Schon der Titel führt auf schwankenden Grund. Kann es denn eine Heimkehr nach Fukushima geben? Oder muss man das „nach Fukushima“ als Benennung unseres Zeitalters lesen, analog zu „nach Christus“, so dass es ums Heimkehren unter diesem Epochenvorzeichen ginge?
Adolf Muschg hat sich nach dem 11. März 2011 sieben Jahre Zeit genommen mit seiner literarischen Antwort auf die Dreifach-Katastrophe von Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze. Er hat in Japan gelebt und als Hochschullehrer gearbeitet, seine Frau ist Japanerin – es ist also auch sein Land, das damals knapp an der Unbewohnbarkeit vorbeischrammte. Die Evakuierung Tokyos war in Prüfung; wäre das neben Fukushima Dai-ichi ebenfalls betroffene Zwillingswerk Dai-ni nicht rechtzeitig notgekühlt worden, so hätte nicht nur Tokyo aufgegeben werden müssen.
„Heimkehr nach Fukushima“ ist als Roman eingelassen in die Tatsächlichkeit der Katastrophe. Mit der klug gesetzten narrativen Konstruktion einer Reise gelingt es Muschg, nicht nur Zeitgeschichte und fiktive Erzählung zu amalgamieren, sondern mit dem europäischen Blick von aussen auch einen spezifisch japanischen Umgang mit dem nuklearen Horror zu beleuchten.
Eine Reisegeschichte
So beginnt denn die Reise weit weg von Fukushima am Oberrhein. Das Architektenpaar Paul und Suzanne hat sich in der Nähe Freiburgs ein Traumobjekt ins Land hinaus gebaut, den auf Stelzen stehenden gläsernen „Doppeldecker“ – eine Etage für jeden von ihnen. Suzanne ist international im Geschäft mit Grossaufträgen und entsprechend dauernd unterwegs. Paul hatte mal ein paar Lehraufträge für Städtebau. Vor zwanzig Jahren erzielte er mit seinem philosophierenden Buch „Hier und Jetzt“ ein Quentchen Aufmerksamkeit; es wurde gar ins Japanische übersetzt. Ein grossväterliches Erbe hat ihn im vorgerückten Alter zu einem, wie er selber sagt, „reichen Jüngling“ gemacht, mithin zu einem Antihelden. Denn der reiche Jüngling ist in der Bibel ja derjenige, der sich trotz sehnsüchtigem Wunsch nicht für die Nachfolge Christi entscheiden kann, weil er an seinen irdischen Gütern hängt.
Wonach Paul Sehnsucht hat, weiss er augenscheinlich nicht. Doch ohne eine innere Unruhe hätte er sich kaum auf den brieflichen Appell seines japanischen Bekannten Ken eingelassen. Ken beschwört ihn, mit Suzanne nach Fukushima zu reisen, um den Bürgermeister des dortigen Dorfes Yoneuchi bei einem Projekt zur Wiederbesiedlung der evakuierten Region zu unterstützen. Kern des Vorhabens sei eine internationale Künstlerkolonie, und der Bürgermeister bitte den auch in Japan gelesenen Paul Neuhaus, diese Kolonie zu gründen und aufzubauen.
Paul reist allein nach Japan. Suzanne ist wegen geschäftlicher Verpflichtungen unabkömmlich. Untergründig hat sich eine Trennung angekündigt; Paul reist als Verlassener, was er sich allerdings noch nicht eingestehen will. Doch vorerst nimmt ihn das Reisen in Beschlag. Ob und worauf er sich einlässt, ist ganz unklar. Ken beruft sich im Brief auf die Garantie des Bürgermeisters, Yoneuchi sei sicher. Greenpeace jedoch, so hat Paul recherchiert, hält den Ort für unbewohnbar. Paul reist unter Vorbehalt, hat den Abbruch der Übung stets in Griffnähe. Auf seinem Flug nach Tokyo ist er noch unentschlossener als der reiche Jüngling der Bibel: Selbst in der Ablehnung der Herausforderung ist er sich nicht sicher.
