Der Kunstwissenschafter Wolfgang Ullrich nennt sie „Siegerkunst“. Was das heisst, lehrt die Lektüre seines so betitelten Buches. Man könnte das Phänomen auch Big Artbizz nennen, um die Sphäre jenes Kunstmarkts mit den schwindlig machenden Preisen zu kennzeichnen. Über die wiederkehrenden Exzesse mit bis zu dreistelligen Millionenbeträgen für manchmal recht seltsame Kunstwerke haben sich schon viele echauffiert und mokiert.
Zu entsprechender Empörung bräuchte es kein neues Buch. Doch Wolfgang Ullrich leistet etwas anderes: Er gibt einen Schlüssel zum vertieften Verständnis jenes schlagzeilenträchtigen Kunstmarkts. Mit der bekannt lapidaren Erklärung, es gebe halt eine preistreibende Nachfrage durch die wachsende Zahl von Superreichen und deren Distinktionsbedarf, gibt er sich nicht zufrieden.
Ullrich will mehr wissen: Wie funktioniert dieser Markt? Weshalb bringt er eine besondere Kategorie von Kunst hervor? Was bedeutet das Phänomen Siegerkunst für die bildende Kunst insgesamt? – Die Untersuchung erfolgt in einer unaufgeregten, kühlen Diktion, die nur stellenweise eine sarkastische Tönung annimmt. So etwa, wenn er eingangs schildert, wie Georg Baselitz seine Gemälde aus deutschen Museen zurückzieht, um sie noch schnell „zu verkloppen“. Er befürchtet nämlich, dass sie wegen geplanter deutscher Gesetzesbestimmungen zum Kulturgüterschutz möglicherweise nicht mehr ins Ausland verkauft werden könnten. Dadurch verlören seine ohnehin millionenschweren Bilder an Marktwert.
Ullrich kommentiert Baselitz’ überstürzten Verkauf kühl: „Möglichst viel Geld damit machen zu können ist ihm wichtiger als die Präsenz im Museum. Dabei gibt es keinen anderen Ort, an dem Jahr für Jahr mehrere hunderttausend Menschen seine Werke sehen. Und auch keinen anderen Ort, an dem sie in so guter Nachbarschaft, unter einem Dach mit den berühmtesten Künstlern des 20. Jahrhunderts, gezeigt werden und allein dadurch an Bedeutung gewinnen.“
Sammler versus Betrachter
Wolfgang Ullrich konstatiert einen Paradigmenwechsel von der Museumskunst zu jener des ganz grossen Kunstgeschäfts, wie es sich in einigen Top-Galerien und Auktionshäusern abspielt. Die beiden Modelle des Umgangs mit Kunst verdeutlicht er anhand zweier typisierter Ikonographien, jener des Sammlers und des Betrachters. Porträts von Sammlern zeigen diese in herrschaftlicher Pose neben oder vor ihren Werken, um die sie sich nicht weiter zu kümmern scheinen. Hingegen werden Rezipienten, die keine Besitzer sind, in der aufmerksam-respektvollen Betrachtung der Werke und diesen intensiv zugewandt dargestellt. Ullrich hat diese Bildkonventionen genauso im 18. wie im 21. Jahrhundert vorgefunden.
Sammler inszenieren sich als souveräne Besitzer. Sie brauchen weder gesteigertes Interesse noch gar Ehrfurcht zu demonstrieren. Vielmehr haben sie die ihnen gehörende Kunst in die eigene Alltagswelt eingegliedert, wo sie als Accessoire und Statussymbol ihren Dienst tut. Anders der blosse Betrachter: Er substituiert dieses Besitzverhältnis durch geistige Annäherung, er setzt sich mit dem Werk auseinander, bringt ihm Verehrung entgegen und gefällt sich in seiner Kennerschaft.
