Über Arnold Hottinger habe ich erstmals als junger NZZ-Korrespondent in Moskau Näheres erfahren. Das war Mitte der 1970er Jahre. Mein damaliger Moskauer Kollege Rudi Chimelli von der Süddeutschen Zeitung erzählte mir öfters und gerne von seinen Korrespondentenjahren in Beirut und von seiner Freundschaft mit Arnold Hottinger. Er schwärmte vom angenehmen Leben, im damaligen Beirut das man einst «Paris des Orients» nannte, und dessen Weltläufigkeit diejenige der damals ziemlich grauen Sowjetkapitale deutlich überrage. Chimelli berichtete bewundernd von der unermüdlichen Schaffenstätigkeit seines Kollegen Hottinger. Wann immer man ihn in Beirut besucht habe, unfehlbar habe man Arnold vor seiner Schreibmaschine sitzend beim Tippen eines neuen Textes angetroffen.
Hottinger arbeitete rund 35 Jahre für die NZZ. Von 1960 bis 1968 berichtete er als Korrespondent in Beirut. In einem Interview hat er in hohem Alter diese Jahre als «meine wohl schönste Zeit im Leben» bezeichnet, von der er bis bis in die Gegenwart hinein immer wieder träume.
Schon vorher war er für die NZZ bei vorübergehenden Nahost-Aufenthalten tätig gewesen. Einmal hatte er auf der Redaktion auch ein kurzes Volontariat absolviert, um die internen Abläufe näher kennen zu lernen. Doch für die Redaktionsarbeit habe er sich als wenig tauglich erwiesen, erzählte er rückblickend in einem Gespräch. Hottinger war kein Blattmacher, er war ein profunder Berichterstatter und Erklärer der vielfältigen arabisch-islamischen Welt. Er beherrschte neben den wichtigsten europäischen Sprachen, dem Lateinischen und Griechischen eine Reihe von arabischen Dialekten sowie das Persische. Später hat er auch noch Türkisch gelernt.
1968 siedelte er für die NZZ nach Madrid um, von wo er die Leser und die Hörer des Schweizer Radios über die turbulenten demokratischen Umbrüche in Spanien und Portugal in der Endphase der Franco- und Salazar-Diktatur informierte. Gleichzeitig berichtete er weiterhin über das Geschehen im Nahen Osten – insgesamt also ein sehr weitgespanntes Feld, über das Hottinger sich nicht zuletzt über Kurzwellennachrichten (eine Art Vorläufer des Internets) Überblick verschaffte.
1982 zog A.H. wieder näher zur Region, für die sein Herz immer geschlagen hat und mit der er mit ganzer Seele verbunden blieb. Er liess sich als NZZ-Nahostkorrespondent in Nikosia auf Zypern nieder. 1991 nach seiner Pensionierung lebte er zeitweise wieder in Madrid und später in Zug.
Auf Seiten der NZZ war man sich der herausragenden Qualitäten Hottingers als Kenner und Berichterstatter über die arabische Welt immer bewusst. Jeder im Hause wusste: Das Kürzel A.H. war ein spezielles Markenzeichen für das Blatt, das auch wegen Hottingers Berichte im Radio, seiner Präsenz im Fernsehen und bei Vorträgen sowie dank seiner zahlreichen Bücher, die im NZZ-Verlag erschienen, weit über die engere Leserschaft hinaus, zum Qualitätsruf der Zeitung beitrug.
Das heisst nicht, dass Hottingers Sicht der Realitäten im Nahen Osten im Kreis der NZZ-Leser immer unumstritten war. Seine Darstellungen über die Rolle Israels im Nahen Osten und namentlich im epischen Konflikt mit den Palästinensern riefen mitunter Widerspruch hervor. So erschien 1985 von ihm eine mehrteilige kritische Reportage über die Lage der Palästinenser in Israel und in den besetzten Gebieten. Sie löste eine für damalige Verhältnisse ziemlich geballte Reaktion von Leserbriefen aus, die Hottinger eine einseitige Darstellung zu Ungunsten Israels vorwarfen. Zwar attestierten ihm auch die meisten Kritiker, ein grosser Kenner der arabischen Welt zu sein. Gerade deshalb hielt er es für seine Pflicht, im scheinbar unlösbaren israelisch-palästinensischen Konflikt auch über die Sichtweise, die Motive und die menschlichen Erfahrungen auf arabischer Seite zu informieren.
Dabei blendete Hottinger die Schwächen und Defizite auf Seiten der arabisch-muslimischen Gesellschaften keineswegs aus. Seine Paradedisziplin war die Fähigkeit, seinen Lesern und Zuhörern die grossen historischen Zusammenhänge, Hintergründe und Triebkräfte der verworrenen nahöstlichen Gegenwart zu erklären. Im NZZ-Archiv bin ich auf Hottingers Schlussartikel zum Ende seiner offiziellen Korrespondententätigkeit vom 28. Dezember 1991 gestossen. Er trägt den Titel: «Rückwärtsgewandt in die Zukunft. Arabische Politik seit dem Ende des Kolonialismus.» Der letzte Abschnitt beginnt mit dem Satz: «Die Araber haben seit zweihundert Jahren und in immer wachsendem Masse den Eindruck, «in der Welt draussen vor der Tür zu stehen». Zuerst schienen die Hindernisse, gegen die sie stiessen, jene des Kolonialismus und des weltweiten Imperialismus zu sein, von dem sie sich ausgebeutet fühlten. Doch später sei allmählich deutlicher geworden, dass auch «Kräfte im Inneren der arabischen Gesellschaften» wirksam waren, die den Zugang in das Haus der Moderne verhinderten. Dazu zählten der Feudalismus der eigenen Grossgrundbesitzer, die besonders für Frauen erstickenden Bande rigider Tradition und Klansregln, die Diktaturen der Alleinherrscher und falsche Befreiungsmythen. Notwendig wäre, schreibt Hottinger, mehr Distanz zum eigenen kulturellen und religiösen Erbe, dessen dogmatische Verabsolutierung einen kreativen Umgang mit der eigenen Vergangenheit blockiere.
Arnold Hottinger neigte mit dem Älterwerden zu einer illusionslosen Sicht auf die eigene Existenz. In einem langen, mündlich gesprochenen Beitrag für das Buch «Das volle Leben, Männer über achtzig erzählen», sagte er: «Ich glaube nicht, dass ich ein Nachleben habe. Ich fürchte, na ja, es ist einfach fertig. Das ist schade, aber ziemlich sicher.» In dieser Hinsicht hat sich A.H. getäuscht. Wir wären heute nicht hier versammelt, um an die Leistungen und das Lebenwerk dieses phänomenalen Berichterstatters und Kulturvermittlers zu erinnern, wenn es kein Nachleben für ihn gäbe. Man kann es, wenn man sich die Zeit dafür nimmt, im NZZ-Archiv, seinen Büchern und in den Erinnerungen seiner Bewunderer finden. Nicht umsonst hat seine Tochter Jessica hier erwähnt, dass Hottingers amerikanische Frau Pan ihn «the great man» nannte.