Der 1508 in Padua geborene Steinmetz Andrea di Pietro della Gondola, Angestellter der renommierten Pedemuro-Werkstatt in Vicenza, erhielt um 1537 die Chance, beim Umbau der Villa Trissino sein Können unter Beweis zu stellen. Dabei tat er sich in einer Weise hervor, die den Auftraggeber auf ihn aufmerksam machte. Dieser, der Aristokrat und Gelehrte Giangiorgio Trissino, wurde zum Förderer und väterlichen Freund. Er führte den Handwerker in die Geisteswelt der Antike ein und riet ihm auch, den Namen Palladio anzunehmen. Mehrmals reisten sie zusammen nach Rom, wo Palladio die Zeugen antiker Baukunst studierte und genauestens vermass. Durch Trissinos Vermittlung lernte er nicht nur das Werk des römischen Architekturtheoretikers Vitruv, sondern auch viele bedeutende zeitgenössische Architekten kennen.
Nützliches Vorbild Antike
Die antiken Formen, die damals für alle repräsentativen Bauten übernommen wurden, waren und sind zweifellos schön. Aber waren sie auch zweckmässig? Um ihren Nutzen für Palladios Zeit zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Geschichte seiner engeren Heimat. Die in der Spätantike im heutigen Veneto ansässige Bevölkerung hatte das paradoxe Glück, von den im Zuge der Völkerwanderung eindringenden Langobarden in die Lagune hinaus vertrieben zu werden. So entstand Venedig als zum Meer offene und auf den Orient ausgerichtete Handelsmetropole.
Doch zu Beginn des 15. Jahrhunderts verdrängten die aufsteigenden Osmanen die Venetier aus dem östlichen Mittelmeer. Als Folge davon richtete sich deren Blick vermehrt auf die Terraferma. Die terrestrischen Handelswege nach Westen, Norden und Osten gewannen für die Venetier an Bedeutung. Darüber hinaus erwies sich die weiträumige Landwirtschaft in den fruchtbaren Ebenen des Veneto als profitable Ergänzung oder gar Alternative zum maritimen Geschäft. Der Einbruch bei Schiffbau und Handel konnte wettgemacht werden mit Entwässerung, Landverbesserung, Kanal- und Siedlungsbau. Auf der Terraferma resultierte in der Folge ein Aufschwung mit markantem Bevölkerungswachstum.
Die Venetier investierten also ihr Kapital fortan in den Primärsektor. Doch nicht nur das Geld, auch den Adel zog es aufs Land. Villeggiatura – Sommerfrische – war der neue Trend der städtischen Oberschicht. Damit er sich durchsetzen konnte, brauchte es zwei Dinge: die standesgemässe Infrastruktur in Form von noblen Landhäusern und ein die Abkehr von der Stadt legitimierendes Narrativ.
Das erforderliche Narrativ lieferten – wie könnte es anders sein – die antiken Schriftsteller, die das ländliche Leben besungen hatten, namentlich Horaz. Von ihm inspiriert, feierten Renaissance-Dichter wie Petrarca und Bocaccio die Villeggiatura als ein Ideal des antik inspirierten Geisteslebens. Der noble Landsitz avancierte zum herausgehobenen Ort der Kultur. Und dessen Gestalt orientierte sich selbstverständlich an den für die Renaissance vorbildhaften Bauformen des klassischen Altertums.
Villen als Zweckbauten und Erzählungen
Palladio hat diese Verschiebung und ihre umwälzenden Wirkungen sehr wohl verstanden. Obschon er auch Kirchen und etliche massstabsetzende Paläste gebaut hat, ist er vor allem mit seinen noblen Landsitzen – «Villen» genannt – berühmt geworden. Die aufs Land ziehenden oder bereits ansässigen Adligen brauchten Häuser. Und diese Häuser mussten ebenso zur Führung grosser Gutsbetriebe wie zur Repräsentation dienen. Palladios Villen waren perfekte Zweckbauten, die zugleich auch die erforderlichen Geschichten erzählten: die von der Hinwendung des Geistes zu Agrikultur und ländlichem Leben.
