Fünf Monate nach seinem 90. Geburtstag liegt es vor, sein lang erwartetes Spätwerk, an dem Jürgen Habermas die vergangenen zehn Jahre gearbeitet hat: «Auch eine Geschichte der Philosophie», 1752 Seiten in zwei Bünden mit den Untertiteln «Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen» (Band 1) und «Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen» (Band 2). Erscheinungsdatum 11.11.2019 bei Suhrkamp, Frankfurt/M.
Viel geschrieben hat er seit bald 70 Jahren. Immer auch für die Zeitung und Publikumszeitschriften als engagierter Teilnehmer an der politischen Aktualität Deutschlands, Europas, der Kultur-, Medien- und Wirtschaftswelt. 2000-3000 Buchseiten musste ich schon gelesen haben, als ich Mitte der siebziger Jahre in Frankfurt besuchsweise in seinem Kolloquium sass. 191 Seiten umfasst eine Bibliographie von Habermas’ Schriften vom 1. August 2019 (ohne Übersetzungen) , erstellt von Luca Corchia, Fellow an der Universität von Pisa und Gründungsmitglied der Società Italiana di Teoria Critica, welche in Rom die italienische Vertretung der Frankfurter Schule unterhält. Das Verzeichnis beginnt mit dem Eintrag: [1952a] Gottfried Benns neue Stimme, in «Frankfurter Allgemeine Zeitung», 19.6.1952. p. 6. und endet mit [2019d] Ein Gespräch über Heimat, Europa und Zukunft, Interview, in «Kölnische Rundschau», 8.7.2019. Er ist weltweit der meistzitierte Philosoph des 20. Jahrhunderts nach Heidegger.
Am 27. Oktober erschien bei Suhrkamp als TB eine Festschrift «Habermas global. Wirkungsgeschichte eines Werks», 894 Seiten von über 40 Autoren aus aller Welt, zum Schluss eine Auswahlbiographie seiner in rund 40 Sprachen übersetzten Schriften.
Auch eine Geschichte der Philosophie – die «melancholische Kurzfassung» früherer Titelerwägungen, so der Autor im Vorwort, macht kein Rätsel daraus, dass damit Habermas’ eigene Geschichte der eigenen Philosophie gemeint ist.
Nach einer Zwischenbetrachtung über den Paradigmenwechsel zur Subjektphilosophie im Zug der Aufklärung und den sich daraus ergebenden Fragestellungen bei Hume und bei Kant sei ihm klar geworden, dass er «nur noch in der Traditionslinie von Kant und Hegel das Frühstadium des nachmetaphysischen Denkens um die Mitte des 19. Jahrhunderts grob würde skizzieren können». Nachmetaphysisch heisst für Habermas das moderne Spezifikum des philosophischen Diskurses seit Kant, während allerdings in unserem neuen Jahrhundert als Parallelerscheinung des weltweiten Erstarkens und Vormarschs religiöser Bewegungen die Metaphysik in der westlichen akademischen Philosophie wieder rasant Boden gutgemacht hat. Aus den letzten zweihundert Jahren extrahiert Habermas’ Geschichte zudem die Vorbereitung der sprachphilosophischen Wende (linguistic turn) in Schriften Herders, Schleiermachers und des amerikanischen Pragmatisten Charles Sanders Peirce. Wir sind damit auf dem Rückweg aus der neuzeitlichen Subjektphilosophie zur neuen Objektivität, sprich der Intersubjektivität kommunikativ vergesellschafteter denkender und handelnder Subjekte, in der Habermas das Telos der «Spuren der Vernunft in der Geschichte» ausgemacht hat. Wir steuern damit auf ein Kernstück von Habermas’ Philosophie zu: seine Diskursethik, die in der kommunikationstheoretischen Transformation von Kants Vernunftkritik deren transzendentale Elemente abstreift, nachmetaphysisch eben darin, und im machtfreien Diskurs erkenntnisinteressierter Zeitgenossen deren und unser aller Vernunft, soweit wir darüber verfügen, im «zwanglosen Zwang des besseren Argument» begründet sieht.
