Im Mittelpunkt der Werkschau, die das Kunsthaus Zürich dem in Wien lebenden Schweizer Künstler Peter Wechsler widmet, stehen zehn grossformatige Bleistiftzeichnungen. Sie gehören zu einem von 1994 bis 2008 entstandenen Zyklus, mit dem Wechsler die Ausdrucksmöglichkeiten von Abstraktion und formalem Minimalismus in radikaler Weise ausgelotet hat. Jedes dieser Blätter ist eine an die Grenzen des Möglichen getriebene Kreation, eine ganze Welt auf schwerem Aquarellpapier, ein schwindlig machendes Labyrinth für die Augen des Betrachters. Die Bildtitel geben auch die Entstehungszeit an; sie erstreckt sich in einem Fall auf rund zweieinhalb Jahre, bei den anderen jeweils auf einige Monate.
Strapaziöser Entstehungsprozess
Der Ausstellungskatalog enthält einen längeren Text, in dem der Zeichner diesen Arbeitsprozess schildert. Wechsler grundiert das Papier, das widerstandsfähig sein muss, um der strapaziösen Bearbeitung standzuhalten. Dann zeichnet er mit feinen harten Bleistiften eine Struktur, die er laufend verfeinert und vielfach überlagert. Die Überdeckungen bleiben auch bei grosser Dichte transparent.
Einzelne der Blätter sind so exzessiv bestrichelt, dass sie auf den ersten Blick fast durchgehend schwarz erscheinen. Doch auch sie zeigen bei genauer Betrachtung ihre komplexe und vielschichtige Struktur. Wechsler achtet darauf, beim Zeichnen keine repetitiven Automatismen aufkommen zu lassen. Die Bilder finden ihre Ordnungen, die sich organisch entwickeln, aber auch kleine Störungen hervorrufen. Makro- und Mikrostrukturen überlagern sich auf komplizierte Weise. Das „Alphabet“ der bildlichen Elemente ist auf ganz wenige Grundzeichen reduziert, die dann aber durch die gewollt unperfekte, quasi handschriftliche Anwendung lebendig erscheinen. Die Gesamtheit der vermutlich Hunderttausenden von Bleistiftstrichen erzeugt eine vibrierende Bildfläche mit räumlichen Effekten. (Weder die Reproduktionen im Katalog noch die hier gezeigte Fotografie können die Bildwirkung der grossen Bleistiftarbeiten wiedergeben.)
Welt-Bilder
Mit dem Ausstellungsmotto „Kleinteilig wächst die Welt zusammen“ ist schon angedeutet, dass die Werke dieses Zyklus als Welt-Bilder gelesen werden wollen. Struktur ist ein Schlüsselbegriff moderner Weltdeutung: Nicht die Summe der materiellen Beschaffenheiten und Zustände, der Interessen und Ideen macht die Welt aus, sondern die zwischen ihnen entstehenden regelhaften Beziehungen – in einem sehr abstrakten Sinn „Strukturen“ oder „Systeme“ genannt. Peter Wechslers Zeichnungen können als der künstlerische Ausdruck eines Weltverständnisses gesehen werden, das philosophisch in den hoch abstrakten Konzepten des Strukturalismus und der Systemtheorie formuliert worden ist.
Jenseits aller Philosophie sind Wechslers Zeichnungen erst einmal leise Schocks, Wahrnehmungs-Abenteuer, sinnverwirrende Gebilde. Angesichts der visuellen Übersättigung, der allgegenwärtigen Kameras, der unbegrenzten Möglichkeiten zur Erzeugung und Manipulation von Bildern wäre ja zu erwarten, dass längst jedermann visuell verblüffungsresistent ist. Die Kunst hat in den letzten hundert Jahren buchstäblich alles durchprobiert. Die Zeit der grossen Erschütterungen durch künstlerische Wagnisse, Grenzüberschreitungen und Tabubrüche dürfte passé sein.
Mönchisches Arbeiten
Nun sind Peter Wechslers grosse Zeichnungen bestimmt nicht auf derlei Sensationen aus. Ihre Wirkungen sind subtiler. Sie können den Betrachter ins Grübeln bringen: Was ist es, das diese Blätter schön macht? Was für Regeln geben ihnen die so offensichtliche und zugleich schwer durchschaubare Ordnung? Welcher Disziplin folgt der Künstler, der wie ein Mönch im mittelalterlichen Skriptorium über Jahre tagaus tagein aus akkuraten Zeichen ein Werk fügt? Wie lenkt sich ein so langer Schaffensprozess? Und wie kann ihn der Betrachter, der nur das fertige Werk sieht, nachvollziehen?
Neben den Bleistiftarbeiten zeigt die Werkschau auch Pinsel- und Rohrfederzeichnungen in schwarzer Tusche. Neben wenigen Blättern mittleren Formats ist eine grössere Zahl von kleinen ungerahmten Skizzen zu sehen, die teils stark an fernöstliche Kalligraphien gemahnen. Die Tusche-Technik fordert eine sichere Hand, deren Gesten durch intensive geistige Vorbereitung geleitet sind. Im Unterschied zur extremen Dauer des Zeichnens an den grossen Bleistiftstücken ist der Akt der Realisierung hier Sache weniger Atemzüge. Doch beide Ausdrucksformen gründen in einer langen Disziplin der Versenkung und des innerlichen Sehens.
Die Schau der Zeichnungen Peter Wechslers ist darauf angelegt, die Begegnung mit seinem Werk anzubahnen. Dabei fokussiert sie klugerweise auf den Zyklus der grossen Bleistiftarbeiten. Sie sind einzigartig und schenken den Besuchern ein lange nachhallendes Kunsterlebnis.
Peter Wechsler – Zeichnungen. Kunsthaus Zürich, bis 22. Januar 2017
Öffentliche Führungen: Sonntag 27. November, 16 Uhr, mit Peter Wechsler und Bernhard von Waldkirch. Samstag 10. Dezember, 16 Uhr, und Samstag 7. Januar 2017, 11 Uhr, mit Bernhard von Waldkirch.