Als mit dem Meissel vertrauter Handwerker und umfassend gebildeter Theoretiker fand Palladio für jeden Auftrag einzigartige architektonische Lösungen, die unter den Gegebenheiten von Bauherrenwünschen, Grundstück und Kostenrahmen sich einer Vision des Vollkommenen annäherten. Sie verkörpern je auf ihre Weise die Renaissance-Tugend der Magnificenza, der Grossartigkeit. Die beeindruckende Erscheinung der Villen war im Blick auf ihre anspruchsvolle Zweckbestimmung genauso funktional wie die agronomisch durchdachte Anlage.
«C’est du Palladio»
Die 41 bekannten Villen, die der Meister im Veneto gebaut oder geplant hat (zehn davon kann man heute besichtigen), lassen keinen persönlichen «Stil» erkennen. Andrea Palladio handhabt die aus dem Studium der Antike gewonnenen Formen mit grosser gestalterischer Souveränität und findet jedesmal zu originalen, manchmal überraschenden Baukörpern. Allgemeine und objektive Palladio-Merkmals lassen sich nicht eruieren. Der französische Architekturhistoriker Quatremèr de Quincy (1755-1849) wusste als bedeutender Palladio-Forscher sich nicht anders zu helfen als mit der Feststellung, wer mit geschultem Auge vor einer dieser Bauten stehe, wisse eben spontan: «C’est du Palladio».
Was Palladio nicht anstrebte, das kreierten seine Epigonen: den Palladianismus. Ikonische Palladio-Bauten, vor allem die Villa Rotonda, und das aus einer Anzahl typischer Formelemente rekonstruierte «palladianische» Repertoire lieferten die Vorbilder einer strengen Architektursprache, die sich vom üppigen Barock distanzierte. Zu diesen Elementen gehören Formen wie Säulenportikus, Giebeldreieck und Freitreppe, vor allem aber fein austarierte Proportionen, in denen sich Kraft und Harmonie ausdrücken.
Magnificenza-Signale als Architektursprache
Erst dieser Palladianismus – der emeritierte ETH-Architekturhistoriker Werner Oechslin hat dem Phänomen eine grosse Studie gewidmet – machte Palladio zum stilprägenden Baukünstler und erhob ihn in den kulturgeschichtlichen Olymp. Was den venetischen Villen Magnificenza verlieh, das wurde fortan zur architektonischen Zeichensprache für alles, was irgend als gross, bedeutend oder gar erhaben in Erscheinung zu treten hatte. Man kann durch kaum eine europäische oder amerikanische Stadt streifen, ohne auf diese palladianistischen Bedeutsamkeitssignale zu stossen. Sie kennzeichnen Regierungssitze, Gerichts- und Parlamentsgebäude, Schulen aller Stufen, Museen, Konzerthäuser, Banken, Bahnhöfe, Postämter und repräsentative Privathäuser.
Der Clou dieses Vorgangs liegt darin, dass der Palladianismus mit seiner Ikonisierung von Magnificenza-Signalen auch heute noch funktioniert, nachdem die Architektur sich vehement von Säulen, Pilastern, Giebelfeldern und sowieso von Statuen und anderem Schmuck losgesagt hat (die ästhetisch unerhebliche architektonische Postmoderne natürlich ausgenommen).
Oechslin zeigt, dass dieses «C’est du Palladio» sich auch bei avantgardistisch modernen Bauten unverhofft melden kann wie das Aufblitzen eines Wiedererkennens: deutlich bei Ungers Galerie der Gegenwart in Hamburg (1993-96), kühn bei Le Corbusiers Villa Stein in Garches (1927), kryptisch bei Peter Eisenmanns House II in Hardwick/Connecticut (1969), frappant bei Bruno Reichlins und Fabio Reinharts Casa Tonini in Torricella bei Lugano (1972-74).
Warum das so ist, trauen sich weder Oechslin noch andere kunsthistorische und architekturtheoretische Fachleute schlüssig zu beantworten. Offenbar kommen auch sie nicht über die respektvolle Annäherung hinaus, mit der einst Quatremèr de Quincy sich begnügte: «C’est du Palladio».