Auf 1752 Seiten durch 2500 Jahre
Auf den ersten gut tausend Seiten der zwei Bände hat es Habermas, wie er guten Mutes im zweiten Satz ausspricht, «einfach Spass gemacht, die Lektüre vieler bedeutender Texte, die ich nie gelesen hatte, nachzuholen, und viele andere Texte ... wieder zu lesen». Der Einstieg erfolgt bei Moses und Hiob, Zarathustra und Buddha, Laotse und Konfuzius, Homer und Aischylos, Thales und Pythagoras. Die griechisch-römische Antike steht im Zeichen der Symbiose von Glauben und Wissen, das lateinische Mittelalter im Zeichen der Differenzierung von Glauben und Wissen, und im Übergang zur Neuzeit ist der Schlüssel nicht, wie man erwarten könnte, Descartes’ Zweifel, sondern die Trennung von Glauben und Wissen in Luthers Bruch mit der Tradition und den Weichenstellungen seiner Theologie für das moderne Vernunftrecht. Dazwischen unterzieht Habermas in jugendlicher Frische Metaphysikertitanen wie Augustinus, Ockham, Duns Scotus und Pascal seiner Lektüre und arbeitet dienstfertig an ihren Problemen weiter, worauf schwerlich noch jemand zu hoffen gewagt hätte. Leitend in Habermas’ Parforceritt durch zwei Jahrtausende ist ein professionelles Selbstverständnis, das «sich mit einer plausiblen Lesart der Geschichte der Philosophie stützen lässt», soweit «sich diese Geschichte über Abgründe hinweg auch als eine unregelmässige Folge von kontingent ausgelösten Lernprozessen begreifen lässt». Dem «Interesse an den Spuren der Vernunft in der Geschichte» geht es dabei stets um Impulse zur «Beförderung vernünftiger Lebensverhältnisse».
Die Rezensentenkorona Hans Joas (Süddeutsche Zeitung), Michael Hampe (Die Zeit), Otfried Höffe (NZZ) kommt pflichtbewusst hinweg über das Pensum an Huldigung, welche das Wunder solcher philosophischer Tatkraft in so hohem Alter erheischt. In der Sache erscheint das in beiden Untertiteln leitende Zweigespann «Glauben und Wissen» sogleich handlich genug: kein unbekannter Stoff ist die Frage nach der Verträglichkeit oder Komplementarität beziehungsweise der Opposition, Inkompatibilität, Unversöhnlichkeit dieser beiden vornehmsten Leistungen des menschlichen Geistes beziehungsweise Intellekts. Ist das nicht, gewiss auf dem letzten Stand wieder einmal, die Lehre vom wahren Unglauben? Bei Joas und Höffe lauert sie von Beginn an und nicht ohne spürbaren Argwohn im Hintergrund, diese Frage, die Jürgen Kaube in der «Frankfurter Allgemeinen» ausspricht. Habermas sucht gegen den Glauben keinesfalls Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, er gönnt ihm den ihm eigenen Frieden, und dies nicht nur auf dem diplomatischen Hochseilakt im Gespräch mit Kardinal Joseph Ratzinger am 19. Januar 2004 auf einem Podium der Katholischen Akademie Bayern, das damals breite Aufmerksamkeit fand. Hartgesottene Atheisten enttäuschte er bitter, er falle der Aufklärung in den Rücken, liess sich der Positivist Hans Albert verlauten. Wenn allerdings von Gott gesagt wird, dass er die Welt transzendiere, dann fügt Habermas hinzu, dass ihm kein menschliches Wissen dahin zu folgen vermag. Dem lässt sich aus dem Vorgarten ansonsten unterschiedlichster Denkschulen entgegenhalten, das menschliche Denken vermöge dies sehr wohl, auch wenn dessen forsche, da unaufhaltsame Schritte bis auf Weiteres ebenso ungesichert bleiben müssen wie letztlich die Grundlagen allen empirischen Wissens vom Urknall bis heute. Die Überzeugung, einen aufgeklärten, von überführbarem Aberglauben gereinigten Glauben gebe es nicht, da ein solcher unmöglich wissenschaftskonform sein und daher gegenüber wissenschaftlich erhärtetem Wissen an Plausibilität nur abfallen könne, gründet seinerseits in einem Glauben. Im, hinter, über, unter und neben dem Wortpaar «Glauben und Wissen» schillert vielfarbig der Begriff Denken.
