Das Haus konstruktiv ist ein besonderes Kunstmuseum. Es hütet das Erbe der Zürcher Konstruktiven und Konkreten – Max Bill, Richard Paul Lohse, Verena Loewensberg, Camille Graeser –, musealisiert dieses aber nicht, sondern bringt die Idee des Konkreten als wirkungsmächtige Position ins Spiel der heutigen Kunstszene. Die private Institution in der einstigen Umspannstation des städtischen Elektrizitätswerks ist der Aufgabe der Energieversorgung treu geblieben: Sie gibt immer wieder starke Impulse zur Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Schaffen und ist so zum spannendsten Kunsthaus auf dem Platz geworden.
Paradigma des Konkreten
Mit Imi Knoebel hat die Direktorin und Kuratorin Sabine Schaschl einen grossen Namen und wichtigen Exponenten der internationalen Kunstszene in ihr Haus geholt und präsentiert ihn mit einer Werkschau. Und sie tut dies à la Haus konstruktiv, nämlich in Form einer hintergründigen Untersuchung von Knoebels Umgang mit dem, was in der Gegenwartskunst als „konkret“ firmiert.
Mit dem Begriff des Konkreten ist nicht wie in der Umgangssprache der Gegensatz zum Abstrakten gemeint. Vielmehr bezeichnet er ein Paradigma der Kunst, bei dem es nicht ums Darstellen äusserer oder innerer Wirklichkeiten geht. Sinn des „konkreten“ Werks ist allein dieses selber, es verweist auf nichts ausserhalb seiner selbst. Konkrete Kunst ist in ihren „klassischen“ Formen stets auch konstruktiv, also nach geometrisch-mathematischen Gesetzmässigkeiten geformt. Als ihr zeitgenössisches Gegenstück ist die expressive Kunstauffassung zu sehen.
Schweigende Installation
Hauptstück der Knoebel-Werkschau ist eine die ganze Halle des Erdgeschosses bespielende Installation mit dem Titel „Raum 19 III“. Tritt man durch die Tür, ist man erst zurückgestossen, dann überwältigt. Tonnen von braunen Hartfaserplatten bilden ein wirres Warenlager. Oder eher eine Werkstatt? Es riecht nach Schreinerei. Spannrahmen aus Hartholz, bereit für Leinwände, stapeln sich am Boden, lehnen an Wänden grosser Kuben. Sind wir in einem Künstler-Atelier? Doch wo sind Farben, Pinsel, Papiere? Es fehlen alle Malerutensilien. Dicht an dicht gestellte Objekte lassen keinen Raum, in dem man sich aufhalten oder gar arbeiten könnte. Und sie erzählen keine Geschichte. Sie schweigen.
Häufchen kleiner Spannkeile liegen zwischen den Kuben und Rahmen. Bei längerer Betrachtung tritt aus dem Chaos das komponierte Arrangement hervor. Weiter fällt die sorgfältige Machart ins Auge. Diese hölzernen Quader, Halb- und Viertelzylinder sind beste deutsche Wertarbeit.
„Raum 19 III“ mag zwar dem unvorbereiteten Betrachter nichts erzählen, hat aber natürlich eine Geschichte. Sie ist sozusagen der Gründungsmythos des Künstlers Imi Knoebel. Klaus Wolf Knoebel, 1940 in Dessau geboren, 1950 mit der Familie in den Westen geflohen, besuchte 1962 bis 1964 in Darmstadt die vom Bauhaus geprägte Werkkunstschule. Zusammen mit Rainer Giese studierte er dann bei Joseph Beuys, der an der Düsseldorfer Kunstakademie im legendären Raum 20 unterrichtete. Knoebel und Giese, die sich beide den Vornamen Imi zulegten, erreichten es sogar, dass Beuys ihnen einen eigenen Raum zuwies, den Raum 19. Die beiden Imis teilten ihn anfangs mit Jörg Immendorff und Blinky Palermo.
Nullpunkt Malewitsch
Imi Knoebel bekam von Beuys die Chance, im Raum 19 ein Jahr lang völlig frei nach seinem künstlerischen Weg zu suchen. Sein Schlüsselerlebnis war (und ist geblieben) Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat von 1915. Mit diesem Bild, das jedem Inhalt, jeder Farbe und jeder Form abschwört, endet die Kunst im Nicht-Bild. Es ist Kulminations- und Nullpunkt der Moderne, eine nihilistische Prophetie.
Für den jungen Imi Knoebel lautete die Frage: Wie kommt man künstlerisch über das Schwarze Quadrat hinaus? Was steht der Malerei nach dieser Endzeit-Proklamation (die nicht zufällig im Ersten Weltkrieg erging) als Möglichkeit noch oder wieder offen? Mit den leeren Spannrahmen forschte er nach Antworten. Sie zeigen das noch nicht gemalte Bild, die reine Möglichkeit des Schaffensprozesses. Indem sie zugleich das Handwerkliche dieses Vorgangs ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, evozieren sie die Atmosphäre des Ateliers als reine Erwartung des Künstlerischen. Durch die Art der Präsentation zu Kunstobjekten gemacht, bilden die Rahmen ein Ensemble, das tatsächlich hinter Malewitschs Reduktion zurück – und damit über ihn hinaus – geht.
