sorgen angesichts des Todes aufgehoben.
Proust wäre sich untreu, liesse er diese Erkenntnis seines Protagonisten unangefochten stehen. Die Infragestellung folgt denn auch auf dem Fuss: Die Essenz der Dinge und der menschlichen Existenz, die da plötzlich greifbar schien, ist eben doch flüchtig. Allerdings belässt Proust es nun nicht beim Patt zwischen Gewissheit und Flüchtigkeit, sondern lässt Marcel daraus den Schluss ziehen, die schriftstellerische Aufgabe liege genau darin, das Flüchtige festzuhalten.
Gilberte gibt Marcel einen noch unveröffentlichten Band vom Tagebuch der Brüder Goncourt zu lesen. Proust fügt den Text als zwölf Seiten langes angebliches Zitat ein. Natürlich handelt es sich um eines der zahlreichen Pastiches, durch die Proust seine Recherche mit der Literaturgeschichte verwoben hat. Die Goncourt-Parodie hat zugleich die Funktion, Prousts Poetologie von jenem naturalistisch-dokumentarischen Rapportieren abzugrenzen, welches das damals viel gelesene Journal der Goncourts übrigens zu einer kulturhistorisch erstrangigen Quelle macht. Marcel betont, dass er im Unterschied zu den Brüdern Goncourt in Gesellschaft nichts «hört» und «sieht». Er bilde nicht das Faktische ab, sondern schaue durch die Oberfläche. Proust lässt ganz offensichtlich die Marcel-Figur seinen eigenen literarischen Anspruch ausdrücken.
Der deutsche Romanist Ernst Robert Curtius (1886-1956) mit hat Proust in dessen Todesjahr korrespondiert und ihn für den deutschen Sprachraum entdeckt. Curtius hat Prousts Stil als einen «Naturalismus anderer Art» beschrieben, nämlich als eine Genauigkeit der Erfassung seelischer Zustände. In den rhythmisch komponierten überlangen Satzgebilden spiegle sich Prousts Überzeugung, es gebe nichts Einfaches. Vielmehr resultiere für ihn alles aus ganz heterogenen Kräften. Curtius hebt die bohrende Intensität hervor, mit der Proust komplexe Wirklichkeiten bis ins Letzte erfasst und die Grenzen des Sagbaren so weit wie möglich hinausschiebt. Eigentlich beschreibt er die Welt nicht, sondern er erschafft sie und rekonstruiert im literarischen Werk das menschliche Erleben.
Proust macht das Roman-Ich zum Botschafter dieses Verständnisses von Literatur. Marcel gibt sich Rechenschaft darüber, dass «literaturfähig» nur die Negation ist: Unglück, Leiden, Zweifel, Verlorenheit. Literatur spiegelt das wahre Leben, weil sie nichts ausblendet. Doch in der künstlerischen Verarbeitung ist das Wahre schön, weil es Form bekommt. Es ist diese literarische Form, in der die verlorene Zeit wiederzufinden ist.
Fin-de-siècle in Schutt und Asche
In einem fast zweihundert Seiten langen Epilog malt Proust nicht nur einen grandiosen Totentanz, sondern führt er auch die Demontage der Aristokratie zu Ende. Marcel besucht die vornehme Gesellschaft, die samt und sonders im Palais der Guermantes zum Konzert geladen ist. Alle die Nobilitäten, denen er je begegnet ist, sind anwesend: gealtert, vergreist, maskenhaft gepudert, theatralisch aufgedonnert. Sie sind nur noch Schatten ihrer selbst, zerfallen körperlich und geistig und sind der Lächerlichkeit preisgegeben. – Marcels literarische Erleuchtung, wonach das Erinnern in einem Raum «ausserhalb der Zeit» geschehen soll, wird durch diese Parade der Verfalls nochmals kräftig erschüttert. Was ihm vor Augen steht, ist der Niedergang nicht nur einer Gesellschaftsschicht, sondern eines Zeitalters.
Der Erzähler Proust hat ein halbes Jahrhundert vor Dürrenmatt praktiziert, was dieser so formulierte: «Eine Geschichte ist erst dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.» Mit zwei beiläufig erwähnten Ereignissen besiegelt Proust den finalen Niedergang: Madame Verdurin ist durch ihre zweite Heirat zur Prinzessin de Guermantes geworden und damit ganz oben angekommen. Und – dies erfährt der Leser wieder in einer Fussnote – Morel, der kleine Ganove und Schleimer, hat nationale Ehren errungen und geniesst höchstes öffentliches Ansehen. Mit diesen in schwindelnde Höhen steigenden Karrierekurven legt Proust das Fin-de-siècle in Schutt und Asche. Sein Roman-Ich vermerkt lakonisch, die Barrieren, die einst solche Arrivées verhindert hätten, die Vorurteile und Snobismen der Haute volée nämlich, hätten schlicht und einfach zu funktionieren aufgehört.
