Es gibt immer noch keine offiziellen Resultate der irakischen Wahlen, obwohl diese auf den vergangenen Montag gelegt waren. Hauptgrund scheint zu sein, dass die elektronischen Wahlmaschinen in den Provinzen Sulaimaniya und Kirkuk nicht funktionierten. Die inoffiziellen Resultate machen jedoch klar, dass die Koalition Muqtada Sadrs mit wahrscheinlich 54 Abgeordneten an der Spitze liegt. Die Koalition hat sieben Parteien, sechs davon säkular, und zu den sechsen gehört auch die KP des Iraks. Die Koalition nennt sich „Sa'irun“, „die (voran) Schreitenden“.
Ihr folgt die pro-iranisch eingestellte „Fatah“ (Eroberungs-)Koalition, deren führende Figur Hadi al Ameri ist, mit zu erwartenden 47 Sitzen. Erst als dritter Sieger mit möglicherweise 42 Sitzen folgt die „Siegeskoalition“ des Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi. Sie hatte vor den Wahlen als die aussichtsreichste gegolten. Der frühere Ministerpräsident al-Maliki, der wichtigste Rivale al-Abadis, erhielt für seine Allianz bloss 25 Sitze. Das gesamte Parlament weist 329 Sitze auf; die absolute Mehrheit wären 165.
Die Hälfte der Iraker stimmte nicht mit
Die geringe Wahlbeteiligung von etwas weniger als der Hälfte der eingeschriebenen Wähler wirkte sich wahrscheinlich zu Gunsten der beiden zuerst genannten Koalitionen aus. Ihre Sympathisanten sind Personen mit politischen Anliegen von Gewicht, allerdings in entgegengesetzter Richtung. Ameri und die Seinen suchen ihr Heil bei der Islamischen Republik des Nachbarlandes und deren Führer, Khamenei. Die Anhänger und Mitstreiter Sadrs sind zusammengekommen, um sich gegen die Korruption und die mit ihr zusammenhängende Identitätspolitik der religiösen und ethnischen Gemeinschaften aufzulehnen, und sie haben eine gemeinsame Aktivität als Demonstranten für diese Ziele vorzuweisen, die seit zwei Jahren besteht. Beide Allianzen haben daher engagierte Anhänger, die bereit waren, stimmen zu gehen.
Der Sieg über den IS ist schon Vergangenheit
Al-Abadi und die Seinen waren demgegenüber „alte Gesichter“, schon lange präsent und bekannt und nicht wirklich in der Lage, mobilisierend zu wirken. Der Sieg gegen den IS, auf den sich der Ministerpräsident mit seiner „Siegesallianz“ berief, war für die Wähler „Geschichte“. Ihnen ging es jetzt um die Zukunft. „Nicht noch einmal die alten korrupten Gesichter“, sagten viele der Wähler. Manche zogen daraus den Schluss, für eine der beiden „engagierten“ Allianzen zu stimmen. Andere jedoch, wie sie offen sagten, zogen es vor, den Internetaufrufen zum Boykott der Wahlen zu folgen, weil sie weder den „alten Gesichtern“ trauten noch den beiden Allianzen, die „neue und radikale Wege“ anpreisen.
Viele der Sunniten erinnern sich daran, dass in den Jahren der grausamen Konfrontation zwischen Sunniten und Schiiten, wobei die Sunniten verloren, unter den Augen der amerikanischen Besatzer (2006 und 2007) das „Mahdi-Heer“ Muqtada Sadrs eine Hauptrolle bei der Verfolgung der Sunniten spielte. Das bewog sie dazu, nicht für Sadr zu stimmen. Doch dem pro-iranischen Ameri konnten sie ihre Stimme noch weniger geben.
Vom Milizchef zurück zur Theologie
Sadr hatte in der Folge sein Mahdi-Heer aufgelöst. Überbleibsel der damaligen Heeresführung spalteten sich von Sadr ab, weil sie den fanatischen Kampf gegen die Sunniten fortführen wollten, und sie gelangten später zu grossen Teilen in das Fahrwasser der pro-iranischen Kräfte. Sadr selbst kämpfte mit einer neuen Organisation seiner Gefolgschaft gegen die Besetzungsmacht der Amerikaner und gegen Ministerpräsident al-Maleki, der die Unterstützung der Amerikaner gegen Sadrs Milizen erhielt.
Schliesslich, nachdem 2008 im Irak ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war, zog sich Sadr nach Qom in Iran zurück, um höhere geistliche Studien zu betreiben. Und er hielt sich dort gute zwei Jahre lang auf, jedoch nicht als Gefolgsmann Khamenis und der Seinen, sondern als Schüler des Ayatollah Haeri, eines hohen irakischen Gottesgelehrten, der in Qom lebt. Im Jahr 2011 kehrte Muqtada Sadr nach dem Irak zurück und liess sich in Najaf nieder.
