Die Winterpause ist vorbei, wir nehmen unsere Fahrten wieder auf. Es geht nichts über den Charme eines neuen Anfangs.
Es gibt für den Reisenden kaum einen grösseren Kontrast: Eben noch fuhren wir – einer Reise durch Dantes Hölle gleich – auf der Autobahn nordwärts von Basel nach Frankfurt. Im Überlebenskampf um den Platz auf der linken Spur wird man immer wieder durch schon von weither mit wütendem Blinken heranrasenden und ihr Recht fordernden noch schnelleren Fahrern nach rechts gedrängt („Die deutsche Autobahn: der letzte Hort der unbegrenzten Freiheit“). Dort wälzt sich träge ein Rudel riesiger Lastwagen dahin. Deren Fahrer fühlen sich offenbar wohl im möglichst nahen Kontakt zur Rückseite des vorausfahrenden Kollegen und zwingen die von der Überholspur Verjagten zu verzweifelter Suche nach einer Lücke zwischen dem endlosen Tatzelwurm ...
Und plötzlich Stille
Und jetzt gleiten wir fast geräuschlos durchs Wasser dem Rhein zu und haben die ganze Breite des langsam fliessenden Main für uns allein – fast immer wenigstens, denn hie und da kreuzen wir einen bergwärts fahrenden Frachter, der in seinem Laderaum gut und gern den Inhalt von 50 Lastwagen der 40 Tonnen-Klasse transportieren kann, winken dem Kapitän zu oder tauschen über Funk ein paar Worte.
Zugegeben, die Gegenüberstellung ist weder ganz neutral noch ganz richtig, denn wenn der Main auch noch den Autobahnverkehr zu bewältigen hätte, wäre es vorbei mit der Idylle der Flussreise. Und zudem wissen wir, dass in wenigen Stunden, wenn wir unsere Solveig VII bei Mainz auf den Rhein steuern werden, auch eine Flussreise ganz schön hektisch werden kann. Da mögen die Burgen und Schlösser des deutschen Mittelgebirges noch so majestätisch auf Vater Rhein hinunterschauen und die Loreley noch so betörend auf ihrem Felsen sitzen ...
Die Macht der Gerüche
Aber so weit sind wir noch nicht. Noch haben wir Musse, in Gedanken die Zeit an uns vorbeiziehen zu lassen, seit wir vor zwei Tagen bei der Bootswerft Speck in Frankfurt Schwanheim eingetroffen waren. Die Solveig lag bereits am Steg gegenüber den Stadtmauern des alten Städtchens Höchst, das sich um seine seltsam „zerstückelte“ Justinuskirche mit karolingischem Ursprung schart. Der Blick vom Schwanheimer Ufer auf den mächtigen Chor der Kirche gegenüber, der an die einstigen grossen Träume der damaligen Erbauer erinnert und das weit kleinere Mittelschiff mit seinem niedlich wirkenden Türmchen zu erdrücken droht, ist uns während der vielen Tage, die wir hier während der vergangenen Jahre beim Ein- und Auswassern unseres Schiffes verbracht hatten, richtig lieb geworden.
Aber weit stärker noch als die visuellen Erinnerungen haben uns hier Gerüche und Geräusche geprägt. Die Gerüche zuerst: Wir haben alle als Kinder die Erfahrung gemacht, wie stark Gerüche mit unserer Erinnerung an besondere Orte und Ereignissen verbunden sind, der Geruch des Treppenhauses der ersten Wohnung unserer Kindheit zum Beispiel, der Besuch in der Bäckerei oder der Spaziergänge im Frühling im noch lichten Wald, durch den der Duft des Bärlauchs flutet.
Fluss und „Chemie“
Am Speck’schen Bootssteg steigt zuerst der leicht modrige Geruch des Flusses in die Nase, der durch die sich zersetzenden Algen entsteht, wenn die Ufersteine in niederschlagsarmen Zeiten vom Wasser freigegeben werden. Dazwischen mischt sich, je nach Windrichtung unterschiedlich stark, die typische Geruchspalette der nahen chemischen Industrie. Einst war das Farbwerk Hoechst eines der grössten deutschen Chemieunternehmen. Vor etwas mehr als zehn Jahren wurde es mit ausländischen Firmen fusioniert und zum heutigen Industriepark umgebaut. Aber noch immer riecht es „nach Chemie“ – wie es vor bald 60 Jahren während meiner Schulzeit in Basel gerochen hat.
Sie ist immer wieder neu und aufregend, die erste Nacht in der geräumigen Achterkabine der Solveig, wenn durch die geöffneten Bullaugen das gemeinsame olfaktorische Produkt von Fluss und Industrie strömt und uns mit all unseren Sinnen daran erinnert, dass das grosse Abenteuer eben wieder begonnen hat.
Sprechende Geräusche
Fast ist man nur noch Nase, aber jetzt meldet sich auch das nicht weniger erinnerungskonservierende Ohr: Irgendwo schlägt ein Stahlseil leise an einen Schiffsmast. Die Seile, welche die Solveig in der Strömung des Flusses halten, übermitteln akustisch jede Bewegung des Schiffes; man muss die Signale nur „lesen“ können. Jedes Mal, wenn sich die Seile spannen, übermittelt deren Reibung an den Pollern ein charakteristisches Geräusch, das vom Schiffsrumpf wie ein Resonator aufgenommen und dem Horcher in der Kabine weitergegeben wird.
Dazu tönt das Quietschen der Schwimmstege in den leichten Wellen des Flusses, das manchmal plötzlich zu einem Fortissimo anschwillt und von Paukenschlägen begleitet wird, wenn der Sog eines vorüberfahrenden Schiffes (Frachtschiffe verkehren auch während der Nacht) den schwimmenden Steg dem Schiff entgegenzieht, bis dieses vorbei ist und die nachfolgende Heckwelle die Strömung in einen schockartigen Richtungswechsel zwingt.
Gegen Morgen melden sich die Vögel. Zuerst nur leise, dann immer lauter und selbstbewusster, verdrängen sie die Geräusche des nächtlichen Flusses. Das Bewusstsein des dösenden Schläfers erinnert sich langsam an Ort und Plan. Jetzt hört er auch bereits den Motor der Personenfähre, welche tagsüber Fussgänger und Velofahrer vom Schwanheimer Ufer „an der Tillylinde“ nach Höchst übersetzt. Zeit zum Aufstehen! Es gibt noch viel zu tun: Seile bereitlegen, Fender an der Bordwand montieren, Wassertank füllen, Funkgerät und GPS in Betrieb nehmen, Motor kontrollieren und – wie könnte man es vergessen – einkaufen ...
Die nächsten Stationen
Und jetzt fahren wir auf dem Main flussabwärts, dem Rhein entgegen, denken mit leichtem Bangen an das Bingener Loch und die vielen Frachter, freuen uns auf die ruhigere Mosel, die später zur Moselle wird, an die kleinen Schleusen im Canal de la Marne au Rhin, der uns von der Moselle zur Meuse bringen wird, vorbei an Verdun und seinen düsteren Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, dann durch die Ardennen nach Belgien, wo die Meuse zur Maas wird, und schliesslich nach Holland ...
Aber weiter wollen wir im Augenblick noch nicht denken. Wer auf dem Wasser allzu strikte plant, den straft das Schicksal. Wie oft haben wir diese Erfahrung schon machen müssen und schliesslich über die Planbarkeitsmanie von uns Menschen gelacht. Lassen wir uns und unsere Leserinnen und Leser überraschen. Vorläufig geben wir uns unseren Sinnen hin, vor allem den Gerüchen und Geräuschen.