Philosophie – Begriff im Ungewissen
Diesseits des Glaubens lassen unterschiedliche Philosophiebegriffe keine vertiefte Harmonie unter den namhaften Köpfen der ehrenwerten, angestaubten Königsdisziplin erwarten. Deren Gegenstand ist für Habermas noch immer das Ganze, und demgemäss ihre Geschichte eine Sammlung von «Gründen, die dafür sprechen, an einem komprehensiven Begriff der Vernunft und einem entsprechend anspruchsvollen Selbstverständnis des philosophischen Denkens festzuhalten». Allerdings äussert Habermas selber Zweifel, dass dieses Philosophieverständnis noch eine Zukunft habe. Bestenfalls kann dabei die kleinere Hälfte der Gegenwartsphilosophie im Blick stehen. Michael Hampe, der in vielen Richtungen, auch historisch und ausserdem schriftstellerisch versierte Philosoph der ETH Zürich, 32 Jahre jünger als Habermas, sieht sich angesichts eines Monumentalwerks vom bezeichneten Format veranlasst, den Vertretern seines Fachs Bescheidenheit zu raten. Im nüchternen Duktus, unbeeindruckt durch seine Einsichten stets bei der Sache, kann ihnen Habermas ein Vorbild sein. Ebenso in der Ironie dem eigenen Projekt gegenüber, welches im gegebenen Fall «ohnehin nur eine dilettantische Durchführung gestattet». Habermas pflegte weder die Fachwelt noch die philosophisch interessierte Öffentlichkeit mit «Vermächtnissen» zu beglücken, veröffentlichte stattdessen «Teile eines fortlaufenden Diskurses», in der sich bald genug lernen liesse, was er, wie er sich ausdrückt, «falsch gemacht habe».
Bestallt in den Institutionen des akademischen Lehrbetriebs, begnügen sich viele von Habermas’ Berufskollegen bereits seit dessen frühesten Anfängen mit dem Status von Zuarbeitern einer Metadisziplin. Die methodisch disziplinierte Untersuchung der Grundlagen der Wissenschaften bleibt ein universelles Unternehmen, aber nur insofern als der Diversität ihrer Gegenstände keine Grenzen gesetzt sind. Von der Philosophie nach Habermas’ traditionellem Verständnis behält sie wenig mehr bei als den Namen.
Noch immer denken die Menschen, auch philosophisch disziplinierte Köpfe, weit über die Grenzen empirisch gesicherten Wissens hinaus, gleichviel ob gläubig oder ohne zu glauben. Auf dem weitläufigen offenen Feld der Gegenwartsphilosophie, es wurde schon angedeutet, erheben sich seit der Jahrhundertwende, bezeichnend für die veränderte Denkwetterlage, allerhand Neubauten der Metaphysik – ein Reichtum von Stilen: Barock, Klassizismus, Romantik, viel Postmoderne mit ihren billig zu wechselnden Vorlieben, aber durchaus auch avancierte Anschlüsse an die schon so oft zu Grabe getragene Moderne. Nicht daher allerdings kommt es, sondern ganz unzufällig und auf direktem Weg von seinem Gegenstand: der Vernunft im Spannungsfeld Glauben und Wissen, wenn in der Aufnahme von Habermas’ Philosophiegeschichte – in deutlichem Kontrast zum Frankfurter Kolloquium der siebziger Jahre – viel von Gott die Rede ist. Dessen wachsende Aktualität im neuen Jahrhundert lässt nach einem Jahrhundert weitgehender Absenz auch die Philosophie nicht mehr aus.
Erschöpfter Griff zum Nachttischchen
Noch immer beim Thema, aber zum Abgewöhnen liegt da auf dem Nachttischchen «Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von ‹Krieg und Frieden› bis ‹Tim und Struppi›». (Brandneu bei Piper, München 14. Oktober 2019.) In Deutschland ist der Kritiker, Literaturagent, Übersetzer und Journalist Denis Scheck aus Fernsehen und Radio bekannt. Ich beschränke mich auf wenige Zeilen, die aneinanderreihen, was Sie und mich hier an nicht nur, aber zu einem schönen Anteil Unerwartetem erwartet. Die 16 Seiten Vorwort dürfen Sie sich sparen oder zuletzt lesen. Ganz ohne Überschneidungen mit Habermas’ Spätwerk oben wird es, wie Sie sich denken können, nicht abgehen.
Dem Alphabet nach geht’s los: Chinua Achebe, Aristophanes, Carl Barks, Catull, Inger Christensen, Julio Cortázar, William Gaddis, Khalil Gibran, Johann Wolfgang von Goethe (siehe auch Habermas), Brüder Grimm (die Märchen sind nie zu vergessen!), Hergé, Homer (siehe auch Habermas), die spätantike Philosophin Hypatia, Yasushi Inoue, Gertrud Kolmar, Selma Lagerlöf, Ursula K. Le Guin, Astrid Lindgren, Clarice Lispector, Les Murray, J. K. Rowling, Sappho, Dorothy L. Sayers, Charles M. Schulz, (Shakespeare), W. G. Sebald, Sei Shonagon, Tausendundeine Nacht, Ngugi wa Thiong’o, James Tiptree, Lu Xun. –––– G. K. Chesterton kann Denis Scheck folglich noch nicht gelesen haben.
Ihnen gute Unterhaltung und kräftige Erholung!