Herr über die Armen von Sadr City
Nach wie vor verfügt Muqtada über eine Anhängerschaft von Millionen in der sogenannten Sadr City, einem grossen Stadtteil von Bagdad und dem Elendsquartier der südirakischen Landbewohner, die während der letzten Jahrzehnte nach Bagdad zogen, um dort ihr Leben zu fristen, indem sie sich anfänglich ihre eigenen Hütten bauten. Die Sadr-Familie der vorausgegangenen Generation waren hohe Geistliche, die sich um diese verarmten Religionsgenossen kümmerten und ihre Interessen wahrnahmen, soweit sie es vermochten. Ihr Andenken wird deshalb leidenschaftlich verehrt. Die meisten Abkömmlinge der Familie sind den Verfolgungen Saddam Husseins zum Opfer gefallen. Muqtada ist einer ihrer wenigen Überlebenden.
Gegen jede fremde Präsenz
Muqtada Sadr war bei aller Beweglichkeit, die seine Karriere aufweist, immer ein irakischer Nationalist und Gegner der fremden Kräfte, die sich im Irak einmischen wollten. In erster Linie der Amerikaner, jedoch auch der Iraner in dem Masse, in dem ihr Einfluss nach dem Abzug der Amerikaner zunahm.
Im Lauf der Regierungsjahre seines Gegners al-Maleki, der auf die Schiiten als Staatsvolk setzte und die Sunniten kaltstellte, hat al-Sadr erkannt, dass eine enge Verbindung zwischen der „Identitätspolitik“ und der Korruption besteht, besonders im Irak, wo der Reichtum aus den Erdölquellen fliesst und von dort in staatliche Kassen.
Ein Paradis der Identitätspolitiker
Die Identitätspolitiker stützen sich auf Religionsgemeinschaften (Schiiten/Sunniten) und Ethnien (Araber/Kurden), die sie gegeneinander ausspielen, um die Führung der Ihrigen zu übernehmen. Die entscheidenden Positionen im Wirtschaftsleben, soweit sie vom Staat abhängen, sowie in den Hierarchien der Beamten und Sicherheitskräfte weisen die Identitätspolitiker ihrer Gefolgschaft zu, wobei Loyalität zur Führung wichtiger ist als Fachkenntnisse oder Ehrlichkeit.
Wenn die Identitätspolitiker darauf angewiesen sind, als Verbündete zusammenzuarbeiten, um regierende Mehrheiten zu bilden – wie im Irak immer unerlässlich – teilen sie die einflussreichen Posten untereinander auf. Das gegenseitige Geben und Nehmen wirkt sich ebenfalls zu Ungunsten der Qualifikationen der Amtsinhaber aus. Und diese selbst beginnen ihre Position als eine ihnen zustehende, weil zugewiesene, Geldpfründe zu sehen und zu handhaben. Dies ist im Irak unter al-Maleki soweit gegangen, dass auch die Armeeoffiziere ihre Kommandos kauften, um dann das ausgelegte Geld, durch Korruption vervielfacht, wieder einzubringen. Die einzige Voraussetzung war, dass sie Schiiten oder Schiitenfreunde sein mussten. Was anerkanntermassen auf der sunnitischen Seite entscheidend zum Wachstum des IS beitrug und in der Folge zur schmählichen Flucht der irakischen Armee aus Mosul vom Sommer 2014.
Angewiesen auf die Parlamentarier
Al-Abadi hat mehrfach erklärt, er beabsichtige, diesen Unsitten ein Ende zu bereiten. Doch nach dem Urteil der Wähler und besonders der Anhänger Sadrs gelang ihm dies nicht in genügendem Masse. Die Parlamentarier des vergangenen Parlamentes, auf die der Ministerpräsident angewiesen war, gehörten weit überwiegend zu der Spezies der Identitätspolitiker.
Für das irakische Volk gibt es einen Massstab dafür, ob die Antikorruptionsversprechen blosse Verheissungen bleiben oder Realität werden. Der Massstab sind die Leistungen des Staates gegenüber der Bevölkerung: Elektrizitätsversorgung, Trinkwasserversorgung, Sicherheit auf den Strassen, Arbeitsplätze, von denen man leben kann. Die „alten Gesichter“ haben ein klares Ungenügend erhalten.
Muqtada Sadr und seine säkular ausgerichtete Koalition wollen sowohl der „Identitätspolitik“ wie auch der auf ihr beruhenden Korruption ein Ende bereiten. Sie haben lauter „neue Gesichter“ auf die Wahllisten gesetzt und hoffen nun, qualifizierte und unbestechliche Fachleute in führende Regierungspositionen zu bringen. Ob ihnen das gelingen wird, hängt davon ab, ob und wie weit sie sich in den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen unter den Allianzen durchsetzen können.