Ken und dessen Frau Mitsu – beide hervorragend Deutsch sprechend, er Manga-Zeichner, Philosoph und Germanist, sie Übersetzerin – nehmen Paul in Empfang. In der Hotelbar steigert sich Ken in Sarkasmen über Fukushima und die Zukunft überhaupt: „Wann gelingt uns die Entsorgung perfekt? Ganz einfach: wenn wir andere Sorgen haben!“ Trotz langjähriger Bekanntschaft ist dieser Mann für Paul ein Rätsel. So hält er es denn für einen neuen Beweis von Kens Sprunghaftigkeit, als dieser ankündigt, er werde an der vereinbarten Reise nach Yoneuchi nicht teilnehmen. Statt zu viert werden sie zu zweit sein, Paul und Mitsu.
Katastrophal veränderte Lage der Menschen
Schon auf der Fahrt nach Fukushima und Yoneuchi baut sich eine erotische Spannung auf. Paul ist Anfang sechzig, Mitsu siebenunddreissig, und sie verehrt seinen Lieblingsautor Adalbert Stifter. Trotz ihrem exzellenten Deutsch liest sie Stifter auf Japanisch; ohnehin schreibe er ja fast wie ein Japaner. Und schon auf der Fahrt redet Paul, wie einst gegenüber Suzanne bei der ungestümen ersten Begegnung in einem Chicagoer Hotelzimmer, von der Geschichte seiner ersten Liebe zu der unter Mormonen-Einfluss geratenen Studentin Ava. Was er vor Mitsu nicht preisgibt, ist der Grund jener ersten Trennung: Ava hatte sich abgesetzt, weil er zu ihrem erwarteten Kind nicht Ja sagen mochte. Doch als Paul über Stifters Ehe spricht, die dieser nur geschlossen habe, um seine verlorene Jugendliebe zu verschmerzen, nähert er sich, für Mitsu nicht erkennbar, dann doch jenem dunklen Punkt seines Lebens.
Viele der Dialoge des Romans sind verdichteter Ausdruck der Nach-Fukushima-Existenz. Dabei ringen die Figuren mit der prekären Balance auf schwankendem Grund. Bei jeder Aussage kann der Sinn nach hier oder nach da kippen. In den Dialogen Pauls mit Suzanne sah das noch wie ein intellektuelles Spiel im Übergang zum höheren Nonsense aus. Doch es sah nur so aus, da Suzanne ihn gründlicher kannte und durchschaute als er sich selbst. Im Umfeld der epochalen Chiffre Fukushima jedoch fällt alles Spielerische weg. Die Kippeffekte der Dialoge geben immer wieder Einblicke in die katastrophal veränderte Lage der Menschen.
Hiroshima und Fukushima
Mitsus Hinweis auf den Film „Grüsse aus Fukushima“, der nach dem Willen der Regisseurin ursprünglich „Fukushima, mon amour“ hätte heissen sollen, leitet zur Referenz auf Alain Resnais’ Film von 1959 „Hiroshima, mon amour“ und zu dessen Schlüsselsätzen: „Ich habe alles gesehen in Hiroshima.“ Und: „Du hast nichts gesehen in Hiroshima.“ Wobei das Entscheidende sei, so Paul, dass beide Sätze gleich wahr sind. – Hiroshima wird hier definitiv zum Bezugspunkt der Wahrnehmung von Fukushima. Unabweisbar steht der 11. März 2011 im Schatten des 6. August 1945 und erweist die schreckliche Nähe der angeblich friedlichen Atomkraft zur militärischen.
Kens Vater, so berichtet Mitsu, sei als Militärarzt einen Tag nach dem Bombenabwurf nach Hiroshima entsandt worden und dann im Alter von dreiundfünfzig an Leukämie gestorben. Er habe aus Scham – und um seine Familie vor Benachteiligung wegen verbreiteter Vorurteile zu bewahren – nie über seine Strahlenkrankheit gesprochen.