Ort dieser bildungsbürgerlichen Kunstbegegnung ist das Museum. Es löst Bilder, Skulpturen und weitere Kunstobjekte aus jeglichen Alltagskontexten heraus, präsentiert die Werke „rein“ als sich selbst genügende Artefakte ohne Bezug zu einer Lebenswelt und schafft um sie herum eine Sphäre der gesteigerten und ungeteilten Aufmerksamkeit. Idealer Raum dieser Kunstpräsentation ist der White Cube, die architektonische Modellvorstellung des typischen modernen Museums.
Theorie der Sammlerposition
Auf die mit Siegerkunst vital gewordene Veränderung des Umgangs mit Artefakten ist die Kunstwissenschaft noch gar nicht recht aufmerksam geworden. Wolfgang Ullrich buchstabiert den Wandlungsprozess einer neuen Besitzermentalität als Gegensatz zum herkömmlich bildungsbürgerlichen Umgang mit Kunst.
Doch Ullrich moralisiert nicht, sondern schärft mit seiner Analyse sowohl das Verständnis einer klassischen Ästhetik der Kunstbetrachtung wie auch eine coole, nicht-skandalisierende Sicht dessen, was er Siegerkunst nennt. Mit diesem von ihm erfundenen Begriff bezeichnet er eine Symbiose zwischen „Siegerkünstlern“ und wirtschaftlich-gesellschaftlichen „Siegern“. Eine solche Beziehung schlägt sich nicht nur in einem hochtourigen und äusserst profitablen Markt, sondern auch in gegenseitigen Distinktionsgewinnen nieder.
Obschon es längst Auftraggeber und Sammler gab, bevor Museen existierten, hat doch die theoretische Betrachtung von Kunst die Besitzerposition weitgehend aus den Augen verloren. Alle wissenschaftlichen Anstrengungen galten der „interesselosen“ (dies Kants Kriterium für das ästhetische Urteilen) Deutung und Wertung von Kunstwerken.
Diese Blindheit hatte damit zu tun, dass eine Besonderheit der bildenden Kunst unbeachtet blieb. Die anderen klassischen Künste – Theater, Musik, Literatur – sind ganz und gar auf Rezeption angelegt; hier gibt es keine Besitzer; soweit es sie gibt, spielen sie für die Wahrnehmung der Werke kaum eine Rolle. Ganz anders die bildende Kunst: Sie existiert in Form von materiellen Objekten, zumeist Unikaten, die primär jemandem gehören und erst sekundär rezipiert werden. Käufer und Sammler betrachten Kunst nicht interesselos.
Besitz superteurer Kunst als Statement
Kunstbesitz fällt schon immer in die Kategorie des Luxus. Der Kauf teurer und erst recht von superteurer Kunst ist zusätzlich ein Statement an die eigene Adresse und nach aussen. Heute signalisiert der Käufer solcher Artefakte sich selbst die Fähigkeit zu einer Grenzüberschreitung. Er geniesst seine Fähigkeit, etwas Verrücktes zu tun, vergleichbar dem Durchstehen extremer Gefahren und Abenteuer. Handelt es sich beim Kauf um ein – was bei Siegerkunst häufig der Fall ist – grenzwertiges, trashiges, perverses, brutales, obszönes Objekt, so attestiert sich der Besitzer gleichzeitig auch die Souveränität, harte, allenfalls gar gegen ihn gerichtete Provokationen ertragen zu können. Und jeder Aspekt solcher Selbstvergewisserung mittels in mehrfacher Hinsicht extremer Kunst ist zugleich ein Signal ans gesellschaftliche Umfeld.
Siegerkunst erfüllt solche Käuferwünsche nicht nur im Sinne eines glücklichen Zusammenpassens, sie wird vielmehr zielgenau für solche Bedürfnisse produziert. Die Werke sollen exklusiv und provokativ sein. Dazu gehört auch, dass sie klassische Normen von Kunst über den Haufen werfen. Je unverständlicher, beliebiger oder auch hässlicher die Objekte, desto grösser die Schockwirkung der exorbitanten Preise. Diese sind konstitutiver Bestandteil der kalkulierten Wirkung.