Schlüsselwerk
„Raum 19“ ist ursprünglich eine Installation von 1968. Sie tickte im Kontext des Rebellionsjahrs gewiss synchron mit dem Takt der Zeit. Doch für Imi Knoebel ist sie bis heute ein Schlüsselwerk seines Œuvres. Er hat deshalb „Raum 19“ in bisher vier Versionen realisiert, die ihrerseits je nach Ausstellungsort unterschiedlich aufgebaut werden. Im Haus konstruktiv steht die Version III aus dem Jahr 2006, und sie geht mit der dortigen Raumsituation eine ideale Symbiose ein.
Mit dieser Version hat „Raum 19“ ein zusätzliches Element erhalten in Gestalt der „Batterie“, eines mächtigen Kubus aus Aluminiumplatten, die mit grünlich phosphoreszierender Farbe gestrichen sind. In der Zürcher Konstellation ist das Ensemble entsprechend dem Saalgrundriss als längliches Rechteck aufgebaut, an dessen einem Ende die „Batterie“ steht (in der Berliner Nationalgalerie 2009 bildete sie den Mittelpunkt). Der Gegensatz zwischen dem gewaltigen kalt schimmernden Monument und der kleinteiligen Architektur der warmen Holzobjekte hat „Raum 19“ im Wortsinn dramatisch verändert: Durch diesen Eingriff „geschieht“ etwas. Die Installation schweigt nicht länger; sie erzählt eine direkt lesbare Geschichte von Gegensatz und Austausch.
Wer sich die „Batterie“ wegdenkt (was dank ihrer exzentrischen Plazierung nicht allzu schwierig ist), kann den ursprünglichen, den schweigenden „Raum 19“ erleben. Ich persönlich ziehe diese Sehweise vor. Die Dramatisierung des Werks durch den Einbau der „Batterie“ schafft einen in meinen Augen allzu simplen Kontrast und führt von der originalen Stärke der Installation weg.
Weiss und Schwarz, Kätzchen und Quadrat
Doch wo ist das vom Ausstellungstitel versprochene weisse Kätzchen zu finden? Imi Knoebel hat bei der Medienpräsentation zusammen mit seiner kleinen Enkelin den Kindervers „Guten Morgen, weisses Kätzchen“ zitiert. Doch von der Unschuld dieses Gedichtchens ist seine Kunst ziemlich weit entfernt. Knoebel, der lange ausschliesslich in Schwarzweiss gearbeitet hat, denkt das Weiss bestimmt nicht ohne das Schwarz – und vielleicht auch das Kätzchen nicht ohne dessen extremes Gegenstück: das Quadrat.
Die Obsession durch Malewitschs epochales Anti-Bild lässt Imi Knoebel bis heute nicht los. Bei den 21 auf der vierten Etage in vier Räumen gezeigten „Kernstücken“, in denen Sabine Schaschl eine Art Alphabet der künstlerischen Sprache Knoebels sieht, findet sich ein verdächtig hoch platziertes kleines quadratisches Bild, das umgekehrt – mit der Rückseite zum Betrachter – an der Wand hängt. Verdächtig sind Objekt und Platzierung, weil die berühmte Fotografie der St. Petersburger Ausstellung „0,10“ von 1915 Malewitschs Bild genau so hoch gehängt zeigt.
Das ikonische Sujet erscheint aber auch ganz direkt. Vier schwarze Quadrat-Tafeln hat Imi Knoebel zu einem schräg gestellten mächtigen Kreuz zusammengefügt. Man kann also auch mittels Serialisierung über Malewitsch hinaus gehen. Durch Vervielfachung bricht Knoebel den auratischen Charakter des Vor- und Urbilds – doch nur, um dieses in der Kreuzform gleich wieder zu sakralisieren. Ein unschuldiger Umgang mit dem nihilistischen Nullpunkt der Moderne ist das wohl nicht – von wegen „weisses Kätzchen“. Sie sind durchschaut, Herr Knoebel!
Ratternde Deutungsmaschine
Oder ist das mit dem Kätzchen bloss ein Gag zwecks Anlockung und Veräppelung des Publikums? Ist der freundliche weisshaarige Herr im schwarzen Anzug heimlich noch immer der Punk der Kunstszene, der er einst war? Und wir interpretieren halt etwas zuviel? Nein, zur Kunst gehört Interpretation, auch wenn Werke wunderbarerweise schweigen. Bei guten Kunstwerken kommt die Deutung allerdings nie an ein Ende; die Werke behalten stets einen unerkannten Überschuss an Bedeutung.
Bei den „Kernstücken“ fallen zwei minimalistische Objekte auf: ein auf die weisse Wand gemaltes, kaum wahrnehmbares weisses Rechteck und ein deutlicheres, das mit weissem Licht aus dem Projektor an die Wand geworfen wird. Da fängt in jedem Kopf die Deutungsmaschine zu rattern an: Was sagt dieser Unterschied? Was macht die umliegende Wand mit dem Bild? Sind die zwei Objekte Gegenstücke zum Schwarzen Quadrat? Man kann Schwarz zwar malen, aber nicht projizieren – was bedeutet das für das Malewitsch-Bild? Verbergen die weissen Bilder vielleicht das weisse Kätzchen?
Museum Haus konstruktiv, Zürich: Imi Knoebel – „Guten Morgen, weisses Kätzchen“, 31. Mai bis 2. September 2018, kuratiert von Sabine Schaschl
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Hatje Cantz Verlag mit Texten von Sabine Schaschl, Max Wechsler und Beat Wismer sowie zahlreichen Werkabbildungen und Ausstellungsansichten.