Exkursionen in der Sperrzone
Die Reisenden kommen im Gasthaus „Eisvogel“ bei Yoneuchi an und werden von Bürgermeister Seizö, der übrigens Mitsus Onkel ist, empfangen. Als Gastgeschenke bringt er ihnen zwei Dosimeter. Auch nach der Rede Seizös, die Paul in seiner Jetlag-Erschöpfung nur knapp übersteht, bleibt unklar, auf welche Weise der Bürgermeister mittels des Künstlerkolonie-Projekts seinen optimistischen Aktivismus gegen die Resignation der vertriebenen Bevölkerung konkretisieren will.
Die folgenden Tage sind angefüllt mit Fahrten zu Notunterkünften, zu Menschen, die im Katastrophengebiet ausgeharrt haben, zu einem verlassenen, von Wildschweinen heimgesuchten Gutshof, dem Ökura-Haus. Überall wird verseuchtes Erdreich grossflächig abgetragen, ganze Landstriche sind von Baggern kahlgeschabt, die Erde ist in schwarzen Plastiksäcken gestapelt als gespenstische Land Art. Mal im Schutzanzug, mal nur mit ständigem Blick auf den Geigerzähler durchstreift Paul mit seiner Führerin und Fahrerin Mitsu die Gegend. Was er dort soll, wird ihm trotz des durchdachten Reiseprogramms nicht klarer.
Auch die Stifter-Lektüre, die Paul betreibt wie ein Priester das Brevierlesen, vertieft nur den Eindruck der Verlorenheit. Mehr als einmal ist der Stifter-Satz zitiert: „Was ich jetzt tun sollte, wusste ich nicht. Es war eine Leere gekommen.“ Und direkter noch scheint ein anderes wiederholtes Stifter-Zitat Pauls deplatzierte Anwesenheit in Fukushima zu spiegeln: „So bin ich unversehens ein Landschaftsmaler geworden. Es ist entsetzlich.“ – Landschaftsmaler also, einer, der durch Wahrnehmung und Wiedergabe eine Landschaft lesbar macht. Paul wird von Mitsu durch fortgesetzte Exkursionen in den Zeugenstand erhoben. Nicht nur was Paul sieht, ist entsetzlich, sondern genau so auch die an ihn herangetragene Aufgabe.
Dreimal auf den Touren durchs verseuchte Land nimmt sich Mitsu ohne zu fackeln den überrumpelten Paul, ohne aber anschliessend mehr als nur gerade versteckte Signale der Nähe zuzulassen. Muschg verrät nichts über Mitsus Inneres, aber er lässt sie Hinweise geben, so auch diesen: Sie weiss, dass ihr Mann Ken von seinem Vater die Leukämie geerbt hat, obschon Ken – genau wie sein Vater – die Krankheit geheim zu halten versucht.
Tiefpunkt der Verlegenheit
Bei einem letzten Treffen mit dem Bürgermeister fragt Paul, weshalb Japan die Atomenergie nicht aufgebe. Seizö entgegnet mit schockierendem Pragmatismus, es bleibe nichts anderes, als aus der Katastrophe eine Chance zu machen, Landwirtschaft habe in Japan ohnehin keine Zukunft, Einschränkungen und Rückschläge habe es in der Geschichte immer gegeben, in verstrahltem Gebiet lebende Organismen würden sich allmählich anpassen. Und er setzt noch eins drauf mit seinem Vorschlag, der verehrte Professor aus Deutschland solle den aufgelassenen Gutshof, das Ökura-Haus, kaufen, um daraus das Zentrum für seine Künstlerkolonie und einen Ort des Dialogs der Kulturen zu machen. 60'000 Euro für den ganzen Komplex. Ein Freundschaftspreis, wie auch Mitsu meint.
Im ausgedehnten Epilog des Romans reist Paul allein weiter nach Hakane am Fuss des Fuji, um sich von der Fukushima-Strapaze zu erholen. Seine Situation bringt Muschg bündig auf den Punkt: „Vielleicht hatte seine Existenz einfach den Höhe- oder Tiefpunkt der Verlegenheit erreicht.“ Der reiche Jüngling am Tiefpunkt der Verlegenheit, da er sich weder für eine Zusage noch für eine Absage an Seizös (und offenbar auch Mitsus) Wunsch entschliessen kann, aktiver Teil der von der Fukushima-Katastrophe Betroffenen zu werden.