Die Kaufpreise im Big Artbizz haben keinerlei Bezug zu einem künstlerischen oder ökonomischen Wert. Sie sind Statussignale: Wer sie zu entrichten fähig und bereit ist, deklariert damit seine Position ausserhalb der normalen Welt der Tauschbeziehungen. Wolfgang Ullrich hierzu: „Die Preise werden also aufgrund ihrer Wirkungen bezahlt; sie zeugen davon, wie viel Geld nötig ist, um diese hervorzurufen.“
Kunstmarkt im Hyper-Zustand
Im Big Artbizz erreicht der Tausch von Kunst und Geld, von Selbstbewusstsein und Image gewissermassen eine Hyper-Dynamik ohne Reibungsverluste. Diese erfordert allerdings von den Beteiligten ein ausgefeiltes Setting von Selbstkonzept und Selbstdarstellung, von Produktdesign und Marketing.
Der Verfasser zeigt entsprechende Strategien namentlich auf Künstlerseite sehr detailliert und instruktiv auf. Die Grossen der Branche sind längst eigentliche Unternehmer. Sie betreiben Fabrikationsbetriebe mit teils über hundert Mitarbeitenden, und zwar sind diese nicht nur für Produktion, sondern ebenso im Bereich der Kreation tätig. Manche dieser Siegerkünstler zeigen sich demonstrativ als knallharte Arbeitgeber, um ihren Status als Top-Kapitalisten zu beweisen – dies jedenfalls Ullrichs Deutung solchen Verhaltens. Permanent um die Welt jettend, haben sie mit ihrer Kunst oft kaum mehr direkt zu schaffen, sondern kümmern sich vor allem um Dinge wie Branding, Marketing, PR und Management der Verwertungrechte.
Kommt eine neue Aristokratie?
Unternehmerische Künstler sind allerdings nichts historisch Neues. Vor der Aufklärung und dem bürgerlichen Zeitalter waren Auftragsverhältnisse in der Kunst die Regel. Die Erfolgreichsten unter den Künstlern entwickelten mit ihren Werkstätten und weitgespannten Geschäftsbeziehungen Fabrikationsmodelle, die denen der heutigen Siegerkunst nicht unähnlich waren.
Wird demnach die im 18. Jahrhundert angebahnte, im 19. entwickelte, im 20. gereifte und im 21. epigonal gewordene Moderne eine Episode der Kunstgeschichte bleiben? Geht die Gesellschaft auf eine Oligarchie zu, die es darauf anlegt, sich als neue Aristokratie zu inszenieren? Dies würde darauf hinauslaufen, wichtige Merkmale eines modernen Kunstverständnisses wie die freie individuelle Autorschaft der Kunstschaffenden und eine im Idealfall unabhängige Position der Kunst und ihrer Institutionen in der Gesellschaft zu untergraben.
Wolfgang Ullrich warnt allerdings am Ende seines Buches vor einem vorschnellen Abgesang auf die Moderne, wie ihn etwa Peter Sloterdijk angestimmt hat. Die Epoche des 19. und 20. Jahrhunderts sei für den Diskurs über bildende Kunst nach wie vor massgeblich. Auch sei die Moderne in sich selbst allzu vielfältig, gespalten, gebrochen, als dass man sie nun als monolithische Phase betrachten und zu den Akten legen könnte.
Dem wäre hinzuzufügen, dass die Siegerkunst als angebliches Gegenprojekt zur Moderne genauso wenig als kohärentes Konzept dasteht. Ein strikter Gegensatz zwischen ihr und der Museumskunst hat eine eher anekdotische Evidenz. Denn faktisch bleibt auch die sogenannte Siegerkunst immer wieder auf eine Beglaubigung durch die Institutionen des Museums und der Kunstkritik angewiesen, wenn es ihr auf künstlerische und gesellschaftliche Relevanz ankommt.
Zuspitzungen gehören zum Geschäft auch der Kunstkritik. Die geschärften Konturen in Ullrichs Darstellung sind kein Mangel, sondern dienen der Erkenntnis. Sein Buch ist für Kunstinteressierte höchst anregend und ausgesprochen vergnüglich zu lesen.
Wolfgang Ullrich: Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016, 161 Seiten