Der Epilog führt nochmals die Sicht auf die innere individuelle Welt und die äussere gesellschaftliche Wirklichkeit zusammen. Beides ist in Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» auf meisterhafte Art ausgestaltet und schlüssig miteinander verbunden. Das Werk hat für die literarische Gattung des Romans zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue Massstäbe gesetzt.
Wer ist Proust – und was bringt er?
Céleste Albaret, eine kluge Frau von einfacher Herkunft und Bildung, hat im hohen Alter auf ihre Zeit als letzte Haushälterin Prousts zurückgeblickt. Sie zeichnet das Bild eines Schwerkranken, der sich im Wettlauf gegen den Tod die Vollendung seines Werks abringt und hiefür mit allen Konventionen bürgerlichen Lebens bricht. Seit früher Kindheit litt Proust an schwerem Asthma. Mit zunehmendem Alter verschlimmerte sich sein Zustand. Empfindlich gegen Licht, Geräusche und Gerüche, ging er nur selten aus und blieb in seinem Zimmer, genauer: in seinem Bett. Hier arbeitete er, empfing er die seltenen Besuche, die – er hatte die Nacht zum Tag gemacht – auf zwei oder auch fünf Uhr morgens bestellt wurden. Die noch ungedruckten Teile der Recherche arbeitete er rastlos um. Druckfahnen verwandelte er in wahre Korrektur-Schlachtfelder, rundum beklebt mit Ergänzungen. Trotz diesem uferlosen Work in Progress ist der riesige Roman ein streng komponiertes, von ästhetischen Grundsätzen geleitetes Werk, ein geordneter Kosmos von dicht ineinander verflochtenen Geschichten.
Die manische Konzentration auf die Fertigstellung der Recherche hat Proust nicht daran gehindert, das Zeitgeschehen unbestechlich und mit klarem Urteilsvermögen im Auge zu behalten. Er durchschaute nicht nur die nationalistischen Machenschaften im Fall Dreyfus, sondern distanzierte sich auch vom um sich greifenden Chauvinismus im Ersten Weltkrieg. Als 1919 ein Manifest von Intellektuellen die Erneuerung des europäischen Geistes unter der Führung Frankreichs forderte, lehnte Proust die Unterzeichnung vehement ab mit der Begründung, das Geistige lasse sich nicht national vereinnahmen.
Bei einem seiner letzten Ausgänge besucht Proust die Erstaufführung von Strawinskis Oper «Renard» am 18. Mai 1922 im Théâtre de l’opéra mit dem Ballet Russe unter dem Dirigat von Ernest Ansermet. Anschliessend treffen sich Igor Strawinski, Sergej Diaghilew, Pablo Picasso, James Joyce und Marcel Proust zum Essen. Joyce und Proust benützen gemeinsam ein Taxi für die Heimfahrt. Die beiden epochalen Erneuerer des Romans sitzen für eine halbe Stunde ungestört beisammen. Der Biograph Tadié kann zu dieser historischen Taxifahrt nur mitteilen, die beiden hätten sich nichts zu sagen gehabt.
Mein zweiter Versuch einer Lektüre von Prousts Werk war eine grossartige Erfahrung. Im Rückblick sind Länge und Komplexität von «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» keine Erschwernisse, sondern notwendige Form dessen, was Proust entdeckt und geschaffen hat. Die Beschäftigung mit ihm und seinem Roman hat neue Einblicke ins Wesen von Literatur gegeben und in das, was sie an Aufschluss über Menschen, über die Condition humaine leistet.
Heisst das, man müsse Proust lesen? Dazu sage ich mit Lessing: «Kein Mensch muss müssen.» Aber wenn die Frage lautet, ob man Proust lesen solle: dann ja, unbedingt ja! Seine Recherche ist, wenn auch äusserlich ganz dem 19. Jahrhundert verhaftet, ein nach wie vor geradezu bestürzend moderner Roman. Und selbstverständlich gehört sie zu den allerbesten Werken überhaupt. Wenn Sie also das Ausserordentliche suchen: Streichen Sie den Himalaya, schenken Sie sich Mekka, Jerusalem oder Poona, und lesen Sie Proust!