Im fast leeren Hotel gegenüber des für Momente sichtbaren Fuji versinkt Paul in einen somnambulen Gemütszustand, in dem ihm ein alter Zitherspieler erscheint, der ihm von Weitem ein Kind zeigt, Avas und sein Kind, wie Paul hernach glaubt. Traum? Einbildung? Und doch hat ihm jemand eine Visitenkarte hinterlassen, deren höchst rätselhafte Angaben Paul hernach per Google-Recherchen zu entschlüsseln sucht. Obschon er Überraschendes herausfindet, reichen die Ergebnisse zuletzt bloss für die vage Vermutung, bei der Karte handle es sich um „eine Todesanzeige der Hoffnung“. Wieder so ein Muschgscher Double Bind: Die Formulierung kann der Hinweis auf einen mit Hoffnung verbundenen Tod oder auf eine tote Hoffnung sein.
Strahlender Schlussakkord
Überraschend taucht vor Pauls Abflug Mitsu nochmals auf. Sie will ihm etwas mitteilen, das sie ihm nur sagen kann, wenn Paul ihr vorher feierlich verspricht, gleich anschliessend seinen Flug zu nehmen und Japan in Richtung Europa zu verlassen. Als Paul ihr das gewünschte Versprechen gibt, erklärt sie schwanger zu sein: „Ich habe es gewünscht. Es ist unser Kind.“ Es erscheint wie Pauls Antwort auf diese Eröffnung, als er ihr daraufhin den Wunsch mitgibt: „Bitte sag Seizö-san, dass ich das Ökura-Haus kaufe.“ Im Flugzeug er nimmt sich vor, Japanisch zu lernen. Mit dem letzten Stifter-Zitat am Ende des Romans setzt Muschg einen pathetischen Schlusspunkt: „Ich fühlte eine Freiheit, Fröhlichkeit und Grösse in meinem Herzen wie in einem hell erleuchteten Weltall.“
Sollen wir dem hiermit gefeierten Frieden, der Auflösung aller Zwiespältigkeiten, dem strahlenden Schlussakkord in Dur trauen? Vorsicht, denn dieser Wohlklang schliesst einen Roman ab, der sich tief auf die Realität einer Katastrophe einlässt, die nicht der Unfall einer Zivilisation, sondern ihr Wesen ist: die Spaltung zuinnerst und in allem. Epiloge dienen oft der Beruhigung des aufgewühlten Publikums, und etwas in der Art scheint auch Muschg hier gewollt zu haben. Seine Schilderungen von Pauls japanischer Reise erwähnen oft tiefe Verbeugungen von Bediensteten und Gastgebern. Mit einer derartigen Geste entlässt Muschg sein Lesepublikum. Doch dieses weiss ja, was es gelesen hat und dass es zumindest den Entschlüssen des Hauptprotagonisten nicht trauen sollte.
Muschgs jüngster Roman hat den Reiz eines kenntnisreichen Reiseberichts und einer tiefgründigen Auseinandersetzung mit einem Schlüsselereignis unserer Zeit. Darüber hinaus ist er eine kunstvoll gebaute Erzählung, die durch eine Vielzahl innerer Bezüge ihre komplexe, aber gut lesbare Form erhält. Stellenweise allerdings geht mit dem Autor der Essayist durch. Eingeschobene Reflexionen oder hoch artifizielle Dialoge brechen den erzählenden Duktus. Genau wie der irritierende Schluss tragen sie aber dazu bei, dass es die Lesenden sich nicht zu gemütlich machen.
Mit „Heimkehr nach Fukushima“ hat Adolf Muschg in seinem Werk und in der Gegenwartsliteratur eine Marke gesetzt. Die Empfehlung ist ganz klar: Lesen!
Adolf Muschg: Heimkehr nach Fukushima. Roman, Verlag C. H. Beck 2018, 244 S.